Zwangsvollstreckungsrecht, eBook. Alexander Bruns
von materiellen Rechten Dritter etc.).
4. Numerus clausus der Vollstreckungsarten und formgebundene Verwertung im Lichte des Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes
7.26
Aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt der Vorbehalt des Gesetzes bei hoheitlichen Eingriffen in Freiheit und Eigentum. Im vollstreckungsrechtlichen Eingriffsverhältnis (Rn. 5.12 ff.) steht der Vollstreckungsschuldner dem hoheitlich handelnden Staat gegenüber, der bei seinen Eingriffen die rechtsstaatlichen Regeln hoheitlichen Handelns beachten muss. Daraus folgt, dass Voraussetzungen und Modalitäten der Vollstreckung gesetzlich geregelt sein müssen. Die Vollstreckungsorgane sind an die gesetzlich festgelegten Vollstreckungsarten gebunden, sie können nicht neue Formen der Vollstreckung ersinnen und anwenden. Der numerus clausus der Vollstreckungsarten (Rn. 6.64) ist folglich zwar nicht in seiner konkreten Gestalt, aber doch als vollstreckungsrechtliches Grundmuster verfassungsrechtlich gewährleistet. Die Annahme einer Mitwirkungspflicht des Schuldners bei der Geldvollstreckung durch den BGH, die ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung die Naturalvollstreckung durch Zwangshaft (§ 888) eröffnet[42], ist auch vor diesem Hintergrund mehr als fragwürdig und letztlich kaum haltbar, zumal die Zwangshaft in dieser Form an die rechtshistorisch überwundene Schuldhaft deutlich erinnert (Rn. 3.17, 3.27).
7.27
Allerdings wäre ein Ermessen des Vollstreckungsorgans, zwischen verschiedenen Vollstreckungsarten zu wählen, mit der Verfassung vereinbar, soweit die Voraussetzungen der Ermessensübung ausreichend bestimmt blieben. Zentrale Vollstreckungsleitung mit Auswahlbefugnissen des Vollstreckungsorgans (Beispiel: Schweiz, Rn. 59.128) wäre also verfassungsrechtlich zulässig; ob rechtspolitisch klug, ist eine andere Frage (Rn. 6.47 ff.).
7.28
Der Grundsatz formgebundener Verwertung (Rn. 6.71) bindet die Vollstreckungsorgane nicht nur beim Zugriff, sondern auch bei der Liquidation an feste Regeln. Der Vorbehalt des Gesetzes verlangt zwar keine bestimmte Form der Verwertung (wie z.B. die Versteigerung), aber er zwingt doch zu einer genaueren Regelung der Voraussetzungen und Modalitäten einer Verwertung. Der Gesetzgeber könnte Beginn und Art der Verwertung nicht in das Belieben eines vollstreckungsrechtlichen Organwalters stellen. Insoweit ist ein Grundbestand formalisierender Vorschriften bei der Verwertung Ausfluss des verfassungsrechtlichen Gesetzmäßigkeitsgrundsatzes.
a) Gehör des Schuldners
7.29
Es ist an anderer Stelle bereits dargelegt, dass das deutsche Vollstreckungsrecht den Grundsatz des einseitigen Verfahrens verwirklicht: im Allgemeinen wird bloß nachträgliches Gehör gewährt, vorheriges Gehör nur bei „irregulärem“ Verfahrensablauf (Rn. 6.26 ff.) und in besonderen Fällen.
