Ardistan und Dschirnistan I. Karl May
nicht mehr Tausende vergehen!«
»Im Abendlande regt es sich bereits,« fiel ich ein. »Die edelsten der Männer und der Frauen vereinigen sich, ihm freie Bahn zu brechen.«
»Freie Bahn?« fragte Marah Durimeh. »Im Abendlande? Ich weiß, ich weiß! Aber was können die Vorschläge selbst der edelsten Menschen fruchten, wenn man die großen, die deutlichen, die riesenhaft in die Augen fallenden Winke nicht beachtet, welche das Leben selbst erteilt? Und wenn sich hundert Kaiserinnen und tausend Königinnen vereinen, um ihre Stimmen für den sogenannten ewigen Frieden zu erheben, was wäre der Chor dieser Stimmen gegen den fürchterlichen, ununterbrochenen Schrei des Blutes, welches von Anfang an bis heute vergossen worden ist, ohne daß auch nur ein einziges Jahr erschien, von dem man sagen könnte, daß es Friede auf Erden gab.«
»Die Herrscher und Fürsten beschicken Friedenskonferenzen,« sagte ich, »auf denen – —«
»Auf denen man den Krieg, nicht aber den Frieden organisiert!« unterbrach mich Marah Durimeh.
»Man humanisiert den Krieg!«
»Das heißt, man tötet schneller und schmerzloser, aber – man tötet! Ich sage Dir, mein Freund, der stolze Krieg steigt nie zum Frieden herab, um ihm die Hand zu reichen, sondern der Friede muß zu ihm empor, um ihn, der ewig widerstreben wird, herabzuschmettern. Hat der Krieg eine eiserne Hand, so habe der Friede eine stählerne Faust! Nur die Macht imponiert, die wirkliche Macht. Will der Friede imponieren, so suche er nach Macht, so sammle er Macht, so schaffe er sich Macht. Du siehst, daß der Friede niemals wirklich Friede sein kann. Er ist es nur so lange, als er die Macht besitzt, es zu sein. Er hat stets auf Vorposten zu stehen. Sobald er sich beschleichen und überfallen läßt, tritt der Feind an seine Stelle. Alle Rüstung der Erde und alle Rüstung ihrer Völker war bisher auf den Krieg gerichtet. Als ob es unmöglich wäre, in eben derselben und noch viel nachdrücklicherer Weise auf den Frieden zu rüsten! Begreifst, Du was ich meine?«
»Ich verstehe Dich,« antwortete ich. »Krieg oder Friede. Wer von beiden die größere Macht besitzt, der wird herrschen. Woher aber bezieht der Krieg seine Macht?«
»Das wirst Du in Ardistan sehen.«
»Und woher der Friede die seinige?«
»Das sollst Du in Dschinnistan erfahren. Heute, in diesem Augenblicke, ist nicht die Zeit, über diese Fragen viele Worte zu machen. Worte tun es überhaupt nicht, sondern Taten müssen geschehen. Ihr habt Kriegswissenschaften, theoretische und praktische. Und ihr habt Friedenswissenschaften, theoretische, aber keine praktischen. Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch, Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt Ihr Eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Milliarden einbringen würden? Wo sind Eure Friedensfestungen, Eure Friedensmarschälle, Eure Friedensstrategen, Eure Friedensoffiziere? Mehr Fragen will ich jetzt nicht fragen. Denn alle, alle diese Fragen werden sich in Ardistan vor Dir erheben, und die Antworten werden Dir in Dschinnistan erscheinen, doch nur dann, wenn Du die Augen offenhältst. Dein Ritt nach diesen beiden Ländern ist ein Studien-und Übungsritt, und was Du Dir da geistig aneignest, das betrachte als meinen Dank für die Bereitwilligkeit, mit der Du meinen Auftrag übernimmst. Diese beiden Länder werden Dir ein ziemlich treues Bild der Erde bieten, der Erde, ihrer Bewohner und aller möglichen Verhältnisse, in denen die Völker zueinander stehen. Und wenn Dir da Rätsel begegnen, die Du nicht lösen kannst, so denke an das Bild, welches ich Dir jetzt entwerfe.«
Sie machte eine langsame, andeutende Armbewegung nach dem Osten und fuhr dann fort:
»Da hinten ist die gelbe Rasse aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Sie regt nur erst die Glieder. Sie beginnt erst frei zu atmen. Wehe, wenn sie, ihre Kräfte fühlend, vom Lager aufspringt, um zu zeigen, daß sie genau so wie andere berechtigt ist, zu leben!«
Hierauf machte sie eine Armbewegung nach dem Westen und sprach weiter:
