Wachtmeister Studer. Friedrich Glauser
Daß es so etwas noch gibt! Ich habe die ganze Zeit eingelenkt… Kann der Mann denn Gedanken lesen? Dumme Geschichte! Und wenn dieser Schlumpf unschuldig ist, dann gibt es womöglich einen Skandal, Leute geraten in Verdacht. Es wird doch besser sein, ich arbeite mit dem Kerl… Laut sagte er:
»Das hat ja alles keinen Sinn, Wachtmeister. Ich weiß nur wenig von der Sache. Und drohen? Warum fahren Sie gleich so schweres Geschütz auf? Hab‘ ich mich geweigert, Sie anzuhören? Sie sind ungeduldig, Herr Studer. Wir können doch ganz ruhig die Sache besprechen. Sie sind sehr empfindlich, Wachtmeister, scheint mir, aber Sie müssen denken, daß andere Leute manchmal auch Nerven haben…«
Der Untersuchungsrichter wartete, und während des Wartens starrte er auf die qualmende Brissago in Studers Hand…
»Ach so!« sagte Studer plötzlich. »Das also…« Er ging zum Fenster, stieß die Läden auf und warf die Brissago hinaus. »Ich hätt‘ daran denken sollen. Leute wie Sie… War das der Grund? Ich hab‘s gespürt, daß Sie etwas gegen mich haben, und gedacht, es sei wegen dem Schlumpf… Und dann war‘s nur die Brissago?« Studer lachte.
Komischer Mensch! dachte der Untersuchungsrichter. Versteht doch allerhand!… Der Brissagorauch! Kann so etwas eine feindliche Stimmung auslösen?… In diese Gedanken hinein sagte Studer:
»Merkwürdig. Manchmal ist es nur eine unbedeutende Angewohnheit, die uns bei einem Menschen auf die Nerven fällt: das Rauchen einer schlechten Zigarre zum Beispiel. Bei mir sind‘s die teuren Zigaretten mit Goldmundstück…« Und setzte sich wieder:
»So, so«, sagte der Untersuchungsrichter nur. Aber innerlich fühlte er allerhand Hochachtung für den Gedankenleser Studer. Und dann meinte er:
»Ich möchte jetzt den Schlumpf, Ihren Schützling, vorführen lassen. Wollen Sie dabei sein?«
»Doch. Gern. Aber vielleicht sind Sie so gut…«
»Ja, ja«, der Untersuchungsrichter lächelte, »ich werd‘ ihn schon so behandeln, daß er sich nicht wieder aufhängt, wenigstens vorläufig… Ich kann nämlich auch anders… Und ich will mit dem Staatsanwalt reden. Wenn eine weitere Untersuchung nötig sein sollte, fordern wir Sie an…«
Billard und alkoholismus chronicus
Studer stieß zu. Die weiße Kugel rollte über das grüne Tuch, klickte an die rote, traf die Bande und sauste haarscharf an der zweiten weißen Kugel vorbei.
Studer stellte die Queue auf den Boden, blinzelte und sagte ärgerlich:
»Bitzli z‘wenig Effet.«
Und gerade in diesem Augenblicke hörte er zum ersten Male die dröhnende Stimme, die er noch oft hören sollte.
Die Stimme sagte:
»Und glaub mir, in der Affäre Witschi ist auch nicht alles Bock; glaub mir nur, da stimmt etwas nicht… und das weißt du ja auch. Daß sie den Schlumpf geschnappt haben…« Mehr konnte Studer nicht verstehen. Die Stille, die einen Augenblick über dem Raum geschwebt hatte, zersprang, der Lärm der Gespräche setzte wieder ein. Studer drehte sich um und sah sich an dem Mann mit der merkwürdig dröhnenden Stimme fest.
Der war hochgewachsen, mit einem mageren, zerfurchten Gesicht. Er saß in einer Ecke des Cafés an einem Tischchen zusammen mit einem kleinen Dicken. Der Dicke nickte, nickte ununterbrochen, während der magere Alte den Ellbogen aufgestützt hatte und mit aufgerecktem Zeigefinger weitersprach. Die Lippen waren fast unsichtbar — dem Mann mußten alle Zähne fehlen. Jetzt senkte der Alte die Hand, hob das Glas zerstreut zum Mund, merkte plötzlich, daß es leer war: da zerbrach ein sehr sanftes Lächeln den harten Mund, so, wie einer lächelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.
»Rösi«, sagte er zur Kellnerin, die gerade vorbeikam, »Rösi, noch zwei Becher.«
»Ja, Herr Ellenberger.« Die rothaarige Kellnerin ließ sich die Hand tätscheln. Sie sah aus wie eine Katze, die gerne schnurren möchte, aber auf der Suche nach einem ruhigen Platz ist, wo sie dies ungestört tun kann.
