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Gestalt- und Planbarkeit, sondern birgt auch Unsicherheiten und Gefahren in sich, die es zu erkennen gilt, um sich praktisch vor ihnen schützen. Insofern lässt sich Prävention als den Versuch betrachten, in einer Welt, die als unsicher erfahren wird, erneut Sicherheit zu erlangen.
Mit der Institutionalisierung von Präventionserwartungen werden Gefahren in Risiken umgewandelt. Jeder Schadensfall wirft fortan die Frage auf, welche Möglichkeiten man in der Vergangenheit hätte ergreifen können, um ihn abzuwenden. Im Anschluss an den Soziologen Niklas Luhmann lässt sich hier eine Schwerpunktverlagerung feststellen von einer Zurechnung auf „Gefahr“, die als von außen kommend erlebt und folglich erlitten wird, hin zu einer Zurechnung auf „Risiko“, das immer auch von eigenen Entscheidungen und Handlungen mit abhängig ist. Diese Attribution beruht nicht nur auf objektiven Handlungsmöglichkeiten, sondern auch auf kulturellen Normalitätsvorstellungen. „Man kann es als eine Gefahr ansehen“, so Luhmann, „wenn man mit Erdbeben, Überschwemmungen oder Wirbelstürmen zu rechnen hat; aber auch als Risiko, wenn man die Möglichkeiten berücksichtigt, aus dem gefährdeten Gebiet wegzuziehen oder wenigsten eine Versicherung abzu-schließen.“ Prävention meint letztlich nichts anderes als die systematische Berücksichtigung ebenjener Möglichkeit der Schadensabwehr.
„Ein zentrales Präventionsfeld ist der medizinisch-gesundheitliche Bereich. Richtete sich die sogenannte Diätetik auf das Individuum, so zielte ‚die medicinische Policey’ auf die Gesundheit der Bevölkerung.“
Eine Reflexion auf allgemeine Eigenschaften von Prävention darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Einzelnen eine große Bandbreite an präventiven Begründungsfiguren und Praktiken gibt. Ein zentrales Präventionsfeld ist der medizinischgesundheitliche Bereich. Dort lässt sich der Präventionsgedanke bis mindestens in die Zeit der Aufklärung zurückverfolgen. Zwei Stränge können hierbei unterschieden werden: Richtete sich die sogenannte Diätetik auf das Individuum, so zielte die „medicinische Policey“ oder auch „Medicinalpolicey“ auf die Gesundheit der Bevölkerung. Erstere leitete den Einzelnen zu einer maßvollen Lebensweise an, während letztere die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung darüber aufzuklären versuchte, wie sie die Gesundheit der ihnen anvertrauten Bevölkerung bewahren konnten.
Die aus der Antike stammende Diätetik erfuhr in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine breite Rezeption. Sogenannte moralische Wochenschriften und Gesundheitsratgeber in Buchform präsentierten ihrem zunächst, aber keineswegs ausschließlich bürgerlichen Publikum Regeln für eine maßvolle und gesunde Lebensführung. Der Einzelne sollte lernen, ein günstiges Verhältnis zwischen seiner individuellen Konstitution, die als angeboren galt, und den gegebenen Umweltbedingungen einzurichten. Mit „Diätetik“ war im 18. Jahrhundert somit weit mehr gemeint als mit dem uns heute geläufigen Verständnis von „Diät“. Es war ihr nicht nur um die Ernährung zu tun, vielmehr bezog sie sich auf die gesamte Lebensweise. Sechs Aspekte standen hierbei im Mittelpunkt: Licht und Luft, Ernährung, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Körperausscheidungen sowie Gemütsbewegungen und Affekte. Durch eine maßvolle Lebensweise gelte es, in jedem dieser Bereiche ein gesundes Gleichgewicht zu erhalten, um Krankheiten vorzubeugen.
„Das Anliegen der medicinischen Policey war es, die Fürsten und andere Entscheidungsträger im Staate über die Möglichkeiten einer politischen Regulation der Bevölkerungsgesundheit aufzuklären.“
Ein fortwährendes Ärgernis bildeten dabei die schlechten Angewohnheiten, die dazu tendierten, sich mit der Zeit zu verstärken, und die einer bewussten Gestaltung des eigenen Lebens entgegenstehen. „Man hüte sich vor bösen Gewohnheiten, weil sie immer stärker werden, und dadurch schaden“, warnte etwa Adam Andreas Senfft in seinem Gesundheitskatechismus für das Land-volk und den gemeinen Mann aus dem Jahr 1781. Um die eigene Gesundheit zu erhalten, habe man an sich selbst zu arbeiten. Weil jedoch Körperkonstitution, Gewohnheitsstruktur und Lebensumstände von Person zu Person stark variierten, wurde dem Einzelnen empfohlen, sich genau selbst zu beobachten. Nur wer die Besonderheiten seiner Existenz kenne, sei imstande, das eigene Leben angemessen zu führen.
