Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 2. Band - Hugo Friedländer


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die Parteileidenschaften toben, im preußischen Gerichtssaale findet sie keinerlei Stätte. Hier gibt es weder Juden, noch Christen, noch Mohammedaner, noch Heiden, sondern nur Angeklagte. Andererseits ist es unverständlich, daß gegen die Behörde der Vorwurf erhoben wurde, die Behörden hätten Furcht, einzuschreiten, weil die Juden dadurch bloßgestellt würden. Meine Herren! Ein preußischer Staatsanwalt kennt keine Furcht! Die Frage ist nicht, wessen Glaubens oder Standes ist jemand, sondern: ist seine Schuld nachgewiesen. Noch waltet in Preußen Gerechtigkeit; noch hat die Justitia die Binde vor den Augen. Wehe, wenn sie die Binde einmal lüftete, um zu sehen, welchen Glaubens oder Standes der Angeklagte ist, um danach das Urteil zu fällen! Wir haben alle mit hoher Genugtuung das zweihundertjährige Jubiläum des Königshauses gefeiert, das Preußen zu solchem Ruhm, Wohlstand und Macht gebracht hat. Das ist hauptsächlich erreicht worden, weil die Grundlage des preußischen Staates Gerechtigkeit ist. Noch ist diese Grundlage unerschüttert. Der erste preußische König hat den Schwarzen Adlerorden mit der Inschrift »Suum cuique« begründet. Dieser Grundsatz muß Sie auch bei Abgabe Ihres Wahrspruches leiten. Jedem das Seine. Dem Unschuldigen die Freiheit, dem Verbrecher das Zuchthaus. Gehen Sie an die Beantwortung der Schuldfragen mit dem Mute und der Entschlossenheit, wie es deutschen Männern geziemt. Sie sollen den Angeklagten nicht verurteilen, weil er Jude ist. Das wäre auch gegen den Willen unseres Heilands; es wäre eine Verletzung der christlichen Religionsgrundsätze. Verurteilen Sie den Angeklagten, weil er sich vergangen hat an den Grundsätzen der christlichen Gesetzgebung, aber auch an den Vorschriften seiner eigenen Religion, die ebenfalls vorschreibt: »Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten.«

      Verteidiger Rechtsanwalt Appelbaum (Konitz): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: »Hier im Gerichtssaale finden die Parteileidenschaften keine Stätte.« Ich stimme dem vollständig bei. Allein außerhalb des Gerichtssaales tobten die Parteileidenschaften furchtbar. Sofort nach der Auffindung der Leichenteile wurde behauptet, die Juden hätten einen Ritualmord begangen. Sogleich war man bemüht, Material zu beschaffen, um zu beweisen, daß zwischen Winter und dem Angeklagten ein Verkehr bestanden habe. Unter diesen Parteileidenschaften wurde das Material gesammelt. Wenn in einer Bevölkerung die Meinung verbreitet ist, daß die Minderheit verbrecherische Neigungen habe, dann wird auch das Urteil getrübt. Es ist doch anzunehmen, daß viele Zeugen unter einer gewissen Suggestion ausgesagt haben. Wenn ein Zeuge aufgetreten wäre, der gesagt hätte: »Ich habe mit Lewy und Winter zusammengestanden und gesprochen,« wenn ein solcher Zeuge aufgetreten wäre, dann wären alle anderen Zeugen überflüssig. Aber ein solcher Zeuge ist trotz aller Bemühungen nicht beschafft worden. Der Herr Erste Staatsanwalt sagte: »Zeugen, die nichts gesehen haben, beweisen nichts.« Ich behaupte, dieser negative Beweis ist mit einer solchen Bestimmtheit geführt worden, daß er zum positiven Beweise wurde. Wenn die besten Freunde beider den Verkehr nicht wahrgenommen haben, dann ist der Verkehr möglich, aber nicht wahrscheinlich. Aber sogar die Familie Hoffmann, die beide kannte und dem Angeklagten sogar feindlich gesinnt ist, hat niemals den Verkehr wahrgenommen. Man sollte doch annehmen, daß zwei Liebhaber eines Mädchens sich auch einmal getroffen hätten. Endlich hat die Nachbarschaft von dem Verkehr nichts wahrgenommen. Der Angeklagte war von der Volksmeinung des Mordes verdächtigt worden. Er konnte sich nur vor der Verhaftung dadurch schützen, daß er sich in allen Dingen streng an die Wahrheit halten mußte. Er mußte wissen, daß er, sobald er nur einmal von der Wahrheit abweicht, sofort verhaftet wird. Der Angeklagte hatte also alle Veranlassung, auch betreffs des Verkehrs mit Winter streng bei der Wahrheit zu bleiben. Ist es denn unmöglich, daß der Angeklagte mit Winter sich unterhalten, zusammengegangen und zusammengestanden und ihn dennoch nicht gekannt hat? Die Gymnasiasten in Konitz kannten jedenfalls alle den »Pincenez-Lewy«, ob aber auch letzterer alle Gymnasiasten, insbesondere alle diejenigen kannte, mit denen er sich von Zeit zu Zeit unterhielt, ist doch eine andere Frage. Nehmen Sie einmal an, ein Fremder fragt mich auf der Straße nach einem Hause. Ich begleite den Fremden, da mein Weg mich an dem Hause vorüberführt. Ich unterhalte mich mit dem Manne, wir bleiben sogar noch auf der Straße in lebhafter Unterhaltung stehen und verabschieden uns alsdann, indem wir uns die Hand schütteln. Nun passiert dem Fremden etwas Schlimmes. Hunderte, ja Tausende von Leuten beschwören: Rechtsanwalt Appelbaum muß den Mann kennen, denn er ist mit ihm plaudernd zusammengegangen und hat ihm zum Abschied noch die Hand gereicht. Und doch ist mir nicht einmal der Name des Fremden bekannt. Der Angeklagte kannte jedenfalls Winter vom Ansehen, er wußte, daß er Gymnasiast ist, aber seinen Namen kannte er nicht. Da doch hier zum mindesten Zweifel über die Schuld des Angeklagten obwalten, so gebe ich mich der festen Überzeugung hin, Sie werden die Schuldfragen verneinen.

