Am Jenseits. Karl May

Am Jenseits - Karl May


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darf. Ihre Physiographie ist bekannter als die bisher noch kaum gewürdigte Bedeutung, welche sie als Erzieherin des sie betretenden oder ihre Wahat (Oasen) bewohnenden Menschen besitzt. Wie die Prärie ein nur ihr eigenartiges Leben und die nur auf ihr möglichen Gestalten entwickelt, so hat auch die Wüste ihre besonderen Pflanzen-, Tier-, Menschen— und überhaupt Lebensformen, welche man in anderen Gegenden vergeblich suchen würde. Damit würde Freiligrath, wenn er es mit seinem ,.Wüstenkönig ist der Löwe« ernstgemeint hätte, allerdings nicht einverstanden sein, denn »der Löwe kommt auch in anderen Gegenden als nur in der Wüste vor«, würde er sagen; aber ich habe trotzdem recht, denn wenn der Löwe wirklich einmal in der Wüste vorkommt, so ist es doch nur am Rande derselben, und er hat sich verlaufen. Er braucht als Fleischfresser viel Wasser und ist also nichts weniger als ein Wüstentier, wie ja auch die Giraffe, auf welcher er seinen berühmten »Löwenritt« ausführt, es in der Wüste nicht viel länger als einen Tag aushalten würde.

      Der Mensch hat die Gabe, sich den Naturverhältnissen des von ihm zum Aufenthalte gewählten Landes anzubequemen; er wird je länger desto mehr ein Sohn desselben, indem er die Eigenart des Bodens annimmt, der seine Wohnung trägt, mag diese nun eine festgegründete oder ambulante sein. So auch der Wüstenbewohner. Ich gestatte mir nämlich dieses eigentlich grundfalsche Wort, weil es sich nun einmal eingebürgert hat. Die Wüste ist ja unbewohnt, und, wenn sie von Karawanenpfaden durchzogen wird, kann doch nur von Wanderern, nicht aber von Bewohnern gesprochen werden.

      Die Wüste liegt weit und flehend ausgebreitet wie ein endloses Gebet zu Gott um Gnade und Barmherzigkeit. Sie ist ein tief ergreifendes Bild irdischer Armut und Hilflosigkeit. Sonnendurchglüht, kahl und nackt ragen ihre Felsen empor, oft grotesk, phantastisch geformt, oft kühn vereinzelt, oft zu gemeinschaftlichen, wilden Zügen vereint, bald in seltsamen Gliederungen aufgebaut, so daß man zerfallene Städte, verödete Schlösser und Burgen oder prächtige Säulenhallen in der Ferne zu erblicken meint, bald wieder wie von der Faust eines unerbittlichen Schicksales niedergeschmettert, breitgedrückt, zerrissen und zerklüftet, von gähnenden Abgründen durchzogen, in deren Tiefe selbst die Glut der äquatorialen Sonne nicht zu dringen vermag. Gleicht dieses Bild nicht ganz genau der Geschichte dieses scheinbar, aber eben auch nur scheinbar von Gott verlassenen Landes?

      Diesen oft gen Himmel ragenden Reliefs folgt das Warr, jene von zerstampften, wild durcheinander geworfenen Felsenmassen bedeckte Wüste, welche das Aussehen hat, als ob der Teufel im Zorne über seine Verstoßung hier eine ganze Weit zerschmettert und dann die Trümmerbrocken umhergewirbelt habe. In allen Größen liegen sie da, diese Steinblöcke, hier nur einer, nur zwei oder drei, dort hoch aufeinander getürmt, als ob der Böse dann »Markenumgang« in seinem Innern gehalten und jede einzelne Sünde, jedes einzelne Laster desselben mit einem aus zermalmten Bergen bestehenden Schandmale bezeichnet habe. Rundum bis an den Horizont, so weit das Auge reicht, sind diese Zeichen zu sehen, und je weiter er sich dehnt, desto größer wird ihre Menge. Zwischen ihnen liegen die Felsenbrocken gesäet wie unzählbare Körner von tausend Höllenfrüchten, die in der Wüstensonne nachreifen und sich schwärzen sollen. Den einsamen Wanderer durchschauert es trotz der glühenden Hitze; er treibt sein Kamel an, um schnell weiter zu kommen, und ruft: »Allah beschütze und behüte mich!«

      Dann kommt die Wüste, in weicher der Sand sich mit dem Wasser vermählt. Dort im Westen, Tagereisen weit von hier, liegt die glatte Ebene des Sandes. Der stets vorherrschende Westwind streicht über sie und nimmt die feinsten, leichtesten Körnchen mit, um sie an jedem festeren Punkte, an jeder noch so kleinen Erhöhung abzusetzen. Die Erhöhung wird größer; sie wächst von Tag zu Tag. Der West baut höher auf, und die mit der Sonne gehenden Nebenwinde helfen ihm. Der von ihm getriebene Sand wird bis zur Spitze gehoben, und was nicht da liegen bleibt, fällt jenseits herab. Das gibt ein leises, süßes, metallisches Klingen und Tönen. »Die Engel flüstern«, sagt der Beduine, wenn er, halb schlafend und halb wachend, es während der Nacht hört. Das ist die Wüste der Sandhügel. Die feinen, klingenden Körner wandern weiter und immer weiter; sie erreichen das Warr; sie füllen seine Löcher und Vertiefungen, seine Zwischenräume aus; sie steigen an seinen Trümmern empor und hüllen sie, die harten, mit weichem Mantel ein, geben seinen scharfen Linien Milderung und verwandeln die rohen Trümmerhaufen nach und nach in sanfte Hügelwellen: Die flüsternden Engel decken das Teufelswerk in liebevoller, nie ruhender Arbeit zu.