Diese Forderung erwies sich jedoch als durchaus ambivalent. Eine zu starke Beschäftigung mit dem eigenen Körper, eine ausufernde Sorge um sich selbst könne nämlich, wie man in jener Zeit ebenfalls breit diskutierte, zu sogenannten „hypochondrischen Grillen“ führen, das heißt zu bedrückenden Krankheitseinbildungen. In den ärztlichen Abhandlungen zum Thema war zuweilen von einer „Modekrankheit“ die Rede, die insbesondere in den gebildeten Ständen grassiere.
Wer an Hypochondrie leide, achte minutiös auf alle Veränderungen seines Körpers und Gemüts. Jedes Zucken, Stechen und Unwohlsein werde zum Anlass für ausgedehnte Krankheitsängste. Folgt man Johann Clemens Tode, der 1797 einen Ratgeber mit dem sprechenden Titel Nöthiger Unterricht für Hypochondristen, die ihren Zustand recht erkennen und sich vor Schaden hüten wollen veröffentlichte, lausche der Hypochonder „so genau auf seine Beschwerden […], als jemand der das Gras will wachsen hören“. Während die Diätetik dem Einzelnen empfahl, sich selbst zu beobachten, um seine Lebensweise auf die Besonderheiten des eigenen Daseins einstellen zu können, wurde sie hier mit eingebildeten Beschwerden in Verbindung gebracht.
Ungefähr zeitgleich entstand innerhalb der sogenannten Policeywissenschaft eine Teildisziplin, die sich mit Fragen der Gesundheitspolitik befasste. Das Anliegen der medicinischen Policey war es, die Fürsten und andere Entscheidungsträger im Staate über die Möglichkeiten einer politischen Regulation der Bevölkerungsgesundheit aufzuklären. Das Ziel bestand darin, so Johann Peter Frank – der mit Abstand wichtigste Vertreter dieses Ansatzes – „die Vorsteher menschlicher Gesellschaften, mit den Nothwendigkeiten der Natur ihrer Untergebenen, und mit den Ursachen ihres körperlichen Uebelseyns bekannt [zu] machen“, um so vernünftige Entscheidungen treffen zu können.
„Die medicinische Policey hat ein gesundheitspolitisches Problembewusstsein geschaffen, hinter das man seitdem nur wider besseres Wissen zurückfallen kann.“
Der Begriff der „Policey“ bezeichnete zu jener Zeit noch allgemein die gute Ordnung im Gemeinwesen, die es zu schützen galt. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Polizei-Begriff auf die heute geläufige Bedeutung enggeführt. Die medicinische Policey befasste sich folglich mit der gesundheitlichen Ordnung im Gemeinwesen. Im Unterschied zur Diätetik jedoch, die ja ebenfalls den allgemeinen Gesundheitszustand anzuheben versuchte, wendete sie sich hierbei nicht an die breite Masse der Leute, sondern adressierte die politischen Entscheidungsträger. Es handelte sich zwar auch um eine Form von Aufklärung, aber um eine Auf-klärung der Eliten. Einige Fachvertreter lehnten die medizinische Volksaufklärung, wie sie von den Autoren diätetischer Ratgeber angestrebt wurde, sogar offen ab. Denn sie bringe nur „eingebildete Kranke, unglückliche Selbstärzte und vermeßne Quacksalber“ hervor, wie Ernst Benjamin Gottlieb Hebenstreit im Jahr 1791 erklärte.
Stattdessen empfahl man, die medizinische Versorgung auszuweiten und zugunsten der akademischen Ärzteschaft zu reglementieren, die Sauberkeit des öffentlichen Raums zu verbessern, um Krankheiten vorzubeugen, und nicht zuletzt auch die Eheschließung und Familiengründung mithilfe von Anreizen und Verboten so zu steuern, dass den „Obrigkeiten“ möglichst zahlreich kräftige und gesunde „Untertanen“ geboren werden. Auch schlugen einige Autoren vor, die Kleiderwahl zu reglementieren – die Schnürbrust stand hierbei im Mittelpunkt – sowie das Schminken, das einige als gesundheitsschädigend ansahen, zu untersagen. Viele dieser Vorschläge erfuhren aber entweder gar keine Umsetzung, oder sie fanden lediglich auf Verordnungsebene ihren Niederschlag. Dennoch hat die medicinische Policey ein gesundheitspolitisches Problembewusstsein geschaffen, hinter das man seitdem nur wider besseres Wissen zurückfallen kann.
* Matthias Leanza ist Oberassistent am Departement Gesellschaftswissenschaften der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Historischen Soziologie und Gesellschaftstheorie.
Wie Prävention und Repression verschleifen