Ardistan und Dschirnistan I. Karl May
einzelner Mensch, und es müßten außer Dir und denen, die Dich lesen, noch viele, viele Tausende kommen, um in demselben Sinne zu wirken und zu leben. Man schicke, so wie Du, die deutsche Kunst ins Morgenland! Da lernt man es am besten kennen und lieben. Man sende auch die Wissenschaft, doch nicht nur, um in Babylon nach alten Steinen zu graben, sondern um überhaupt nach dem ruhenden Geist des Orients zu suchen. Die Wege, welche vom Abendlande zum Morgenlande führen, sollen nicht mehr Wege des Krieges, sondern Pfade des Friedens sein! Laßt Waffen-und Soldatentransporte verschwinden! Der Handel blühe! Die Wohlfahrt eile freudig hin und her, um Zwiste auszugleichen, Schäden zu heilen und Segen zu verbreiten! Dann wird der Mensch des Menschen würdig sein. Und wenn die große, schwere Stunde kommt, in der im fernen Westen wie im fernen Osten die Schicksalsfrage: ob Krieg oder Friede klingt, dann werden beide, der Orient und das Abendland, als unüberwindliche, weltgebietende Freunde beieinander stehen und die Völker der Erde zwingen, ihre Schwerter verrosten zu lassen!«
»Wann wird das sein?« fragte ich »Wie bald, wie spät?«
»Geh nach Dschinnistan; dort wird die Stunde schlagen,« antwortete sie. »Jetzt bin ich mit der Vorrede zu Ende, und das Werk kann nun beginnen. Ich führe Dich zur Bibliothek, um Dir die Karten und sonstigen Quellen zu zeigen, aus denen Du Dir Vorbereitung holst.«
Wir verließen den Söller und gingen zur Bücherei. Während ich da in den vorhandenen Werken nachschlug, um mich für die geplante Reise zu orientieren, gab Marah Durimeh den Befehl, »Wilahde«, das Segelschiff, für morgen klar zu machen. Später brachte sie mir den heute von Dschinnistan zurückgekehrten Boten, mit dem es eine längere Besprechung gab, die mir für späterhin von großem Nutzen war. Dann, gegen Mitternacht, war ich allein und ging, wie ich es täglich tat, bevor ich mich niederlegte, noch einmal hinunter zu den Pferden. Sie waren das so gewohnt, daß sie gewiß nicht eingeschlafen wären, wenn ich es einmal vergessen hätte, ihnen diesen Besuch zu machen.
Sie waren nicht allein. Halef befand sich bei ihnen. Er saß im Grase. Ich grüßte ihn; er antwortete nicht. Ich grüßte abermals; er schwieg noch immer. Ich grüßte zum dritten Male; auch da war er still. Da sagte ich:
»Gute Nacht, Halef!« und tat, als wollte ich gehen. Das wirkte. Er rief sehr schnell:
»Gute Nacht, Sihdi! Aber denke ja nicht etwa, daß Du mich hierdurch zum Sprechen bringst! Ich schweige!«
»Warum?«
»Weil ich schmolle.«
»Mit wem?«
»Mit Dir! Oder meinst Du mit den Pferden? Die besitzen mehr Bildung des Herzens und bessere Formen des persönlichen Umganges als Du! Wärst Du mein Weib, so würde ich dreimal zu Dir sagen >Wir sind geschieden!< Dann müßtest Du meinen Harem verlassen und könntest meinetwegen bei jedem anderen Manne unterkommen, aber ja nicht wieder bei mir!«
»So schlimm steht es?«
»Ja, sehr, sehr schlimm! Ich rede nicht mehr mit Dir!«
»Aber ich höre doch, daß Du sprichst!«
»Ich rede nicht für Dich, sondern nur für mich, weil Du sonst gleich wieder davonläufst und ich dann gar nichts erfahre! Oder soll ich gar nichts wissen und gar nichts hören und gar nichts erfahren? Ganz und gar nichts mehr?«
Er sprang aus dem Grase auf, trat nahe an mich heran und fuhr fort:
»Sihdi, Du weißt, wie ich Dich liebe. Ich stelle Dich dreimal, fünfmal, ja zehnmal höher als das schönste Reitkamel vom Stamme der Bischaren. Meine Achtung für Dich reicht höher, als der allerlängste Pfahl meines Zeltes. Und meine Treue zu Dir ist grenzenloser als ein Krug, der keinen Boden hat. Ich bin mit Dir geritten, gelaufen und gefahren durch alle Länder, die auf Erden sind, nur einige wenige abgerechnet, die nicht in der Nähe lagen. Ich habe mit Dir gehungert und gedürstet, gefroren und geschwitzt. Ich habe Dich geärgert, und Du hast mich geärgert. Dadurch sind unsere Seelen eng miteinander verbunden, fast noch