      Und weit, weit draußen endlich dehnt sich die von keiner Erhöhung unterbrochene, ewig gleiche Sahar, die Wüste des toten Sandes. Die Tageshitze liegt in sichtbarer Verdichtung manneshoch auf ihr; der Himmel zieht sich wie flüssiges Blei darüber hin und scheint sich am Horizonte mit einem Meere von glühendem Erze zu vereinigen; eine Grenzlinie zwischen beiden gibt es tagelang nicht. Das Auge brennt, der Sehnerv versagt ermüdet seine Tätigkeit, denn der sehnsüchtige Blick findet keinen Punkt, an dem er ruhen könnte. Der Sinn für die Entfernung geht verloren; man glaubt, inmitten einer halt— und gestaltlosen Ewigkeit zu reiten, und verliert in ihr den eigenen Halt. Die Tatkraft schwindet; der Wille wird verzehrt; die Schärfe der Sinne nimmt ab, und an die Stelle fehlender Wahrnehmungen treten Haluzinationen, welche das, was man wünscht, vortäuscht und vorgaukeln. Darum ist diese Wüste das eigentliche Gebiet der Fata morgana, wie sie auch den Hauptbereich der verderblichen Sandstürme bildet, denen schon mancher einzelne Wanderer und manche vollzählige Karawane zum Opfer gefallen ist. Weiches Entzücken dann der Anblick einer wirklichen, nicht vorgespiegelten Oase hervorbringt, das zu beschreiben, fehlen die Worte!

      Und genau so, wie die Wüste ist, ist auch ihr Bewohner. In seinem Innern wohnt dieselbe Glut, unter welcher die Gebilde seiner Seele zu seltsamen, oft ungeheuerlichen, oft zauberischen, zuweilen auch wohl anmutigen Formen erstarren. Hilflos, hungrig und dürstend wie das steile Warr und der brennende Sand breitet sich sein Leben vom ersten bis zum letzten Tage dem Himmel entgegen, stets der Barmherzigkeit Allahs gewärtig. Daher seine tiefe Religiosität, deren äußerer Eindruck aber an tote, ermüdende Formeln gebunden ist. Die unerbittliche Strenge der Wüste macht ihn äußerlich ernst und innerlich hart; wie sie grausam ist gegen ihn, so ist auch er rücksichtslos gegen andere, ihm nicht nahestehende Wesen. Genau so unbeugsam, wie ihre Gesetze sind, besteht auch er auf der Unfehlbarkeit seiner Meinungen und auf der Überlegenheit seines Willens. Ihre Temperaturunterschiede sprechen sich in seinen Regungen aus; was ihn am Tage begeisterte, kann er am Abende schon kalt und verächtlich von sich werfen. Das Weib, welches er jetzt glühend liebt, kann er schon nach einigen Stunden durch die gesetzlich gültige Formel »Du bist geschieden« von sich jagen. Liebe, besonders Nächstenliebe, die zweite große Forderung der Christuslehre, kennt er überhaupt nicht, wie ja auch die Wüste nichts weniger als liebreich gegen ihn ist. Wie sie nichts gibt, sondern nur Opfer fordert, so ist auch er nur Egoist und will sogar den Himmel für sich allein haben. Hat sie den ganzen Tag gedürstet, so saugt sie den Tau der Nacht bis auf den letzten Tropfen auf; in derselben Weise unterwirft auch er sich geduldig allen Entbehrungen, um sich dann dem Genusse ohne Maß und Selbstbeherrschung zu ergeben. Da sein ganzes inneres Leben ein, nur von einigen Brunnen unterbrochenes, Wandern durch die Öde ist, schmückt er sich das Jenseits in den glühendsten Farben als paradiesische Oase aus, wo er ununterbrochen in Freuden schwelgt, von denen ihm das irdische Leben nur zuweilen einen leisen, kurzen Vorgeschmack bietet. Wie seine Leiden und Entbehrungen materielle sind, so sind auch die Ziele seiner Wünsche und Bestrebungen meist materieller Art; der Wüstensohn hat kein Gemüt; darum kann er sich weder ein irdisches Glück noch seine einstige Seligkeit rein herzlich denken. Der Boden seiner Seele gleicht der Felsen, der Trümmer und der Tiefsandwüste. Seltsam, verworren, abenteuerlich steigt es, oft mit elementarer Gewalt, von da unten auf; der heiße Samum (Wüstenwind) fegt darüber hin und wirbelt tödliche, wie von höllischem Feuer gefärbte Sandwolken vor sich her. Aber wie die Wüste ist auch diese Seele nicht ohne Tau, und wie sich unter der Wüstendecke genug befruchtendes Wasser befindet, nach weichem man nur zu bohren braucht, um es klar und heil hervorsprudeln zu sehen, so sind auch ihr die geistigen Vorbedingungen der wirtschaftlichen, ethischen und religiösen Gesittung nicht versagt. Wo aber sind die rechten Pioniere, welche den wirklichen, echten, selbstlosen Beruf in sich tragen, nach diesem Wasser zu bohren? Wer hier durch artesische Brunnen helfen will, der darf dies nicht von der Berechnung abhängig machen, zu welchem Prozentsatze sich das dabei angelegte Kapital verzinsen wird, auch muß er zunächst auf diejenige religiöse Aggressivität verzichten, weiche dort den sofortigen, fanatischesten Widerstand hervorrufen und alles verderben, wenigstens das Gelingen auf unabsehbare


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