Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band - Hugo Friedländer


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Sektionsbefund der Leiche, nicht aber über die Gefährlichkeit der Mundbinde ein Obergutachten abgegeben.

      Auf Antrag des Staatsanwalts und des Vertreters der Nebenkläger, Rechtsanwalts Gammersbach, wurde das freisprechende Erkenntnis gegen Schellmann und Dr. Bodet vom 1. März d.J. in seinem ganzen Umfange verlesen.

      Alsdann erschien als Zeugin Haushälterin Witwe Kulatz: Sie sei Aufseherin in Brauweiler gewesen. Wie ihr die Aufseherin Medder erzählt, habe die Wodtke sich beim Anlegen des Maulkorbes heftig gesträubt. Sie (Zeugin) sei bei der Anlegung des Maulkorbes der Wodtke nicht zugegen gewesen, habe aber anderen Korrigendinnen einige Male den Maulkorb angelegt. Es sei allgemein üblich gewesen, den Maulkorb eine Stunde anzulassen. Gewöhnlich sei nach Abnahme des Maulkorbes den Korrigendinnen Wasser gereicht worden; bisweilen seien auch die Korrigendinnen, ohne Wasser zu erhalten, an die Arbeit gegangen. Sie habe mehrfach Korrigendinnen durch Anlegen des Maulkorbes bestraft, wenn diese sich gegenseitig ihren früheren unsittlichen Lebenswandel vorwarfen. Ihr gegenüber habe sich niemals eine Korrigendin beklagt, daß sie durch das Anlegen der Mundbinde Atemnot und andere Nachteile davongetragen habe. Auch habe keine derartig bestrafte Korrigendin jemals verlangt, vor den Arzt geführt zu werden.

      Auf Befragen des Verteidigers sagte die Zeugin noch: Die Medder habe ihr erzählt, die Wodtke habe sich beim Anlegen der Mundbinde mit Händen und Füßen heftig gewehrt. Man habe aber der Wodtke die Hände und Füße gebunden und ihr hierauf die Mundbinde angelegt. Die Wodtke habe sich darauf zur Erde fallen lassen und sei auch nicht mehr aufgestanden.

      Auf Befragen des Vorsitzenden und des Rechtsanwalts Gammersbach bekundete die Zeugin: Sie habe niemals irgendwelche Mißhandlungen in Brauweiler wahrgenommen. Direktor Schellmann, der ein sehr strenger, aber gerechter Mann sei, habe weder jemals direkt noch indirekt Befehl zu irgendeiner Mißhandlung gegeben.

      Es wurde darauf Witwe Wernitzki als Zeugin vernommen: Mein verstorbener Mann war Aufseher in Brauweiler. Ich habe acht Kinder. Der Knabe, von dem gestern die Rede war, war mein Stiefsohn. Als mein Mann auf Außenkommando war, brachte mir einmal mein Stiefsohn ein Stück Kette, das er gefunden haben wollte. Dieses Stück Kette gehörte dem Aufseher Esser, dem angeblich eine goldene Uhr und Kette gestohlen war. Esser beschuldigte meinen Sohn des Diebstahls. Letzterer bestritt dies aber entschieden. Ich redete meinem Sohne streng ins Gewissen, untersuchte alles ganz genau, der Knabe aber blieb dabei, daß er nichts gestohlen habe. Da Esser aber dies fortgesetzt behauptete, so verklagte ich ihn beim Schiedsmann. Ich besaß jedoch nicht die nötigen Mittel, um die Sache weiter zu verfolgen. Inzwischen spielte mein Sohn »Steigvogel«. Letzterer flog in den Garten der Baumschule. Mein Sohn ging in den Garten und pflückte sich einige Äpfel ab. Ich habe, als ich davon hörte, den Knaben gezüchtigt. Bald darauf wurde ich jedoch zu Herrn Direktor Schellmann gerufen. Dieser sagte zu mir: »Wenn Sie Ihre Kinder nicht züchtigen können, dann werde ich Ihren Mann entlassen.« Ich erschrak furchtbar, denn ich habe eine große Familie. Der Direktor sagte zu mir: »Am besten, Sie schicken den Jungen einmal zu mir.« Ich kam dieser Aufforderung nach. Ich glaubte, der Direktor werde den Jungen vielleicht auf eine halbe Stunde einsperren und war sehr erstaunt, als der Junge heftig weinend nach Hause kam und klagte, daß er furchtbar geschlagen worden sei.

      Vors.: Klagte der Knabe über Schmerzen?

      Zeugin: Jawohl, er klagte mehrere Tage über heftige Schmerzen in den Beinen.

      Vors.: Nachteilige Folgen hat der Knabe aber nicht davongetragen?

      Zeugin: Nein. Die Zeugin bekundete weiter: Als mein Mann nach Hause kam und von dem Vorgefallenen hörte, war er furchtbar aufgebracht, so daß ich alle Mühe hatte, ihn zu beruhigen. Mein Mann wollte zunächst gerichtliche Schritte gegen Direktor Schellmann unternehmen, er sagte aber schließlich: Der Knabe wird die Schläge vergessen, ich würde dagegen, wenn ich gegen Schellmann etwas unternähme, sofort meine Stellung verlieren.

      Vert.: Klagte Ihr Mann über den Direktor?

