Recht auf Sterben – Recht auf Leben. Ivo W. Greiter

Recht auf Sterben – Recht auf Leben - Ivo W. Greiter


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Verfassungsgerichtshof eine Grundsatzentscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbarkeit der Sterbehilfe getroffen und Teile des § 78 StGB aufgehoben. Gleichzeitig hat er eine Frist für das Außerkrafttreten gesetzt, die am 31. Dezember 2021 endet.

      Im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes finden sich wichtige grundrechtsdogmatische Positionen, die in Weiterentwicklung bisheriger Ansätze in der Judikatur formuliert wurden. Grundlegende Aussagen zur Maßgeblichkeit eines freien selbstbestimmten Willens und zur Bedeutung palliativmedizinischer Versorgung sind in der Begründung enthalten.

      Unmittelbar nach der Veröffentlichung der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes hat eine intensive rechtspolitische Diskussion über die Neuregelung der Beihilfe zum Suizid eingesetzt. Gerade weil diese Frage Grundfragen des Menschenbildes wie des gesellschaftlichen Zusammenlebens in einer Demokratie berührt, ist die Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen des Gesetzgebers von höchstem Wert.

      Ivo Greiter liefert mit dem vorliegenden Band einen wesentlichen Beitrag zu einer sachlichen rechtspolitischen Diskussion über die Regelung der Sterbehilfe durch den Gesetzgeber. Er gibt das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11. Dezember 2020 im vollen Wortlaut wieder, analysiert es und beleuchtet die durch die Aufhebung von Teilen des § 78 StGB herbeigeführte Rechtslage.

      Er stellt die Reaktionen auf das Erkenntnis in der öffentlichen Diskussion dar und diskutiert mögliche Missbrauchsszenarien. Daran anschließend und darauf aufbauend benennt er verschiedene Herausforderungen für den Gesetzgeber, um dann sehr konkret auf mögliche Gefährdungslagen einzugehen. Hinweise auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und eine rechtsvergleichende Betrachtung der Entwicklung in Deutschland im Gefolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 runden das Werk ab.

      Ivo Greiter hat dieses Buch vor dem Hintergrund einer jahrzehntelangen anwaltlichen Berufserfahrung verfasst, die ihn immer wieder auch in das Ausland führte und die ihn nun aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen lässt. Er war führend in verschiedenen juristischen Berufsvereinigungen tätig, hervorgehoben seien seine Funktionen als nationaler Präsident für Österreich in der World Jurist Association (Washington) oder seine Funktion als Vorstandsvorsitzender der europäischen Vereinigung der Schadenersatz-Juristen für Österreich (PEOPIL).

      Große Verdienste hat er sich als jahrzehntelanger Vizepräsident des Österreichischen Juristentages von 1992 bis 2015 erworben. In dieser Zeit konnte ich Ivo Greiter in seinem Einsatz für die sachkundige Fortentwicklung des Rechts kennen und schätzen lernen; der vorliegende Band steht stellvertretend für sein unermüdliches Eintreten für qualitätsvolle Gesetzgebung. Dem Buch ist zu wünschen, dass es viele informierte und aufmerksame Leserinnen und Leser findet, die ihrerseits mit ihrer Meinung zur Diskussion um die Fortentwicklung des Rechts beitragen!

      Wien, im September 2021

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      Univ. Prof. DDr. Christoph Grabenwarter

      Präsident des Verfassungsgerichtshofs

       EINLEITUNG

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      Am 11. Dezember 2020 hat der österreichische Verfassungsgerichtshof entschieden, dass die Beihilfe zum Selbstmord nicht mehr bestraft wird. Das Erkenntnis tritt mit 31. Dezember 2021 in Kraft.

      Der Gesetzgeber steht nun vor der Aufgabe, ein Gesetz zu erlassen, welches den Missbrauch der Beihilfe verhindern soll. Vom Inhalt des Gesetzes, das die Details der Durchführung der Hilfe bei einer Selbsttötung regeln muss, wird es abhängen, ob die Bedenken gegen eine solche Freigabe ausreichend berücksichtigt wurden.