»Da drüben liegt Amerika, das Ihr so falsch als >Neue Welt< bezeichnet. Dort lebt der rote Mann, von dem Ihr meint, daß er dem Untergang gewidmet sei. Ihr irrt. Dieser rote Mann stirbt nicht. Kein Portugiese, kein Spanier, kein Englischmann, kein Yankee hat die Macht, ihn auszurotten. Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben beide das, was wohl kein anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen. Der sogenannte >sterbende< Indianer wird wieder aufstehen. Es gibt ein übermächtiges, weltgeschichtliches Gesetz, welches befiehlt, daß der mit dem Schwert Besiegte mit dem Spaten dann der Sieger sei. Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken. Sie wird sich aller Ideale und aller geistigen Triebkräfte des Abendlandes bemächtigen, und wehe dem alten Europa, wenn es dem nichts anderes entgegenzusetzen hat, als nur die alten Vorurteile, die alte Selbstüberhebung, die alten Kultursünden und – — die alten Kanonen! Denn auch der Orient beginnt schon, sich zu regen. Er streckt die Glieder; er prüft die Muskeln, die Gelenke. Er glaubt, was Japan konnte, das könne er auch! Der Riese Islam, dessen mächtige Gestalt auf europäischer, asiatischer und afrikanischer Erde ruht, fürchtet sich nicht vor der scheinbaren Übermacht des Abendlandes. Das Kismet, an welches er glaubt, ist unwiderstehlich im Angriff und von unendlicher Ausdauer. Es wiegt die Übermacht der europäischen Waffen auf. Gebt dem Morgenlande gute Führer, so wird es siegen. Und siegt es nicht, so wird sein Untergang zugleich der Eure sein. Die gelbe Rasse wird sich dann mit der germanisch-indianischen in die Herrschaft über die Erde teilen. Und warum? Weil das Abendland nicht groß, gerecht und edel genug war, seine angeblichen >Interessensphären< einer humanen Nachprüfung zu unterwerfen und sich mit dem Morgenlande auszusöhnen!«
»Sich mit dem Morgenlande auszusöhnen?« fragte ich. »Das ist falsch. Es muß heißen, das Morgenland mit sich auszusöhnen, denn nicht das Abend-sondern das Morgenland ist der beleidigte, der schwer gekränkte, der unterdrückte Teil. Fast alles, was das Abendland besitzt, hat es vom Morgenlande. Seine Religion, seine Kraft, seine Wissenschaft, seine ganze Bildung und Gesittung, seine Cerealien, seine Früchte. Den ganzen Grund und Boden seines äußeren und inneren Lebens. Und was es nicht unmittelbar von ihm hat, dazu ist doch wenigstens der Anstoß von ihm ausgegangen. Wie unendlich groß ist der Dank, den wir ihm schuldig sind! Und wie haben wir ihm gelohnt? Wie und womit?«
»Du fragst sehr richtig, sehr richtig!« antwortete Schakara. »Wie habt Ihr uns gelohnt, und womit? Nachdem wir Euch alles gaben, was wir besaßen, nur unsere Erde nicht, denn die gehört nicht uns, sondern Gott, kommt Ihr mit allerlei Listen und Waffen, uns auch noch diese wegzunehmen! Hätte Euch der Orient weiter nichts, weiter gar nichts, als nur das eine, einzige Wort gegeben, >Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm<, so könntet Ihr ihm diese eine Gabe nicht mit allen Sonnen, Monden und Sternen belohnen, soviele ihrer auch am Himmel stehen; Ihr aber habt nicht nur hierfür, sondern überhaupt für alles, was Ihr bekamt, keine einzige Tat des Dankes, sondern nur Blut und Krieg und Neid und Haß gegeben.«
»Wenn Du das im Abendlande sagtest, würde man darüber lachen, o Schakara,« warf ich ihr zu. »Man behauptet dort das gerade Gegenteil von dem, was Du behauptest. Man glaubt, dem Morgenlande Wohltat über Wohltat zu erweisen, indem man sich in seine Wohnung drängt – — —«
»Um ihm die Liebe aufzudringen, die es nicht mag, weil sie die falsche ist,« fiel Marah Durimeh ein. »Ich spreche nicht von der Mission, ich spreche von der Nächstenliebe der europäischen Politik. Man zeige mir ein Herz, welches durch sie gewonnen worden wäre! Es gibt keines, kein einziges! Und doch ist es die größte, die wichtigste, ja die heiligste Aufgabe des Abendlandes, das Herz des Orients zu gewinnen, wenn es zukünftige Kämpfe vermeiden will, aus denen es wohl kaum als Sieger hervorzugehen vermag. Und nicht nur nach der Liebe des Orients hat es zu trachten, sondern auch nach seiner Achtung, seinem Vertrauen!«
»Aber wie?« erkundigte ich mich.
»Das fragst Du, der Du doch schon längst auf dem rechten Wege bist, Dir alles dieses zu gewinnen? In allen Büchern, die Du schreibst, lehrst Du die Liebe zu dem Morgenlande! Aus allen Deinen Schriften lächelt die Seele