Der Trotzkopf. Emmy von Rhoden
aber Ilse, das geht doch nicht!« wandte der erstaunte Oberamtmann ein. »Du darfst doch keine Hunde mit in das Institut bringen! Sei vernünftig und gib Bob Johann wieder zurück!«
Doch daran war nicht zu denken. Ilse ließ sich durch keine Vorstellung dazu bewegen.
»Die einzige Freude gönn mir, Pachen! Willst du mich denn ganz allein unter den fremden Menschen lassen? Wenn Bob bei mir ist, dann habe ich doch einen guten Freund! Nicht wahr, Bobchen, du willst nicht wieder fort von mir«, wandte sie sich an den Hund, der sich bereits behaglich auf ihrem Schoß zusammenrollte. »Du bleibst nun immer bei mir.«
Es war dem Vater unmöglich, ein Machtwort dagegen zu sprechen. Schließlich überzeugte ihn der Gedanke, daß die Kleine doch einen heimatlichen Trost in die Fremde mitnahm.
Es war eine lange und nicht sehr abwechslungsreiche Fahrt durch meist flaches Land; erst zuletzt kamen die Berge. Für Ilse tat sich eine neue Welt auf, sie hatte noch nie eine so lange, weite Reise gemacht. Über all den neuen Eindrücken, die sich ihr aufdrängten, trat der Trennungsschmerz in den Hintergrund.
Spät am Abend langten sie in W. an. Man übernachtete im Hotel; und am nächsten Tag sollte Ilse in ihr neues Heim eingeführt werden.
Als es am andern Morgen neun Uhr schlug, stand Ilse fertig angezogen vor ihrem Vater. Sie sah in ihrem grauen Kostüm und den hübschen Sportschuhen ganz allerliebst aus. Unter dem hellen Strohhut schlängelten sich die braunen Locken übermütig hervor. Die schönen großen Augen blickten heute nicht so fröhlich wie sonst, sie zeigten einen ängstlich-erwartungsvollen Ausdruck.
»Dir fehlt doch nichts, Ilschen?« fragte Herr Macket und sah sein Kind besorgt an. »Du bist so blaß. Hast du schlecht geschlafen?«
Die herzliche Frage des Vaters löste die unnatürliche Spannung in Ilses Seele. Sie fiel ihm um den Hals, und die bis dahin trotzig zurückgehaltenen Tränen brachen mit aller Macht hervor.
»Aber Kind, Kind«, sagte Herr Macket, »du wirst nicht lange von uns getrennt bleiben! Ein Jahr vergeht schnell, und zu Weihnachten besuchst du uns. Komm, Kleines, trockne die Tränen! Mach dir das Herz nicht schwer! Du wirst uns fleißig Briefe schreiben, und Mama und ich werden dir täglich von uns Nachricht geben, von allem, was dich in Moosdorf interessiert!« Er nahm sein Taschentuch und trocknete damit die immer von neuem hervorbrechenden Tränen seines Kindes.
»Mama soll mir nicht schreiben«, stieß Ilse schluchzend heraus, »nur deine Briefe will ich haben! Meine Briefe an dich soll sie auch nicht lesen!«
»Ilse«, verwies Herr Macket, »so darfst du nicht sprechen! Mama hat dich lieb und meint es sehr gut mit dir!«
»Sehr gut!« wiederholte sie in kindischem Zorn. »Wenn sie mich lieb hätte, würde sie mich nicht verstoßen.«
»Verstoßen? Du weißt nicht, was du sprichst, Ilse. Werde erst älter, dann wirst du das große Unrecht einsehen, das du heute deiner Mutter antust, und deine bösen Worte bereuen.«
»Sie ist nicht meine Mutter – sie ist meine Stiefmutter!«
»Du bist kindisch«, sagte der Oberamtmann. »Aber merke dir, niemals will ich wieder solche Äußerungen von dir hören! Du kränkst mich damit.«
Ilse konnte nicht begreifen, wie es kam, daß ihr Vater sie nicht verstand; er mußte doch einsehen, wie unrecht ihr geschah.
»Komm jetzt!« fuhr er beruhigend fort, »wir wollen gehen, mein Kind!«
Ilse ergriff den Hund, nahm ihn auf den Arm und wollte dem Vater folgen.
»Laß ihn zurück!« befahl der Oberamtmann. »Wir fragen erst, ob du einen Hund mitbringen darfst.«
Aber Ilse setzte ihren Trotzkopf auf. »Dann gehe ich auch nicht!« erklärte sie mit Bestimmtheit. »Ohne Bob bleibe ich auf keinen Fall im Pensionat.«
Herr Macket gab nach, aus Furcht, neue Tränen hervorzulocken. Aber die Sache war ihm sehr peinlich. Was sollte Fräulein Raimar denken!
Eine Viertelstunde später standen Vater und Tochter vor einem stattlichen zweistöckigen Haus, das etwas außerhalb der kleinen Stadt mitten im Grünen lag; es war das Institut von Fräulein Raimar.
