Kriminologie. Tobias Singelnstein
keine ontologische Realität besitzt: Ihr Wirklichkeitsbezug erschöpft sich in der Anwendung des Begriffs auf spezifische Handlungen, die damit als kriminell [30] erscheinen. Die Handlungen selbst sind nicht „in sich“ kriminell. Vielmehr werden in Zeiten und Gesellschaften unterschiedliche Anwendungen des Begriffs Kriminalität praktiziert, wobei teilweise durchaus Bagatellen erfasst und manches extrem sozialschädliche Verhalten ausgespart wird. Die Kriminalität ist, kurz gesagt, ein Produkt der Gesellschaft und drückt deren jeweilige kulturelle Einschätzung aus.
26
Die Gesellschaft ist die Aushandlungsinstanz von Kriminalität. Die soziale Interaktion über Normalität und Normabweichung, Erwünschtes und Geächtetes, Toleranz und Repressionsbedürftigkeit bestimmt die Inhalte der Kriminalität. Diese ist nicht ohne ihren Charakter als Abweichung von einem gesellschaftlich definierten Normalitätsmaßstab definierbar, also selbst gesellschaftlich geprägt. Sie ist Teil des kollektiven Sinnsystems der Sozialwelt, in der Bedeutungen verliehen und Sinn erzeugt wird. Mehr noch: Kriminalität ist ein Spiegel der Gesellschaft. In der jeweiligen inhaltlichen Bestimmung der Kriminellen drückt sich pars pro toto die jeweilige Gesellschaft in ihrem Normalitätsverständnis und ihrer Toleranzbereitschaft aus. Der Charakter der Kriminalität als Werk und Spiegel der Gesellschaft ist die Basis, auf der die miteinander wetteifernden Grundverständnisse der Kriminologie entwickelt und eigene Positionen bezogen werden können.
III. Der Verbrechensbegriff
27
Mit dem Begriff des „Verbrechens“ ist anders als im Strafrecht keine Abgrenzung zum Vergehen (§ 12 StGB) gewollt, sondern eine diffuse Sammelbezeichnung angesprochen, deren Inhalt klärungsbedürftig ist. Angesichts dessen bestehen verschiedene Verbrechensbegriffe, die je verschiedene klärende Antworten geben.22
28 Dem formellen oder legalistischen Verbrechensbegriff zufolge sind Verbrechen alle von gesetzlichen Normen mit Strafe bedrohten Verhaltensweisen. Was Verbrechen ist und was nicht, hängt damit stets von den jeweils in einer Gesellschaft geltenden Strafgesetzen ab. Diese Definition von Verbrechen ist klar und gut abgrenzbar. Andererseits kann sie nicht erfassen, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen davon, was Kriminalität ist, im Laufe der Zeit wandeln. [31] Damit wird die Bestimmung des Forschungsgegenstandes von den Wertungen der Gesetzgebung abhängig.23
29
Dagegen wenden sich die materiellen Verbrechensbegriffe mit dem Versuch, das Wesen des Verbrechens aus seiner strafrechtlichen Bestimmung zu lösen. Welche Kriterien stattdessen heranzuziehen sind, wird unterschiedlich beantwortet. Nach dem natürlichen (oder naturrechtlichen) Verbrechensbegriff lassen sich Handlungen, die epochen- und kulturübergreifend als verwerflich angesehen werden, von solchen unterscheiden, die erst durch gesetzliche Regelungen als solche definiert werden. Den delicta mala per se (in sich schlechte Taten) stehen die delicta mala quia prohibita (schlicht verbotene Taten) gegenüber. Dem Verbrechensbegriff sollen nur erstere unterfallen. Ein anderer Ansatz orientiert sich an den geschützten Rechtsgütern. Werden bestimmte Interessen von der Rechtsordnung als schützenswert anerkannt, wird demzufolge ihre Verletzung als Verbrechen eingeschätzt. Damit bleibt die normative und nationalstaatliche Bindung des formellen Verbrechensbegriffs bestehen, wird aber nicht auf das geltende Strafrecht und seine Tatbestände beschränkt.
30
Der soziologische Verbrechensbegriff stellt demgegenüber auf die Sozialschädlichkeit des Verhaltens ab. Danach stellen alle abweichenden bzw. sozialschädlichen24 Verhaltensweisen ein Verbrechen dar – unabhängig davon, ob sie strafrechtlich verboten sind. Umgekehrt verneint dieser Verbrechensbegriff das Vorliegen eines Verbrechens bei Verhaltensweisen, die zwar rechtlich verboten sind, aber nur aus moralischen Erwägungen sanktioniert werden. Versteht man das Thema der Kriminologie als sozial abweichendes Verhalten, so definiert man Abweichungen zunächst unbemerkt aus einer Perspektive, welche die gesellschaftliche Mehrheit aus ihrer Sicht von Normalität einnimmt. Das Normalitätsverständnis der Mehrheit, ihre Vorverständnisse und ihre Auseinandersetzung mit Abweichungen verdienen deshalb Beachtung. Darum befasst sich die Kriminologie auch mit dem sozialen Problembewusstsein, dem Bild des Strafrechts in der öffentlichen Meinung, mit sozialen und vor allem mit staatlichen strafrechtlichen Reaktionen auf Kriminalität.