      Zeugin: Jawohl, sehr häufig. Mein Mann kam bisweilen abends nach Hause und weinte vor Wut über die ihm vom Direktor zuteil gewordene Behandlung. Eines Tages erzählte mir mein Mann, er sei vom Direktor wie ein Hund mit einem Ausdruck vor die Tür geworfen worden, den ich hier nicht wiederholen kann. Unter anderem hat der Direktor meinen Mann beschimpft, weil er ihm nicht den jüngsten Familienzuwachs gemeldet hatte. Mein Mann entschuldigte sich und sagte: Er habe es unterlassen, da er zur Zeit nicht zu Hause, sondern auf Kommando war.

      Vors.: Wie lange ist Ihr Mann tot?

      Zeugin: Vier Jahre.

      Vors.: Woran ist Ihr Mann gestorben?

      Zeugin: An der Lungenschwindsucht.

      Es erschien hierauf der jetzt 17jährige Wernitzki, ein hübscher, aufgeweckter Bursche als Zeuge. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Meine Eltern wohnten in Brauweiler. Vor etwa 7 bis 8 Jahren fand ich auf einem Mäuerchen ein Stück Kette, ein Uhrwerk und ein zerbrochenes Uhrglas. Ich zeigte dies meinen Geschwistern und anderen Kindern. Gleich darauf sagte mir meine Mutter, der Aufseher Esser behauptet, ich hätte ihm Uhr und Kette gestohlen. Ich hatte dies aber nicht getan. Den anderen Tag spielte ich mit anderen Knaben »Steigvogel«. Mein Steigvogel flog in den Garten der Baumschule. Ich ging in den Garten, holte mir meinen Steigvogel und pflückte mir zwei Äpfel ab. Gleich darauf wurde ich zum Herrn Direktor geholt. Letzterer gab mir zunächst ein paar Ohrfeigen, sagte mir, daß ich dem Aufseher Esser Uhr und Kette gestohlen habe, und sperrte mich mehrere Stunden lang in eine dunkle Zelle. Schließlich wurde ich von dem Bäckermeister Kulatz aus der Zelle in ein Zimmer geführt, dort wurden mir die Hosen angespannt. Kulatz legte mich über sein Knie und schlug mich heftig mit einem Stock. Als ich fünf Schläge erhalten hatte, bat ich den Herrn Direktor um Verzeihung und bat ihn, mich doch nicht weiterschlagen zu lassen. Der Herr Direktor sagte jedoch zu Kulatz: Schlagen Sie nur weiter!

      Bäckermeister Kulatz: Direktor Schellmann habe ihm gesagt, der Junge habe gestohlen, er solle deshalb den Jungen einmal züchtigen, da die Mutter dies nicht tue. Er habe darauf dem Jungen etwa zehn Hiebe versetzt, es können auch einige mehr oder weniger gewesen sein, gezählt habe er die Hiebe nicht. Daß der Knabe nach den ersten fünf Schlägen um Verzeihung gebeten habe, sei unwahr.

      Aufsehersfrau Drews: Ihr Mann sei noch jetzt Aufseher in Brauweiler. Frau Wernitzki habe zu ihr gesagt: Sie werde zu dem Direktor gehen und ihn bitten, ihren Knaben züchtigen zu lassen, sie könne den Jungen nicht mehr bändigen. Als der Junge die Prügel bekommen hatte, sagte Frau Wernitzki zu mir: Ich freue mich, daß der Direktor meinen Knaben hat züchtigen lassen, wenn ich meine Kinder schlage, dann treten sie nach mir.

      Frau Wernitzki: Das ist alles nicht wahr, es hat noch keines meiner Kinder nach mir getreten.

      Vors.: Ich nehme das zur Ehre Ihrer Kinder an.

      Frau Drews: Ich sage die Wahrheit, der Junge, den ich am anderen Tage fragte, bejahte dies mit lachender Miene. Frau Wernitzki sagte darauf: Es hat ihm nichts geschadet.

      Frau Wernitzki und deren Sohn bezeichneten diese Bekundung mit großer Entrüstung als vollständig erfunden.

      Die Zeugin Drews versetzte darauf: Ich sage die Wahrheit. Ich habe den Wernitzkischen Kindern oftmals Essen gegeben, da sie von ihrer Mutter mit Kostentziehung bestraft wurden.

      Direktor Schellmann: Der Junge war sehr nichtsnutzig, da die Mutter ihm alles nachsah und der Vater zumeist abkommandiert war. Ich schickte den Vater auf Kommando mit Rücksicht auf seine zahlreiche Familie da er dadurch eine größere Einnahme hatte. Ich habe den Jungen selbst etwa drei Stunden lang in die Cachotte gesperrt und ihm alsdann einige Hiebe geben lassen. Daß ich den Mann schlecht behandelt habe, bestreite ich. Ich habe im Gegenteil den Mann, der lungenkrank war, mit Tuberkulin im Lazarett behandeln lassen.

      Der frühere Aufseher, jetzige Bauwächter Szaplewski, der bekanntlich wegen Mißhandlung eines Häuslings zu drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde bekundete auf Befragen: Die Häuslinge seien in Brauweiler und auch in Jülich mehrfach mißhandelt worden. Die Kost war bisweilen nicht ausreichend, das Arbeitspensum sehr groß und die Heizung in den Arbeitssälen nicht immer genügend. Widerspenstige


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