» Du kommst…«, sagte Studers Spielpartner, der Notar Münch, der einen hohen steifen Kragen um seinen dicken Hals trug. Und während Studer mit verkniffenen Augen die Stellung der Kugeln prüfte, dachte er immerfort: Ellenberger? Ellenberger? Und redet von der Affäre Witschi? Und während er weiter dachte, ob es wohl dieser Ellenberger sei, Baumschulenbesitzer in Gerzenstein, Meister des Schlumpf, verfehlte er natürlich seinen Stoß. Er hatte nicht richtig eingekreidet, die Spitze der Queue sprang mit einem unangenehm hohen Gix von der Kugel ab.
Das Billardtuch, mit der sehr hellen, nach unten abgeblendeten Lampe darüber, warf einen grünen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der leise durch die Luft wogte, eine kuriose Farbe. Ein Lachen, das wie ein Krächzen klang, kam vom Tisch des alten Ellenberger, aber nicht der Alte hatte gelacht, sondern sein Begleiter, der kleine Dicke. Und in die Stille, die dem Lachen folgte, hörte Studer den alten Ellenberger sagen:
»Ja, der Witschi, der war nicht dumm. Aber der Aeschbacher. Ein zweitägiges Kalb ist minder…«
»Was ist los, Studer?« fragte der Notar Münch. Keine Antwort.
Die Affäre Witschi schien wirklich verhext zu sein.
Jetzt hatte Studer gemeint, sie diesen Abend wenigstens vergessen zu können.
Aber natürlich: da kam man ins Café zum Billardspielen und ausgerechnet mußte dieser Ellenberger auch hier hocken und laut über die Affäre Witschi reden. Dann war es natürlich mit der Ruhe vorbei…
Der Rücken des Ermordeten auf der Photographie… Der Rücken, auf dem keine Tannennadeln hafteten… Die Wunde im Hinterkopf… Die kuriosen Vornamen der Familienmitglieder… Wendelin hieß der Vater, die Tochter Sonja, der Sohn Armin. Vielleicht hieß die Mutter Anastasia?… Warum nicht?
Witschi… der Name klang wie Spatzengetschilp. Der Wendelin Witschi, der auf einem Zehnder den Commisvoyageur machte und in einem Wald erschossen aufgefunden wurde… Die Frau Witschi, die im Bahnhofkiosk hockte und Romane las…
Und während Studer auf seine Billardqueue gestützt, dem Spiele des Notars zusah, der heute abend in Form zu sein schien, hörte er wieder die angenehm dröhnende Stimme sagen:
»Was macht wohl unser Schlumpf? Was meinst, Cottereau? Haben sie ihn wohl geschnappt, die Tschucker?«
Das Wort ›Tschucker‹ gab Studer einen Ruck. Er war abgebrüht gegen den Spott, dem man als Fahnder ausgesetzt war. Einzig dieses verfluchte Wort mit dem unangenehmen ›U‹ machte ihn wild. Es klinge so vollgefressen, hatte er einmal zu seiner Frau geäußert. Und als er es jetzt aus des alten Ellenbergers Munde hörte, riß es ihn herum, und er starrte auf den Mann.
Er begegnete dem Blick eines Augenpaares, und dieser Blick war ungemütlich. Studer hielt ihn nicht lange aus. Merkwürdige Augen hatte der Ellenberger: kalt wirkten sie, die Pupillen waren fast schlitzförmig, wie bei einer Katze. Und die Iris blaugrün, sehr hell.
»Revanche?« fragte der Notar Münch. Er hatte stillschweigend eine Serie gemacht und war jetzt fertig.
Studer schüttelte den Kopf.
»Kennst du den dort drüben?« fragte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter. Der Notar Münch schraubte seinen Kopf aus dem hohen Kragen. »Den Alten dort? Den, der mit dem Dicken zusammenhockt? Denk wohl!… Das ist der Ellenberger. Er war heut‘ bei mir. Wegen einem gewissen Witschi… Eh, du hast doch von den Leuten gehört. Der Witschi, der vor ein paar Tagen umgebracht worden ist. Der war dem Ellenberger Geld schuldig… Den Witschi hab‘ ich auch einmal gesehen…«
Der Notar Münch schwieg und machte mit seiner rechten Hand, die wie eine Flosse aussah, beschwichtigende Bewegungen. Und als Studer sich umwandte, gewahrte er den alten Ellenberger, der dem Notar winkte, näherzukommen.
Münch ging quer durch den Raum. Drüben, am runden Tischchen, schüttelte er dem alten Ellenberger die Hand und winkte dann Studer näherzukommen. Der Wachtmeister wurde vorgestellt, es erwies sich, daß Ellenberger und Studer sich vom Hörensagen kannten. Übrigens war Ellenbergers