7.30
Die verfassungsrechtliche Beurteilung einfachen Vollstreckungsrechts hat zunächst einmal zu beachten, dass Art. 103 Abs. 1 GG nur für Verfahren mit gerichtlichem Erkenntnischarakter volle Wirkung entfaltet. Das Verfahren der Vollstreckungsorgane gleicht im Regelfalle eher dem Verwaltungsverfahren (Rn. 2.1 ff.). Aus Art. 1, 2 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip folgt allerdings auch im Verwaltungsverfahren die grundsätzliche verfassungsrechtliche Gewährleistung der Anhörung, Beteiligung und Information des Bürgers (vgl. §§ 28, 29 VwVfG), die jedoch im Ergebnis eine elastischere Handhabung erlaubt als im gerichtlichen Erkenntnisverfahren, weil Art. 19 Abs. 4 GG die gerichtliche Kontrolle mit vollem Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) garantiert. Das Vollstreckungsverfahren kann effektiver gestaltet werden, wenn der konkrete Vollstreckungszugriff nicht vorheriger Erörterung, sondern nur nachträglicher Kontrolle unterliegt. Die grundsätzliche Einseitigkeit des Verfahrens ist deshalb verfassungsrechtlich unbedenklich, soweit nachträgliches Gehör gewährleistet und bei Sondereingriffen präventives Gehör zugestanden bleibt. Wenn besonders wichtige Eingriffe richterlichen Entscheidungen mit Erkenntnischarakter vorbehalten sind (z.B. §§ 758a i.d.F. der 2. Zwangsvollstreckungsnovelle 1999, 887 ff., 891), so gilt Art. 103 Abs. 1 GG unmittelbar. Selbst Art. 103 Abs. 1 GG garantiert indessen kein vorheriges Gehör, wenn die effektive Verfahrensgestaltung nur nachträgliches Gehör erlaubt[43]. Das deutsche Vollstreckungsrecht ist vor diesen Maßstäben insoweit verfassungsgemäß und in seinen Grundstrukturen verfassungsfest. Die Ausdehnung der Gehörsrüge (§ 321a) auf sämtliche einschließlich der im Zwangsvollstreckungsverfahren ergangenen Entscheidungen entspricht letztlich einem Verfassungsgebot[44]. Anzumahnen bleibt die Ausdehnung auf andere Verfahrensfehler verfassungsrechtlicher Qualität.
b) Parteiöffentlichkeit
7.31
Wenn man aus Art. 1, 2 Abs. 1, 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip die Gewährleistung von Anhörung und Information im Vollstreckungsverfahren erschließt, so erhellt, dass die Parteiöffentlichkeit des Verfahrens (Rn. 6.34) grundsätzlich verfassungsrechtlicher Garantie unterfällt, die nur auf Grund gegenläufiger Schuldnergrundrechte Einschränkungen erleiden darf.
Gläubiger und Schuldner haben folglich Zugang zu Verfahrensakten (Rn. 6.29). Sie können beim Vollstreckungsverfahren zugegen sein. Soweit indessen das Persönlichkeitsrecht (Art. 1, 2 GG) und das Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG) des Schuldners reichen, bleibt der Gläubiger ohne gesetzliche Eingriffsnorm ausgeschlossen, falls der Schuldner nicht einwilligt – dies entgegen der ganz h.M. (Rn. 6.34). An eine gesetzliche Regelung wären insoweit unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit durchaus strenge Anforderungen zu stellen.
c) Öffentlichkeit?
7.32
Die Öffentlichkeit des Erkenntnisverfahrens ist zwar – entgegen der h.M. – in ihrem Kern verfassungsrechtlich garantiert als wesentlicher Bestandteil eines rechtsstaatlichen Verfahrens im Namen des Staatsvolkes als des Souveräns[45]. Im Vollstreckungsverfahren (Rn. 6.33) verbieten indessen Schuldnergrundrechte die Öffentlichkeit, welche die Vermögensverhältnisse des Schuldners vielfach offenlegen müsste; Öffentlichkeit wäre oft auch kaum praktikabel. Bei formalisierten Verwertungsverfahren ist Öffentlichkeit zunächst einmal zweckmäßig; man könnte allerdings mit guten Gründen vertreten, dass vor allem bei Zwangsverwertung wertvoller Güter die Öffentlichkeit ein Gebot fairen rechtsstaatlichen Verfahrens sei (§§ 39 ZVG; 816 Abs. 3 ZPO). Sofern sich Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen – nichtöffentlichen – gerichtlichen Vollstreckungsakten und – öffentlichen – richterlichen Erkenntnisverfahren ergeben (Rn. 6.33 m.Nw.), entspricht die Vermutung zu Gunsten der Öffentlichkeit dem verfassungsmäßigen Gewicht dieses Grundsatzes.