      Verteidiger Rechtsanwalt Sonnenfeld (Berlin): Meine Herren Geschworenen! Der Herr Erste Staatsanwalt ist sehr richtig auf das Motiv eingegangen: daß, wenn der Angeklagte einen Meineid geschworen, er diesen aus Furcht, wegen Mordes verfolgt zu werden, geleistet hat, das ist sicher. Es genügt, wenn jemand eine, wenn auch vollständig grundlose Befürchtung hat. Aber nachdem ihn der Kriminalkommissar Wehn eindringlich ermahnt hat, wenn es wahr sei, den Verkehr doch zuzugeben, muß man annehmen, daß der Angeklagte die Wahrheit beschworen hat.

      Der Verteidiger ging alsdann des näheren auf die Zeugenaussagen ein. Viele Zeugen haben unter dem Einfluß der öffentlichen Meinung gestanden. Der Herr Erste Staatsanwalt hat der Verteidigung vorgeworfen, daß sie sich die Photographie von Kroll verschafft hat. Ich mache dem Herrn Staatsanwalt den Vorwurf, daß er sich ein solches Bild im Interesse der Aufklärung nicht schon längst beschaffte. Bei dem ersten Bilde habe ich gesagt: das genügt nicht, denn der Photographierte darauf ist ohne Hut. Ich habe nicht nach Doppelgängern gesucht; aber Pflicht der Staatsanwaltschaft wäre es gewesen, festzustellen, ob eine Verwechslung möglich sei. Ich erinnere nur an die Gehrkeschen Eheleute, die im Hoffmannschen Hause wohnten. Diese kannten Winter ganz genau und sagten mit vollster Bestimmtheit: Wir haben am 11. März, abends acht Uhr, Winter in der Danziger Straße gesehen. Diese durchaus ehrenwerten Leute hätten geschworen, wenn ihnen nicht ein Landmesser vorgestellt worden wäre, den sie für Winter gehalten haben. Solche Verwechslungen sind doch nicht aus der Welt zu schaffen. Wenn zwei Photographien nebeneinander gehalten werden, kann man die Ähnlichkeit nicht finden. Trotzdem kann man Leute, deren Gesichtszüge und Größe verschieden und die betreffs Gangart und anderer äußerer Umstände voneinander abweichen, verwechseln. Ein hinreichend positiver Beweis, daß ein Verkehr nicht stattgefunden hat, ist doch der, daß die besten Freunde, die Hoffmanns, die Nachbarschaft, Professor Prätorius und Oberlehrer Dr. Stöwer, denen der Verkehr nicht entgehen konnte, einen solchen nicht wahrgenommen haben. Die Berliner Polizeibeamten haben die Wahrheitsliebe des Angeklagten festgestellt. Ich erinnere daran, was alles gegen die Familie Lewy behauptet worden ist. Übriggeblieben ist nur die gegenwärtige Anklage, weil sie schwer zu widerlegen ist. Ein berühmter Rechtslehrer, Professor Berner, sagt in seinem Lehrbuche: »Der Richter bei Meineidsprozessen muß besonders vorsichtig sein, da es dabei sehr auf das Gedächtnis und die Gedankenschlüsse ankommt.« Also selbst wenn Sie der Auffassung des Staatsanwalts beitreten, müssen Sie doch freisprechen, wenn Sie nicht auch überzeugt sind, daß der Angeklagte trotz schlechter Augen Winter persönlich gekannt und an der Photographie erkennen mußte. Ich habe die Überzeugung, Sie werden dem Herrn Ersten Staatsanwalt beipflichten: wenn auch draußen noch so sehr die Parteileidenschaften toben, Sie werden unparteiisch ohne Ansehen der Person Ihres Richteramtes walten. Selbst wenn Sie zu dem Ergebnis kommen, daß dem Angeklagten ein größerer Verkehr mit Winter nachgewiesen sei, dann können Sie ihn doch nicht wegen wissentlichen Meineides verurteilen, dann müssen Sie sich erst fragen, ob sich der Angeklagte dessen bewußt gewesen sein muß, daß er den Namen Winter nicht gekannt habe. Sie müssen feststellen, ob Lewy die Fähigkeit besitzen mußte, sich darüber klar zu werden, daß das bekannte Bild, dieses alte Bild, einen Mann seines Verkehrs darstellt. Wenn Sie nicht zu dieser Überzeugung kommen, dann müssen Sie meinen Klienten freisprechen. Ich habe das Vertrauen zu Ihnen, meine Herren Geschworenen, daß Sie ihn freisprechen werden. Ich weiß, Sie haben nicht vergessen des Herrn Ersten Staatsanwalts Mahnung, daß Sie nur nach den Eindrücken urteilen dürfen, welche Sie hier im Gerichtssaal empfangen haben. Ich vertraue, daß Sie nicht Ihr Urteil von dem Standpunkt fällen werden: Es rast der See und will sein Opfer haben! Nicht was draußen vorgeht, außerhalb dieses Saales, wird von Einfluß auf Sie sein, sondern hier handelt es sich für Sie nur darum, daß jeder von Ihnen, sehr geehrte Herren, sich sagt: »Ich habe mein Richteramt auszuüben, frei von allen Rücksichten auf die Stürme


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