Der Gutsbesitzer blieb davor stehen. »Sieh, Ilse, welch ein schönes Gebäude!« rief er höchst befriedigt. »Der Blick von hier aus in die nahen Berge ist wirklich prächtig.«
Was kümmerten Ilse die Berge! Sie fühlte sich so gedrückt vor Kummer, daß ihr die ganze Welt ein Jammertal dünkte.
»Wie kannst du dieses Haus schön finden, Papa!« entgegnete sie. »Wie ein Gefängnis sieht es aus.«
Herr Macket lachte. »Glaubst du, daß in einem Gefängnis hohe, breite Fenster zu finden sind? Die armen Gefangenen sitzen hinter kleinen blinden Scheiben mit Eisengittern.«
»Ich werde jetzt auch eine Gefangene sein, Papa, und du selbst lieferst mich in dem Gefängnis ab.«
»Du bist eine kleine Närrin!« sagte er lachend und brach das Gespräch ab, das ihm bedenklich zu werden schien.
Er stieg die breiten steinernen Stufen, die zum Eingang führten, hinauf und zog an der Klingel. Gleich darauf wurde die Tür von einem Mädchen geöffnet, das die beiden in das Empfangszimmer führte.
Sie durchschritten den Hausflur und einen langen Gang, von dem zwei Ausgänge in einen schönen, großen Hof führten. Es war gerade Frühstückspause in der Schule, und überall sah man lachend und plaudernd große und kleine Mädchen umhergehen. Sie verstummten, als sie die neue Pensionärin erblickten, von der sie wußten, daß sie heute ankommen sollte, und alle Augen richteten sich auf Ilse, der es plötzlich höchst beklommen zumute wurde. Sie glaubte, verstecktes Kichern hinter sich zu hören, und war herzlich froh, als sich die Tür des Empfangszimmers hinter ihr schloß und sie mit dem Vater allein war.
Ilse blickte sich in dem großen, elegant eingerichteten Raum um, und mit einemmal stieg ein ängstlich-banges Gefühl wegen Bob in ihr auf. Fast wünschte sie, des Vaters Willen gefolgt zu sein. Nun wollte der Unartige auch noch hinunter auf den Boden, und diesen Wunsch konnte sie ihm doch unmöglich erfüllen. Wie durfte sie es wagen, das Tier auf den kostbaren Teppich zu setzen!
Die Tür öffnete sich, und Fräulein Raimar trat ein. Sie begrüßte Herrn Macket mit großer Liebenswürdigkeit, dann blickte sie mit ihren stahlgrauen Augen, die einen zwar strengen und ernsten, aber sehr gewinnenden Ausdruck zeigten, auf Ilse. Das Mädchen trat dicht an den Vater und ergriff seine Hand.
»Sei willkommen, mein Kind!« Mit diesen Worten begrüßte die Vorsteherin Ilse und reichte ihr die Hand. »Ich denke, du wirst dich bald bei uns heimisch fühlen.« Als sie den Hund sah, fragte sie: »Hat er dich begleitet?«
Ilse blickte hilfesuchend auf ihren Vater, der dann auch für sie das Wort nahm. »Sie mochte sich nicht von ihm trennen, Fräulein Raimar«, sagte er mit verlegenem Lächeln; »meine Tochter hoffte, Sie würden die Güte haben, ihren kleinen Kameraden mit ihr aufzunehmen.«
Das Fräulein lächelte. Es war das erstemal, daß ihr ein solches Anliegen zugemutet wurde. »Es tut mir leid, Herr Oberamtmann«, sagte sie, »daß ich den ersten Wunsch Ilses rücksichtslos abschlagen muß. Sie wird verständig sein und einsehen, daß ich nicht anders handeln kann. – Stell dir einmal vor, liebes Kind, wenn alle meine Pensionärinnen mit dem gleichen Wunsch kämen, dann wären bald zweiundzwanzig Hunde im Institut! Welch einen Lärm würde das geben! Möchtest du das Tier gern in deiner Nähe behalten, so wüßte ich einen Ausweg. Mein Bruder, der Bürgermeister hier, wird deinen Hund gewiß aufnehmen, wenn ich ihn darum bitte; dann kannst du deinen Liebling täglich sehen.«
Der Oberamtmann lachte. »Sie haben recht, Fräulein Raimar«, sagte er, »und wir hätten das selbst vorher bedenken können. Ihre große Güte, den Hund bei Ihrem Bruder unterzubringen, wird Ilse mit vielem Dank annehmen, nicht wahr?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf »Fremde Leute sollen Bob nicht haben, Papa; du nimmst ihn wieder mit nach Moosdorf!«
Herrn Macket setzte die taktlose Antwort seiner Tochter in nicht geringe Verlegenheit, aber Fräulein Raimar nahm geschickt die Führung