Handbuch des Verwaltungsrechts. Группа авторов
der Gemeinschaften auf Bereiche zu erstrecken, die bisher allenfalls in Zusammenhang mit den Grundfreiheiten (und nur in den Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug) als vom Gemeinschaftsrecht umfasst angesehen worden waren. Schon aufgrund der RL 85/337/EWG[225] über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten war zudem für die sich in den 1970er und 1980er Jahren etablierte und einflussreiche deutsche „Umweltrechtszene“ erkennbar geworden, dass das neue „Umweltgemeinschaftsrecht“ durchaus quer zur deutschen Umweltgesetzgebung liegen konnte.[226]
37
Sekundärrechtliche Umgestaltungen des Verwaltungsrechts seit 1990
Verstärkt wurde die Bewusstwerdung des Einflusses des Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht durch die Entwicklungen in der europäischen Wettbewerbspolitik, die Bereiche der klassischen Daseinsvorsorge auf der kommunalen Ebene erreichte. Viele Kommunalvertreter sahen hierin eine Überforderung, welche die kommunale Selbstverwaltung in Frage stellte.[227] Hinzu trat die RL 89/665/EWG[228] zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge mit dem Zwang, effektiven Bieterschutz im Vergaberecht einzuführen. Dies widersprach der deutschen Vergaberechtstradition und wurde vor allem als Überformalisierung des Vergaberechts verstanden[229] – die aufgrund des damals noch herrschenden Verständnisses der Art. 1 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG auch nicht als verfassungsrechtlich geboten angesehen wurde.[230] Mit Befremden ist auch der Regelungsgegenstand der Richtlinie 90/313/EWG[231] über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt zur Kenntnis genommen worden, die die (Bundes-)Politik (unabhängig von der Aufarbeitung des DDR-Unrechts)[232], zu einem Bruch mit der nationalen Tradition der geheimen Verwaltung zwang.[233] Mit der Vergemeinschaftung des Ausländer-, Asyl-, Flüchtlings- und Migrations(folge)rechts durch den Vertrag von Amsterdam (1997) als Bestandteil des „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (heute Art. 67 ff. AEUV) wurde zudem und zunehmend etwas dem Regelungszugriff des deutschen Gesetzgebers und der deutschen Politik entzogen, was oft als Kernbereich nationaler Souveränität verstanden wird.[234] Schließlich sind die RL 2006/123/EG[235] über die Dienstleistungen im Binnenmarkt und die RL 2005/36/EG[236] über die Anerkennung von Berufsqualifikationen zu nennen, die erhebliche Auswirkungen auf den gesamten Bereich des Gewerberechts und des Gewerbenebenrechts haben.[237]
38
Zunehmende Bedeutung des Unionsrechts in der Verwaltungspraxis
Seit den 1990er Jahren wurde damit immer deutlicher, dass das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht nicht (nur) einige Fachverwaltungen wie die Kartellbehörden oder Spezialgebiete wie das Landwirtschaftsrecht oder das Ausländerrecht betrifft,[238] sondern letztlich alle wichtigen „Referenzgebiete“ des besonderen Verwaltungsrechts erfasst. Das Gemeinschafts- bzw. Unionssekundärrecht kommt aber mit zunehmender Funktionsfähigkeit der 1998 in Betrieb genommenen EUR-Lex-Datenbank[239] auch immer mehr tatsächlich in der Praxis an: EUR-Lex machte das Unionsrechtsekundärrecht für viele deutsche Rechtsanwender erstmals mit zumutbarem Aufwand in einer Weise recherchierbar, die seine tatsächliche gerichtliche und außergerichtliche Geltendmachung ermöglicht. Zugleich wird betont, dass deutsche Behörden schon aufgrund des Art. 20 Abs. 3 GG an Unionsrecht gebunden sind.[240] Dies alles hat zur Frage der Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration geführt.[241] Zugleich stellt sich zunehmend die Kernfrage, ob und in welchem Umfang der Anwendung und Auslegung von Unionsrecht durch den deutschen Rechtsanwender eigentlich dieselben Rechtsanwendungsroutinen zugrunde gelegt werden können wie der Anwendung von nationalem Recht.[242]
I. Diskussionen um die Rolle der deutschen Verwaltung in der Europäischen Integration
39
Fremdbestimmtes Verwaltungsrecht und Abwehrhaltung
In den 1990er Jahren war die Europäisierungsdebatte im Verwaltungsrecht vor allem von einer weitgehend ablehnenden Haltung der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber dem „Übergriff“ der Europäischen Gemeinschaften in das nationale Verwaltungsrecht (und damit auf die deutsche Verwaltungstätigkeit) geprägt.[243] Dies wird durch das berühmt gewordene Diktum von Jürgen Salzwedel von einer „besatzungsrechtsähnlichen Intervention [der Luxemburger Richter] in gewachsene Normstrukturen des nationalen Rechts“[244] veranschaulicht. Dieses ist natürlich besonders überzeichnet, aber dennoch für die damalige Wahrnehmung der Europäisierung durchaus charakteristisch. Die damalige Verwaltungsrechtswissenschaft ging i. d. R. von einem Gegensatz zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht aus und verstand das deutsche Recht als „Opfer der Europäisierung“.[245] Dies gab der Frustration der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft über einen Verlust der Deutungshoheit über in Deutschland anwendbares Verwaltungsrecht Ausdruck.
