Münchhausen. Karl Immermann
gefallen, wenn ihn nicht der alte Baron am Rockzipfel gehalten hätte. So aber kam er doch wieder glücklich auf seinen Füßen zu stehen, und wurde vorläufig in das Wohnzimmer geführt, bis seine Appartements instandgesetzt waren. Diese Einrichtung besorgte der Schulmeister, da mit dem Fräulein nichts anzufangen war. Sie saß verklärten Blicks in einer Ecke des Zimmers, sah vor sich hin, und ihre Gedanken schienen abwesend zu sein. Als der Vater zu ihr sagte: »Renzel, (so nannte er sie, wenn er besonders guter Laune war) wo kriegen wir den Nachttisch her für den Fremden?« versetzte sie: »O Vater, es wird Tag!« und als er sie bat, die Bettung des Gastes zu besorgen, blickte sie ihm starr in das Antlitz und verstand ihn nicht. Der Schulmeister, welcher unter sotanen Umständen sich zum Haushofmeister anerbot, bewies dagegen eine nicht geringe Anstelligkeit. Er war während seines Dienstes zu Hackelpfiffelsberg sich Knecht und Magd gewesen, und hatte dadurch die genauste Kenntnis aller kleinen häuslichen Geschäfte erworben. — Flink räumte er von der Vorratskammer, die der Schloßherr zum Gastzimmer bestimmt hatte, weil sie das einzige Gelaß war, welches noch Fenstern hatte, die getrockneten Äpfel, die Bohnen und Erbsen hinweg, welche für den Winterbedarf dort aufgeschüttet lagen, sorgte für das Haupt des Fremden, indem er die lose Gipsbekleidung der Decke mit einer Stange abstieß, fegte den Estrich rein, verjagte die Spinnen aus ihren luftigen Schlössern, nahm aus den Betten der Schloßbewohner die noch einigermaßen entbehrlichen Stücke, stellte verschiedene Holzfragmente mittelst Säge, Hammer und Nägel zu einer Art von Sponde zusammen, und wußte selbst noch einen erträglichen Tisch und Stuhl für den Freiherrn aufzutreiben.
Nach vollbrachtem Werke ging er hinunter und fand den alten Baron um zehn Jahre verjüngt. Münchhausen hatte ihm die Wirtschaft der Infusionstiere mit so reizenden Farben geschildert, daß sein Zuhörer in Entzückung geraten war, er hatte ihm ganze Idyllen, Epen und Tragödien vorgetragen, die sich in jedem Wassertropfen seiner Versicherung nach ereigneten. Als der Schulmeister nun einige Augenblicke mit Münchhausen allein gelassen wurde, gab ihm dieser auf Verlangen sein Wort, daß er unfern von Buxtehude in einem Bauerndorfe die deutlichsten Spuren spartanischer Sitte und Abkunft angetroffen habe, indem die Leute dort nichts von den Wissenschaften hielten und von Schmutz starrten. Der Schulmeister ging höchst befriedigt von dannen, um seine schwarze Suppe zu verzehren, und überließ Emerentien den Freiherrn.
Nach einer Pause, die so feierlich war, als diejenige zu sein pflegt, welche die Komödianten vor der großen Szene machen, in welcher die Liebe dadurch über die Kabale siegt, daß Ferdinand seiner Louise Rattenpulver in Limonade eingibt, nach einer Pause, lang und lastend, wie die vorstehende Periode, sagte das Fräulein schüchtern zum Freiherrn: »Herr von Münchhausen, Sie treten wie ein mythisches Produkt unsrer Zustände mit innerer Notwendigkeit in die Burg meiner Väter. Schon haben Sie sich selbst in Ihrer Gartenrede als einen durch beziehungsvolle Beziehungen mit unsern Wünschen und Aussichten Verknüpften empfunden. Verargen Sie es daher der schüchternen Jungfrau nicht, wenn sie, die Gesetze der Zurückhaltung, welche sonst meinem Geschlechte eignen, brechend, Sie herzlich und dringend fragt: Gibt es noch Laufer?«
»Ja, meine Gnädige«, erwiderte der Freiherr mit ernster Rührung; »es gibt allerdings noch Laufer.«
»Pflegen sich wohl Fürsten dergleichen Laufer zu halten?« fragte das Fräulein, indem sie eine Träne im rechten Auge zerdrückte.
»Nur ein Fürst ist dessen fähig!« rief Münchhausen, und führte das Taschentuch an sein linkes weinendes Auge.
»Und nun die letzte Frage an Ihr schönes Herz, edler Mann, eine Frage, in der Sie meine Seele empfangen: Trägt ein Laufer, wo er erscheint, Blumenhut und Schurz?«
»Blumenhut und Schurz bleiben die Zeichen eines Laufers bis an das Ende der Tage«, sprach der Freiherr erhaben, und streckte, wie schwörend, den Daumen und die beiden ersten Finger der rechten Hand empor.
