Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems


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kommt mir nicht aus dem Sinn.8 [<<26]

      Denk ich an Deutschland in der Nacht,

      Dann bin ich um den Schlaf gebracht,

      Ich kann nicht mehr die Augen schließen,

      Und meine heißen Tränen fließen.9

      Das 19. Jahrhundert hat, wie sich bei Heine besonders deutlich zeigt, kein Wort so oft und mit so gläubiger Inbrunst ausgesprochen wie das Wort „ich“; ich sagen zu dürfen, ist seine größte Lust, ich sagen zu müssen, seine größte Last. Darin vor allem dürften die Erfolge gründen, die im 19. Jahrhundert einer Lyrik zuteil werden, die sich als liedhafte Lyrik zum Medium einer subjektiv-erlebnishaften Ich-Aussprache gestaltet hat. Daß das Ich hier so große Bedeutung erlangt, ist Ausdruck der Individualisierung, wie sie untrennbar mit dem Prozeß der Modernisierung verbunden ist, jener Aufwertung alles Individuellen, Persönlichen, Subjektiven, die vor allem von der Aufklärung des 18. Jahrhunderts vorangetrieben worden ist und der gerade auch die Literatur Raum zu geben sucht, seitdem sie sich als eine autonome Kunst versteht.

      Die Lust und Last des Ich-Sagens erlebt im letzten Drittel des Jahrhunderts bei dem Philosophen, der zum wichtigsten Mentor der frühen Moderne werden sollte, bei Friedrich Nietzsche, einen Höhepunkt, der sich kaum mehr überbieten läßt. Was diesen Denker umtreibt, läßt sich seinen Texten bereits auf den ersten Blick ansehen; offensichtlich kommt es ihm darauf an, möglichst viele Sätze zu bilden, in denen an möglichst vielen Stellen ich gesagt wird. Nietzsches letzte Schrift „Ecce homo“ (1888) dürfte von allen Werken der Weltliteratur dasjenige sein, dessen Text die größte Ich-Dichte aufweist. In allen Belangen soll dem Ich Geltung verschafft werden, nicht nur in der Kunst, die als autonome Kunst dazu prädestiniert ist, sondern gerade auch in den Bereichen, in denen ihm in der Regel eine untergeordnete Rolle zugewiesen wird, und hier wiederum besonders in den Fragen der Erkenntnis und der Moral. Eben darin dürfte einer der Gründe für das ungeheure Echo zu sehen sein, das Nietzsches Schriften an der Schwelle zur Moderne hatten; wer Nietzsche las, der durfte mit ihm endlich einmal hemmungslos ich sagen. [<<27]

      Individualisierung und Problematisierung des Ichs

      Am Ende des 19. Jahrhunderts konnte das nur als ein Befreiungsschlag erlebt werden, denn es war inzwischen immer schwieriger geworden, unbekümmert ich zu sagen. Nicht als hätte man früher im 19. Jahrhundert nicht auch schon seine Probleme damit gehabt. Das Ich ist sich in eben dem Moment zum Problem geworden, in dem das authentische Selbstsein zum Maß aller Dinge wurde, also bereits tief im 18. Jahrhundert. Schon in den Schriften des Autors, der als der wichtigste Vorkämpfer und Inbegriff des modernen Individualismus gilt, schon bei Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) bringt sich ein Individuum zur Darstellung, das sich als durch und durch problematisch erlebt, das überdies mehr von Erfahrungen der „Entfremdung“ zu berichten hat als von Momenten authentischen Selbstseins. Nicht umsonst sind die Worte, die zur Losung der „Befreiung“ des Individuums geworden sind, ist das „Hast du’s nicht alles selbst vollendet, heilig glühend Herz?“ aus Goethes „Prometheus“ vom Autor mit einem Fragezeichen versehen.

      Dabei ist es im 19. Jahrhundert weithin geblieben. Das Ich, das sich in dessen liedhafter Lyrik zu Wort meldet, ist in der Regel ein angefochtenes Ich, eines, das für sein Selbstsein zu kämpfen hat.10 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nehmen die Probleme mit dem Selbstsein dann allerdings ganz andere Ausmaße an, wachsen sie in eine Dimension hinein, die die Frage aufkommen läßt, ob sie mit den Mitteln einer liedhaften Lyrik überhaupt noch adäquat zu gestalten seien.11 Daß der moderne Individualismus dem Ich ein authentisches Selbstsein verheißt, hat es nach und nach immer sensibler für die Kräfte und Mächte werden lassen, die seiner „freien Selbstbestimmung“ entgegenstehen, die es von innen steuern und von außen begrenzen. Zugleich hat die moderne Wissenschaft ein immer profunderes Wissen um diese Kräfte und Mächte ausgearbeitet, hat sie aufgedeckt, in welchem Maße es von ihnen „determiniert“ ist, auch und gerade dort, wo es sich ihrer gar nicht bewußt wird.

