Im Reiche des silbernen Löwen I. Karl May

Im Reiche des silbernen Löwen I - Karl May


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sie wahrscheinlich nicht wieder gefunden. Meinst du nicht, alter Tim?«

      »Yes,« nickte sein Bruder, indem ich wieder aufstieg, um die Suche nun jenseits, am rechten Ufer abwärts, fortzusetzen. Das Gesicht des Gefangenen hatte sich wieder verdüstert; die kurze Hoffnung war ihm jetzt wieder abhanden gekommen. Er blickte sehr ernst und nachdenklich vor sich hin; ich merkte ihm an, daß er mit sich zu Rate ging. Welchen Erwägungen er sich hingab, konnte ich natürlich nicht wissen, war aber überzeugt, daß wir es bald erfahren würden.

      Die Spur führte zunächst am Flusse hinunter und dann in beinahe rechtem Winkel von ihm ab, durch ziemlich dichten Busch und Wald; dann wendete sie sich nach links, bis wir an einen Bach kamen, an dessen Ufer sie aufhörte. Jenseits dieses Baches gab es eine freie Stelle, deren Gras niedergetreten war. Ich stieg vom Pferde und untersuchte den Grund des Wassers; es waren da die Eindrücke von Pferdehufen zu sehen.

      »Es scheint, daß da drüben Reiter gelagert haben; meinst du nicht, alter Tim?« fragte Jim Snuffle seinen Bruder.

      »Yes,« antwortete dieser.

      »Wer mag es gewesen sein? Denkt Ihr, daß wir es erfahren werden, Mr. Shatterhand?«

      »Ich hoffe es. Es ist für uns sehr wichtig, zu wissen, wer sich vor zwei Stunden hier befunden hat,« erklärte ich.

      »Vor zwei Stunden? Nehmt es mir nicht übel, wenn ich meine, daß es länger her ist! Seht Euch nur das Gras an!«

      »Ich sehe es.«

      »Well! Da Ihr es seht, so müßt Ihr doch bemerken, wie fest es niedergetreten gewesen ist. Ich nehme an, daß man hier die ganze Nacht gelagert hat.«

      »Das denke ich auch.«

      »Schön! Unter solchen Verhältnissen aber richtet sich das Gras nicht so rasch wieder auf, als wenn es nur kurze Zeit niedergedrückt wurde. Darum meine ich, daß dieser Platz seit länger als zwei Stunden verlassen worden ist.«

      »Sehr richtig; aber Ihr scheint nicht alles gesehen zu haben.«

      »Was nicht?«

      »Als die Leute, welche seit gestern abend hier lagerten, den Platz verlassen hatten, kamen andere nach, und diese sind erst seit zwei Stunden wieder fort.«

      »Andere? So denkt Ihr, daß wir es mit zwei verschiedenen Trupps zu thun haben?«

      »Allerdings.«

      »Dann sind Eure Augen schärfer als die meinigen, worüber man sich freilich nicht groß wundern kann, wenn man bedenkt, daß Ihr Old Shatterhand seid. Wollt Ihr so gut sein, meinen schwächeren Sehwerkzeugen ein wenig zu Hilfe zu kommen?«

      »Gern. Vorher aber will ich erst über den Bach hinüber. Ihr bleibt einstweilen hüben, damit Ihr mir die Spuren nicht verlöscht, die ich zu lesen habe.«

      Ich sprang über das nicht breite Wasser und untersuchte das verlassene Lager so genau wie möglich. Als dies geschehen war, rief ich mein Pferd herüber, und die andern drei Reiter folgten nach.

      »Darf ich mit meinem alten Tim auch einmal nachforschen?« fragte Jim. »Möchte doch gar zu gern wissen, ob wir es fertig bringen, ganz dasselbe herauszulesen wie Ihr.«

      »Habe nichts dagegen,« antwortete ich. »Zwei Männer wie Jim und Tim Snuffle brauchen sich wohl keine große Mühe zu geben, hier zu erfahren, woran sie sind.«

      Die beiden stiegen ab und betrachteten die vorhandenen Spuren auf das schärfste; sie teilten sich dabei leise ihre Gedanken mit und schienen einerlei Meinung zu sein; dann sagte Jim:

      »Es giebt hier ein Rätsel, welches wir uns nicht erklären können. Wenn Old Shatterhand sagt, daß wir es mit zwei verschiedenen Trupps zu thun haben, so muß es wahr sein; wir bringen aber nur einen Trupp heraus. Wo ist der andere?«

