Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems


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täglich die Schwestern Viardot,

      unvergessliche Abende,

      sein Lieblingslied, das selten gehörte:

      „wenn meine Grillen schwirren“

      (Schubert),

      oft lesen sie Scheffel’s Ekkehard. [<<18]

      Es werden entdeckt:

      der flügellose Vogel Kiwi-kiwi in Neuseeland,

      der augenlose Molch in der Krainer Tropfsteinklamm,

      ein blinder Fisch in der Mammuthhöhle von Kentucky.

      Beobachtet werden:

      Schwinden des Haarkleides (Wale, Delphine),

      Weisslichwerden der Haut (Schnecken, Köcherfliegen),

      Panzerrückbildung (Krebse, Insekten) –

      Entwicklungsfragen,

      Befruchtungsstudien,

      Naturgeheimnis,

      nachgestammelt.

      Kampf gegen Fremdwörter,

      Luna, Cephir, Chrysalide,

      1088 Wörter aus dem Faust

      sollen verdeutscht werden.

      Agitation der Handlungsgehilfen

      für Schliessung der Geschäfte an den Sonntagnachmittagen,

      sozialdemokratische Stimmen

      bei der Wahl in Berlin: 68 535.

      Das Tiergartenviertel ist freisinnig,

      Singer hält seine erste

      Kandidatenrede.

      13. Auflage von Brockhaus’

      Konversationslexikon.

      Die Zeitungen beklagen die Aufführung

      von Tolstoi’s „Macht der Finsternis“,

      dagegen ist Blumenthal’s „Ein Tropfen Gift“

      eines langen Nachklangs von Wohllaut sicher;

      „Über dem Haupt des Grafen Albrecht Vahlberg,

      der eine geachtete Stellung in der hauptstädtischen Gesellschaft

      einnimmt,

      schwebt eine dunkle Wolke“,

      Zola, Ibsen, Hauptmann sind unerfreulich,

      Salambo verfehlt, [<<19]

      Liszt Kosmopolit,

      und nun kommt die Rubrik

      „Der Leser hat das Wort“,

      er will etwas wissen

      über Wadenkrämpfe

      und Fremdkörperentfernung.

      Es taucht auf:

      Pithekanthropos,

      Javarudimente, –

      die Vorstufen.

      Es stirbt aus:

      der kleine Vogel von Hawai

      für die königlichen Federmäntel:

      ein gelber Flaumstreif an jedem Flügel, –

      genannt der Honigsauger.

      1886 –

      Geburtsjahr gewisser Expressionisten,

      ferner von Staatsrat Furtwängler,

      Emigrant Kokoschka,

      Generalfeldmarschall v. W. (†),

      Kapitalverdoppelung

      bei Schneider-Creuzot, Krupp-Stahl, Putiloff. (GBG 324–326)

      Man muß nicht sonderlich viel von Lyrik verstehen, um auf den ersten Blick bereits zu erkennen, daß dieses Gedicht auf das ausgehende 19. Jahrhundert kein Gedicht des 19. Jahrhunderts, daß es ein modernes Gedicht ist. Kein Zweifel – ein Lyriker des 19. Jahrhunderts hätte so noch nicht sprechen können. Wie aber kommen wir zu diesem Urteil? Welche Züge des Gedichts überzeugen uns so rasch davon, daß es der Moderne angehört? Gehen wir zunächst dieser Frage nach, bevor wir uns dem Bild zuwenden, das Benns Gedicht von den Verhältnissen des Jahres 1886 zeichnet. Der geschichtliche Wandel, den wir mit seiner Hilfe in den Blick zu bekommen suchen, wird ja nicht nur in dem greifbar, was es von einem modernen Standpunkt aus [<<20] über diese Verhältnisse sagt; er bezeugt sich nicht weniger durch die Art und Weise, wie es von ihnen spricht.