»Ich danke Ihnen für diese Stunde«, sagte das Fräulein. »Mein Leben beginnt wieder seine Schwingen zu regen. Das Schicksal gibt mir ein Zeichen; auf die Lippen der Unschuld, auf die Lippen Ihres Karl legte es sein bedeutendes Wort, wundersamen Tönen meines Tiefinnersten entsprechend, Schätzen des Busens, die sich eben leuchtend dem Dunkel entrungen hatten. Sie aber, hoher Meister, legten zart und weise die süße Fabel als schlichte, treue Wahrheit aus. O ich wußte wohl, daß ich hier verstanden werden würde!«
»Durchaus verstanden!« rief Münchhausen.
In diesem Augenblicke trat der alte Baron, der inzwischen die Einrichtung der Gaststube besichtigt hatte, wieder in das Zimmer, und lud Münchhausen ein, ihm dahin zu folgen, damit er es sich vor der Hand etwas bequem machen könne.
Emerentia sagte, als sie allein war: »Er ist erschienen, der mich ohne Wort versteht; der Himmel hält uns die Verheißungen, die er uns in der Sehnsucht gibt! Bald, bald wird nun auch Rucciopuccio kommen, der Fürst von Hechelkram, seine Freundin im reinsten Sinne des Worts abzuholen.«
Neuntes Kapitel
In den nächsten Tagen nach der Ankunft des Fremden ging das schwärmende Entzücken der Schloßbewohner über den wunderbaren Mann in den ruhigeren, aber um so festeren Glauben über, daß in ihm der vom Verhängnis bestimmte Heiland ihrer Wünsche erschienen sei. Denn der alte Baron merkte schon am ersten Abende, an welchem er Münchhausens Unterhaltung genoß, daß mit den Kenntnissen, Erfahrungen, Schicksalen, Blicken, Ideen und Hypothesen seines Gastes niemand zwischen Himmel und Erde sich zu messen vermöge. Er war, seinen Erzählungen zufolge, fast in allen bekannten und unbekannten Gegenden der Erde gewesen, hatte sämtliche Künste und Wissenschaften getrieben, zu Weinsberg Blicke in das Geisterreich getan, war durch alle Lagen des Lebens abwechselnd als Küchenjunge, Krieger, Staatsmann, Naturforscher und Maschinenbauer gegangen. Selbst in außermenschliche Regionen war sein Lebenslos geworfen worden; er ließ nach den ersten Stunden der Bekanntschaft merken, daß er einen Teil seiner Tage unter dem Vieh zugebracht habe.
Der alte Baron hatte hauptsächlich die Abendstunden, in welchen die Gesellschaft sich im Wohnzimmer zu versammeln pflegte, und bei dem Scheine einer Kerze auf den hölzernen Schemeln um den kiefernen Tisch saß, sich zu Mitteilungen erbeten. Für die Gartenpromenaden war von ihm ein noch strengeres Silentium festgesetzt worden, als früherhin, »denn«, sagte er, »man muß den Tag zum Nachdenken frei behalten, darüber, was Münchhausen am Abend erzählt; des Stoffes wird sonst zuviel, und wir werden alle drehend, wie die Schafe, von der Weisheit dieses Mannes.« — Aus dem Journalzirkel trat er nun wieder aus; in seinem Gaste besaß er jetzt mehr, als ihm eine Zeitschrift bieten konnte, der Geist aller Journale erschien in Münchhausen verkörpert. Immer ging der wunderbare Mann bei seinen Erzählungen von etwas Bekanntem und Verbürgtem aus, erhob sich aber von dieser Grundfläche zu den kühnsten und abenteuerlichsten Schwüngen, so daß man wohl sagen konnte, er stelle recht eigentlich in seiner Person den gewaltigen Fortschritt unserer Zeit dar.
Freilich blieb die Empfindung des Schloßherrn nicht ganz ohne eine hin und wieder hervortretende entgegengesetzte Beimischung. Münchhausen redete auch viel von Literatur und Poesie, und konnte bei solchen Gesprächen leicht satirisch werden. Der alte Baron hatte aber an diesen Gegenständen kein Interesse, und haßte die Satire; weshalb er denn auch derartigen Konversationen sich nur mit einem gewissen Unbehagen hingab. Wirklich verletzt aber fühlte er sich, wenn Münchhausen, wie er nicht selten tat, seine Meinung äußerte, alle Menschen seien gleich geboren, und nur der Wahn, der aber für immer ab und tot sei, habe den einen durch seine Geburt zu Vorzügen bestimmt ausgeben können, die nicht auch das Eigentum aller seiner Mitbrüder gewesen seien.
Mit dem Fräulein gestaltete sich das Verhältnis des Gastes bald gründlich und tief in das zarte Verstehen ohne Worte aus, welches unsere sinnigen und hochstehenden Frauen so sehr lieben. Wenn sie ihm zuflüsterte, ein unaussprechliches Etwas durchwoge sie, so versicherte er, daß er sie vollkommen begreife; und konnte sie für den Drang ihrer Empfindungen nur Vordersätze ohne Nachsätze finden, so ließ er sie ahnen, daß letztere in seiner verschwiegenen Seele ausgesprochen ruhten. Daneben erquickten sie die glänzenden Schilderungen, welche er von fremden Gegenden gab, im Grunde ihres Herzens, und bis zur Schwärmerei