31
Ein interaktionistischer Verbrechensbegriff definiert demgegenüber nur solches Verhalten als Verbrechen, das von den Strafverfolgungsinstanzen bzw. der Gesellschaft als solches behandelt wird. Er erfasst also insbesondere nicht das [32] Dunkelfeld.25 Ein gegen Strafnormen verstoßendes Verhalten wird zum sozialen Problem, wenn es als solches behandelt wird; erst durch seine Beurteilung als schädliches und strafbares Verhalten, seine tatsächliche Verfolgung und Ahndung wird es als Straftat sichtbar. Kriminalität als gesellschaftlich definiertes Objekt kann deshalb nur adäquat in der Hülle seiner sozialen Einschätzung wahrgenommen werden. Schon die Alltagsdiskussion nimmt Kriminalität in ihrer Bewertungshülle wahr, indem die Diskussion sich auf Politiker:innen und Medien beruft, vorgefasste Meinungen in Frage stellt oder stillschweigend bestätigt. Deshalb muss auch die Wissenschaft auf diese Bewertung Bezug nehmen, sie reflektieren, Vorverständnisse erörtern, Interessenbezüge aufdecken.
32
Eine abschließende Definition des Verbrechens im kriminologischen Sinne ist nicht möglich. Die verschiedenen Ansätze ermöglichen vielmehr unterschiedliche Perspektiven auf die zu erfassenden Verhaltensweisen und sind je nach Kontext hierfür besser oder schlechter geeignet. Entscheidend ist es, sich die Variabilität des Begriffs vor Augen zu führen und stets darauf zu achten, auf welchen Verbrechensbegriff sich die jeweilige Debatte stützt.
IV. Strafe und Gesellschaft
Lektüreempfehlung: Brown, Michelle (2009): The culture of punishment. New York/London, 4-53.
33
Die Kriminalität wie ein Objekt der natürlichen Welt darzustellen, ist eine manchmal zweckdienliche, aber immer verzerrende Abstraktion. Kriminalität ist nicht einfach eine empirisch beschreibbare Tatsache. Wie „Ängstlichkeit“ oder „Aggressivität“ ist Kriminalität eine Sinnzuweisung bezüglich des Verhaltens eines anderen von einem bestimmten Beurteilungsstandpunkt aus. Die Erforschung dieses Phänomens darf sich deshalb nicht in dem nackten Verhalten erschöpfen, das in der einen Nation als strafbar, in der anderen als straflos gelten mag. Der dem Verhalten zugewiesene Sinn des Strafbaren, die gesellschaftliche Aushandlung dieses Sinns, seine faktische Durchsetzung und der soziale Wandel der Anschauungen verdienen Beachtung. Erst das Strafgesetz und die Gesellschaft, welche jenes produziert, machen ein bestimmtes Verhalten zu einer Straftat. Kriminalität zu studieren verlangt deshalb die Mitberücksichtigung seiner Produktionsbedingungen innerhalb der pönalisierenden Gesellschaft. Wir werden deshalb neben theoretischen Verhaltenserklärungen [33] auf die kriminalpolitische Dimension der gesellschaftlichen Gemachtheit von Kriminalität eingehen. Dabei werden uns die Auswirkungen der Rahmenbedingungen der heutigen neoliberalen Konsumgesellschaft auf die Kriminalität und den sozialen Umgang damit besonders interessieren.
34
Strafe ist Bedürfnisbeschneidung in einem auf Erfüllung menschlicher Bedürfnisse gepolten Umfeld. Die Ambivalenz zwischen Übelzufügung und ihrem schieren Gegenteil, zwischen alltäglicher Praxis in Gefängnissen und Segregation der Gefangenen vom Alltagsleben markiert die Spannweite des Sozialen und reicht in die Wurzeln menschlichen Zusammenlebens. Die Übelzufügung durch Strafe ist durch die Annahme der vorangehenden Übelzufügung der Täter:innen veranlasst; in dieser Kette gleichartiger Geschehnisse besteht die in ihrer scheinbaren Trivialität überzeugende Logik der Vergeltung. Diese wird in der westlichen Kultur durch die protestantische Ethik des fleißigen Arbeitens26, die Herrschaftstechnik einer blutleer rationalen Staatsbürokratie