      So haben die moderne Biologie, Medizin und Psychologie gezeigt, in welchem Maße das Ich in seinem Denken und Handeln von inneren [<<28] Kräften, von Trieben und Instinkten gelenkt wird. Und so haben die moderne Philosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie ein Bewußtsein davon geschaffen, welche Macht die äußeren Umstände, die geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse über es haben, wie sehr sie es in seiner Entwicklung befördern oder behindern, ja schon in seiner Konstitution als Ich bestimmen. Da wurde es für das Individuum immer schwieriger, an sich selbst und an das zu glauben, was sich in seinem Bewußtseinsleben an Vorstellungen regt, und das konnte natürlich nicht ohne Folgen für eine Literatur bleiben, die sich wesentlich als Sprachrohr des Individuums verstand.

      Das Ich zwischen Weltangst und Humor

      Das Bewußtsein von der Macht des Unbewußten bereitet sich im 19. Jahrhundert bereits allenthalben vor, aber es hat hier noch keine Konsequenzen für die Form der literarischen Rede, jedenfalls keine von grundstürzender Bedeutung. Das Ich bleibt mit seinen subjektiven Erlebnissen und Vorstellungen, Gefühlen und Stimmungen der Ausgangs- und Zielpunkt aller literarischen Aktivitäten, so daß auch die Probleme mit dem Selbstsein hier noch immer auf subjektiv-erlebnishafte Weise gestaltet werden. Das geschieht vor allem auf zwei verschiedenen Wegen, zum einen indem sich in den Texten ein Ich zu Wort meldet, dessen Lebensgefühl von Weltangst oder „Weltschmerz“ bestimmt ist, und zum andern indem eine Selbstironie und ein Humor kultiviert werden, die es dem Ich erlauben, zu seinen Nöten auf Distanz zu gehen.

      Einer Weltangst begegnen wir vor allem in der Literatur der Romantik, etwa bei Ludwig Tieck (1773–1853), E. T. A. Hoffmann (1776–1822) und Joseph von Eichendorff (1788–1857). Da treffen wir immer wieder auf Sprecher, denen ihre Wahrnehmungen und Erlebnisse, ja ihr gesamtes Bewußtseinsleben bis hin zu ihrer Selbstwahrnehmung sonderbar brüchig und fadenscheinig werden, so daß sie nach und nach von einer namenlosen Angst ergriffen werden. Von einem Leben im Zeichen des „Weltschmerz“ handelt die Literatur des Vormärz, handeln zum Beispiel Heinrich Heine und Georg Büchner (1813–1837). Innenwelt und Außenwelt, das Verlangen nach authentischem Selbstsein und das Erfordernis der Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse lassen sich auf keine Weise mehr zusammenbringen, so daß „Zerrissenheit“ und Verzweiflung bis hin zur Todessehnsucht das Schicksal des Individuums scheinen. Demgegenüber weiß es sich allenfalls mit den Mitteln einer Ironie Luft zu verschaffen, die es ebensowohl [<<29] versteht, die Ansprüche der Gesellschaft auf Distanz zu stellen, wie die Fixierung des Ichs auf sich selbst aufzubrechen und zu lösen. Und die Literatur des Realismus setzt bei ihren Versuchen, die Probleme des Selbstseins zu gestalten, vor allem auf den Humor. Er soll es dem Individuum erlauben, sich mit einem Lachen über die „Grenzen der Menschheit“ zu erheben, wie es sie zugleich an sich selbst und an seinen Mitmenschen zur Kenntnis zu nehmen hat. Beispiele dafür finden sich bei Gottfried Keller (1819–1890), Theodor Fontane (1819–1898) und Wilhelm Raabe (1831–1910).

      Die Problematisierung des Ichs in der modernen Literatur

      In Phänomenen wie Weltangst und „Weltschmerz“, Ironie und Humor bezeugt sich freilich, daß die Auseinandersetzung mit der Problematik des Selbstseins hier noch immer mit literarischen Mitteln geführt wird, die in einem subjektiv-erlebnishaften Zugriff auf die Welt gründen. Das ändert sich erst in den achtziger, neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle der Moderne; bis dahin hat sich die Vorstellung von der Determiniertheit des Individuums auf eine Weise im Bewußtsein der Menschen breitgemacht und festgesetzt, daß die Frage aufkommt, ob das Ich weiterhin als Dreh- und Angelpunkt der literarischen Rede fungieren könne, ob so noch eine Literatur möglich sei, die den Menschen etwas bedeuten würde.12 Benns Gedicht auf das Jahr 1886 ist ein Beispiel für eine Form des lyrischen Sprechens, die sich, wie sich äußerlich bereits am Fehlen des Worts „ich“ zeigt, entschieden von dem subjektiv-erlebnishaften Ansatz gelöst hat, die mit jenem Zweifel Ernst zu machen versucht, in dem das Bewußtsein von der Determiniertheit des Individuums kulminiert, mit dem Zweifel, „daß ich überhaupt etwas bin“, dem Gefühl, „es geht nur etwas durch mich hindurch“ (GBP 469).

      So ist das Gedicht in dem Bewußtsein


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