      »Hinter dem ersten her.«

      »Aber seine Spur, Sir, seine Spur! Wir sehen sie nicht.«

      »Wirklich nicht? Und sie liegt doch so deutlich vor Euch. Woher sind die Leute gekommen, welche hier gelagert haben?«

      »Da grad aus Süden. Die Fährte ist allerdings deutlich genug, und eine zweite giebt es nicht.«

      »Das ist eben ein Irrtum, ein großer Irrtum, den man den beiden Snuffles eigentlich nicht zutrauen sollte.«

      »Wieso ein Irrtum?«

      »Aus zwei verschiedenen Gründen.«

      »Der erste Grund?«

      »Die Spur kommt grad aus Süden. Wo geht sie von hier aus hin?«

      »Nach Westen.«

      »Sie bildet also einen großen Winkel. Wenn Eure Meinung die richtige wäre, so hätten die betreffenden Leute einen bedeutenden Umweg gemacht. Man reitet, wenn man nach Westen will, doch nicht grad nach Norden. Entweder also müßten diese Leute sehr unerfahrene Menschen sein, oder Ihr befindet Euch im Irrtume.«

      »Da wird wohl das erstere der Fall sein: unerfahrene Menschen.«

      »Nein, denn dagegen spricht der zweite Grund. Seht Euch die Spuren doch recht genau an, Mr. Snuffle! Wie alt ist wohl die von Süden herkommende Fährte?«

      »So wie Ihr gesagt habt: ungefähr zwei Stunden.«

      »Und die von hier nach Westen führende?«

      »Auch so alt.«

      »Schön! Wenn dies so wäre – und es ist allerdings so – dann können sich diese Leute doch höchstens einige Minuten hier aufgehalten haben; sie müssen kurz nach ihrer Ankunft wieder fortgeritten sein. Die Spuren aber hier am Platze sind so alt, daß sie auf gestern abend zurückweisen. Wie reimt Ihr das zusammen?«

      Er machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht, sah seinen Bruder ratlos an und fragte ihn:

      »Ja, wie reimst du das zusammen, alter Tim? Kannst du das?«

      »No.«

      »Ich auch nicht. Die Fährten, welche her- und wieder fortführen, sind zwei Stunden alt; gelagert aber ist hier seit gestern abend worden. Das ist eine so krumme Sache, daß sie wohl nicht gerade zu machen ist.«

      »O doch,« erklärte ich.

      »Glaubt Ihr, dies fertig zu bringen?«

      »Ja.«

      »Dann bitte, thut es doch! Hier Klarheit zu erlangen, das wäre doch das höchste der Gefühle.«

      »Denkt nur ein klein wenig nach! Denkt doch an den Winkel, den die beiden Fährten bilden und daran, wie unwahrscheinlich es ist, daß Westmänner einen solchen Umweg machen! Sie sind von hier nach Westen geritten, und da steht es doch zu vermuten, daß sie aus Osten gekommen sind.«

      »Well. Aber Ihr seht doch mit Euern eigenen scharfen Augen, daß sie aus Süden kamen!«

      »Das ist ja ihre Fährte gar nicht!«

      »Ah! Also eine andere?«

      »Ja. Schaut doch von hier nach Osten! Bemerkt Ihr da nichts?«

      Er folgte meiner Aufforderung, schüttelte den Kopf, sagte dann aber schnell:

      »Halt, vielleicht habe ich es! Das Gras scheint einen Streifen zu haben. Man sieht ihn freilich kaum, aber zu erkennen ist er doch noch.«

      »Richtig! Diesen Streifen habe ich sofort bemerkt. Es ist die gestrige Fährte der Leute, welche hier übernachtet haben. Ihr gebt doch zu, daß sich das Gras während so langer Zeit wieder aufrichten muß?«

      »Ja, Ihr habt recht, Sir.«

      »Das gestern gegen Abend niedergetretene Gras steht wieder gerade und ist nur durch einen abweichenden Farbenschein zu unterscheiden. Also die Leute, um welche es sich hier handelt, sind aus dem Osten gekommen und heut westlich weitergeritten; das haben wir heraus.«

      »Und die südliche Fährte?«

      »Stammt von einem sehr starken Reitertrupp, welcher aus Süden gekommen ist und jedenfalls in nördlicher Richtung weiterreiten wollte; als er aber den Lagerplatz hier entdeckte, ist er links abgeschwenkt, um dem ersten Trupp nachzureiten.«

      »Ja,


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