40
Eins-zu-Eins-Umsetzung und Spillover-Effekte
Auf der politischen Ebene spielt sich bis heute Ähnliches in den Bereichen ab, in denen das politische Ziel eines umzusetzenden Unionsrechtsakts die für die Umsetzung politisch Verantwortlichen sowie die primär hiervon betroffenen Behörden, Unternehmen und Verbände und nicht zuletzt auch die auf eine bestimmte Rechtsmaterie spezialisierten und besonders „ausgewiesenen“ Anwälte, Richter und Hochschullehrer (mehrheitlich) nicht überzeugt. In diesen Fällen wird dann oft eine „1:1-Umsetzung“ des Unionsrechts gewählt, um den „Schaden“ für das überkommene Rechtssystem durch „systemsprengende“ unionsrechtlich gebotene Rechtsänderungen möglichst gering zu halten und „Spillover-Effekte“ zu vermeiden.[246] Diese „1:1-Umsetzung“ soll dann ganz bewusst die deutschen Umsetzungsgesetze als nicht verallgemeinerungs- oder gar analogiefähige Fremdkörper im Rechtssystem erscheinen lassen. Es wird allenfalls eine nur gerade noch unionsrechtskonforme Lösung angestrebt. Dies birgt das Risiko erheblicher Umsetzungsdefizite und Umsetzungsschwierigkeiten.[247] Die Leidensgeschichte des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes[248] wirkt insoweit leider nach wie vor nicht hinreichend abschreckend.
41
„Vollzug des Unionsrechts“ als irreführender Schlüsselbegriff
Zu Missverständnissen trägt zudem bei, dass vom „indirekten Vollzug“ des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen gesprochen wird. Dies weckt falsche Assoziationen mit dem deutschen Exekutivföderalismusmodell der Art. 83 ff. GG. Tatsächlich sind mit der Situation der Art. 83 ff. GG vergleichbare Fälle, in denen das Unionsrecht nationalen Behörden konkrete Aufgaben zuweist, die sie auf Grundlage unionsrechtlicher Vorschriften (oder nationaler Umsetzungsgesetze) auch im Verhältnis zum Bürger zu erfüllen haben („echter Vollzug“), eher selten.[249] Im Regelfall haben nationale Behörden beim Vollzug nationalen Rechts unionsrechtliche Vorgaben (nur) zu beachten (sog. respektierender Vollzug).[250] Das Unionsrecht setzt hier den mitgliedstaatlichen Behörden Grenzen. Es regelt nicht, „ob“ bestimmte Verwaltungsaufgaben wahrgenommen werden, sondern „nur“ (mehr oder weniger weitgehend), wie sie zu erfüllen sind, wenn sie von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden. Diese Konstellation liegt selbst im Vergaberecht,[251] im Datenschutzrecht[252] oder im Recht der Umweltverträglichkeitsprüfung[253] vor. Bei geteilter Mittelverwaltung (vgl. Art. 62 ff. VO [EU/EURATOM] 2018/1048 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union[254]) oder auch beim EU-Beihilferecht (Art. 107 ff. AEUV) liegen zudem Formen des indirekten Vollzugs des Unionsrechts vor, die auf der Grenze zwischen „echtem“ und „respektierendem“ Vollzug liegen.[255]
42
Unionsrecht als „Kodifikationsbrecher“
Machte das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht somit bereits schon dadurch auf sich aufmerksam, dass seine querschnittsartigen Regelungen von immer mehr Behörden in immer mehr Zusammenhängen zu beachten (bzw. „respektierend zu vollziehen“) waren, so wurde ein weiterer „Europäisierungsdiskussionsschub“ im Verwaltungsrecht durch einzelne Entscheidungen des EuGH eingeleitet, die Auswirkungen im Anwendungsbereich der VwGO und des VwVfG hatten: Konkret ging es etwa um die Frage, inwieweit deutsche Behörden nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO verpflichtet sein können, die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen gegenüber Maßnahmen anzuordnen,