      1.2.1 Vom Lied zum Montagegedicht

      Freie Rhythmen vs. Vers und Reim

      Ein erster Anhaltspunkt für seine Einstufung als modern ist zweifellos seine äußere Form, sind die Freien Rhythmen,2 in denen es gestaltet ist, eine Möglichkeit lyrischen Sprechens, die im 20. Jahrhundert zu den bevorzugten Formen der Lyrik gehört. Bei Freien Rhythmen ist die Sprache des Gedichts keiner metrischen Regulierung unterworfen, ist sie weder an eine bestimmte Versform noch an ein bestimmtes Strophen- und Reimschema gebunden, die über den gesamten Text hinweg durchzuhalten wären, so daß ein solches Gedicht nicht viel anders klingt als eine poetische Prosa. Demgemäß ist es hier zunächst nicht mehr als die Zeilenbrechung, was dem Leser anzeigt, daß er ein Gedicht vor sich hat.

      Nun hat es Freie Rhythmen auch im 19. Jahrhundert schon gegeben, etwa bei Heinrich Heine (1797–1856) und Friedrich Nietzsche (1844–1900), doch findet man sie hier sehr viel seltener als im 20. Jahrhundert, und sie haben im allgemeinen auch einen anderen Charakter als bei einem modernen Autor wie Benn. Das Gros der Lyrik des 19. Jahrhunderts bewegt sich in liedhaften Formen, zumal in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und wenn ein Autor dennoch einmal zu Freien Rhythmen greift, so sucht er das, was ihnen äußerlich an Poetizität abgeht, meist durch Pathos zu kompensieren; so haben es jedenfalls Heine und Nietzsche gehalten. Benns Gedicht hingegen macht aus seiner Nähe zur Prosa keinen Hehl, ja es kommt in einer Sprache daher, deren unpathetisch nüchterner, fast schon emotionsloser Ton, deren Lakonismus solche Nähe geradezu demonstrativ hervorkehrt.

      Die Geschichte der Freien Rhythmen beginnt im 18. Jahrhundert, bei Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und dem jungen Goethe (1749–1832), doch bleibt ihre Pflege zunächst Episode. Denn das Ende des Jahrhunderts bringt eine Phase besonders intensiver Auseinandersetzung mit metrischen Fragen, und das Ergebnis ist, daß [<<21] Vers und Reim erneut und mehr denn je als unentbehrlich für alle wahre Dichtung gelten. Für die Dichter der Weimarer Klassik, die Literaturtheoretiker der Jenaer Frühromantik und die Ästhetiker des Idealismus sind sie der ausgezeichnete Ausdruck einer autonomen, nur ihren eigenen Interessen und Gesetzen folgenden Dichtung, und an der Autonomie der Kunst ist nun alles gelegen. Friedrich Schiller (1759–1805) etwa ist der Auffassung, daß allein der Vers jene Distanz der dichterischen Rede gegenüber der Alltagssprache herstellen könne, derer sie bedürfe, um ihre besonderen kommunikativen Möglichkeiten entfalten zu können. Und die Brüder August Wilhelm (1767–1845) und Friedrich Schlegel (1772–1829) feiern den Reim gar als einen besonders prägnanten Ausdruck dessen, wovon die Dichtung ihrer Auffassung nach vor allem Zeugnis abzulegen hat, als Ausdruck der geheimnisvollen Verbundenheit aller Dinge in ein- und demselben Seinsgrund.

      Das Lied im 19. Jahrhundert

      Die Autoren des 19. Jahrhunderts sind dem im allgemeinen gläubig gefolgt; sie suchten die Autonomie der Kunst zur Geltung zu bringen, indem sie Verse schmiedeten und reimten, was das Zeug hielt. Den äußeren Rahmen gaben dabei vielfach liedhafte Strophen ab, wie sie dank der Auseinandersetzung Johann Gottfried Herders (1744–1803) und des jungen Goethe mit dem Volkslied in das Repertoire der lyrischen Formen eingegangen waren und wie sie von der Hoch- und Spätromantik mit ihrem Faible für die Volksliteratur besonders nachdrücklich propagiert worden waren.

      Der Mai ist gekommen,

      Die Bäume schlagen aus,

      Da bleibe, wer Lust hat,

      Mit


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