      Ziel dieses Buches ist es, das Bewusstsein für dieses hochsensible Thema bei den beteiligten Politikern zu schärfen. Weiter ist es mein Anliegen, die Bevölkerung und jeden Einzelnen darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei diesem Thema um eine Grundfrage unserer menschlichen Existenz handelt. Und dass jeder Missbrauch des vorliegenden Erkenntnisses ausgeschlossen werden muss!

      In diesem Buch finden Sie viele Beispiele, in denen die vielfältigen Möglichkeiten eines Missbrauchs aufgezeigt werden. Ich möchte damit auf die Gefahren hinweisen, die uns allen nach dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs bald drohen könnten.

      Österreich und letztlich die ganze Welt stehen vor einer der Kernfragen unserer Existenz: Soll die sogenannte „aktive Sterbehilfe“ erlaubt sein oder nicht.

      Noch eine persönliche Anmerkung: Seit Jahrzehnten beschäftige ich mich mit dem Thema Tod. Meine Vorträge und Veröffentlichungen seit den 70er Jahren zum Thema Sterbehilfe und Fristenlösung fanden auch in der vorliegenden Publikation ihren Niederschlag. Das Risiko, dass sich viele Argumente für die Abtreibung leicht auch auf alte Menschen übertragen lassen, wurde von mir in der Wochenzeitung „Die Furche“ vom 6. August 1992 unter dem Titel: „Eine Fristenlösung für Alte?“ abgehandelt. Ein Ergebnis der Beschäftigung mit der Thematik des Todes war auch das Werk: „Endtag – Wenn jeder weiß, wann er stirbt“, ein Szenario zum Thema Tod, erschienen im Tyrolia Verlag 2012. In dem Werk „Schmerzengeld für Trauer“, erschienen 2016 im Verlag Österreich, werden 162 Gerichtsurteile für Angehörige von Unfallopfern und Schwerverletzten für Rechtsanwälte, Richter und Versicherungen analysiert.

      Innsbruck, im September 2021

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      Dr. Ivo W. Greiter

      Rechtsanwalt in Innsbruck

      Anmerkung: Im Sinne einer besseren Lesbarkeit gelten männliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Frauen, wie weibliche Bezeichnungen in gleicher Weise für Männer gelten.

       Kapitel 1

       DAS URTEIL DES VERFASSUNGSGERICHTSHOFS

       Strafdrohung der Hilfe beim Selbstmord aufgehoben

      Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob am 11. Dezember 2020 die Strafbarkeit der Hilfe beim Selbstmord auf.

      Nun wird es in Österreich also bald möglich sein, sich mit Hilfe eines Dritten (nicht durch einen Dritten) selbst zu töten. Dieser Schritt stellt einen Paradigmenwechsel in Österreich dar. Zuvor wurde heftig darum gestritten, ob die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe gestellt bleiben solle oder nicht. Hitzige Debatten wurden geführt, viele Für und Wider ins Treffen geführt, die Bevölkerung schien gespalten.

      Schließlich musste der Verfassungsgerichtshof eine Entscheidung treffen. In seinem Erkenntnis hob er die bisherige Bestimmung zur Mithilfe beim Tod eines Sterbewilligen im Text des § 78 des österreichischen Strafgesetzes („wer ihm am Selbstmord Hilfe leistet, ist … zu bestrafen“) als verfassungswidrig auf.

      Bis zu diesem Erkenntnis des VfGH lauteten die Bestimmungen des Strafgesetzbuches wie folgt:

      „Mitwirkung am Selbstmord

      § 78. Wer einen anderen dazu verleitet, sich selbst zu töten, oder ihm dazu Hilfe leistet, ist mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu bestrafen.“

      Die Wortfolge „oder ihm dazu Hilfe leistet“ wurde demnach aufgehoben.

      Der Gesetzgeber hat nun bis 31. Dezember 2021 Zeit, Gesetze zu erlassen, die die Voraussetzungen für die straffreie Hilfe genau formulieren.

      Die Verfassungsrichter haben es sich nicht leicht gemacht, hat doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bereits seit Jahren das Recht auf Beendigung des eigenen Lebens als Menschenrecht anerkannt:


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