enger als zwei Maultiere, denen man eine Sänfte aufgeladen hat. Und diesen schönen Bund der Herzen willst Du zerreißen, willst Du entzweien, willst Du behandeln wie eine kurdische Hose, deren zwei Beine Du vom Bauche bis zum Rücken mitten auseinanderschneidest! Was habe ich Dir getan, daß Du von unserer unendlichen Zusammengehörigkeit so plötzlich nichts mehr wissen willst? Ich fordere Antwort, sofortige Antwort. Du kannst sie mir nicht verweigern. Du hast keinen gewöhnlichen Mann vor Dir. Ich bin Hadschi Halef Omar, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen, berühmten Stamme der Schammar. Weißt Du das?«
»Das weiß ich wohl. Aber, warum Du mir in so gar entsetzlicher Weise zürnst, das weiß ich nicht.«
»Nicht? Wirklich nicht? Sollte ich falsch berichtet worden sein? Sihdi, sei so gut und schau hinunter nach dem Hafen. Siehst Du das Schiff im Schein des Mondes liegen?«
»Ja.«
»Und siehst Du die Lichter, die sich auf dem Verdeck und im Innern bewegen?«
»Ja. Die Lücken sind alle erleuchtet.«
»Das sind Menschen, Menschen, die das Fahrzeug vorzubereiten haben, den Hafen zu verlassen. Weißt Du, wohin es fährt?«
»Nach Ardistan.«
»Und wer ist es, den es dorthin zu bringen hat?«
»Warum soll ich es nicht wissen, da Du es auch schon weißt.«
Der kleine, leicht zornige Mann wollte mir die Leviten lesen. Er besaß ein großes, leicht erregbares Ehrgefühl. Er hatte erfahren, daß wir morgen nach Ardistan fahren würden, anstatt in die Heimat zurückzukehren, und daß ich nicht sofort und direkt zu ihm gelaufen war, um ihm dies mitzuteilen, das hatte ihn beleidigt. Daß ich gewiß noch nach den Pferden sehen würde, das wußte er bestimmt. Darum hatte er sich hierhergesetzt, um mich abzulauern und mir die wohlverdiente Strafpredigt zu halten. Dergleichen Szenen waren nicht allzu selten. Sein Ärger war in allen solchen Fällen in hohem Grade ernst gemeint; ich aber pflegte der Sache so viel wie möglich eine humoristische oder für ihn überhaupt unerwartete Wendung zu geben, die ihn verblüffte. So auch hier.
»Ja, auch ich weiß es, auch ich weiß es,« rief er in seinem vorwurfvollsten Tone. »Aber nicht von Dir, sondern von fremden Menschen!«
»Genau so wie ich! Auch ich habe es von fremden Menschen erfahren, nicht aber von Dir!«
Da stutzte er. Er ahnte, daß ich jetzt wieder einmal im Begriff stand, den gegen mich gerichteten Spieß herumzudrehen. Dann fuhr er fort:
»Um es von Dir zu erfahren, mußte ich erst hierher zu den Pferden!«
»Ich ebenso! Und doch wäre es Deine Pflicht gewesen, sofort zu mir zu kommen, sobald Du es erfahren hattest. Aber anstatt dies zu tun, hast Du mir zugemutet, Dir nachzulaufen, bis ich Dich hier traf! Das muß ich mir verbitten, hörst Du, Halef, verbitten!«
Da trat er einige Schritte zurück und wiederholte in höchst erstauntem Tone den Gedankengang meiner Rede:
»Mein Pflicht – — —! Sofort zu Dir – — —! Zugemutet – — —! Nachzulaufen – — —! Verbitten – — —! Effendi, ich bin starr! Ja, bitte, erlaube mir starr zu sein, vollständig starr! Ich bin hierhergekommen, um Dir die niederschmetternde Gewalt meiner Vorwürfe in das Gesicht zu schleudern, und der nun schleudert, der bin nicht ich, sondern der bist Du! Und das Schlimmste dabei ist, daß es mir so vorkommt, als hättest Du ebenso recht wie ich.«
»Ebenso wie Du? Was fällt Dir ein! Wenn überhaupt nachgelaufen werden muß, wer ist es da, der nachzulaufen hat? Ich Dir oder Du mir?«
»Nicht Du, sondern ich!« gestand er ehrlich ein.
»Und doch bist Du nicht zu mir gekommen, sondern ich habe zu Dir müssen! Halef, Halef, das war früher nicht! Da warst Du pflichtgetreu! Da wärst Du mir rund um die Erde nachgelaufen, um mir mitzuteilen, daß etwas Wichtiges geschehen sei. Heut aber setzest Du Dich faul in das Gras und wartest, bis ich komme!«
Da trat er noch um einen Schritt weiter zurück, schlug die Hände erschrocken zusammen und stöhnte:
»Faul in das Gras! Faul, faul! Ist so etwas möglich! Das geht mir über alle meine Begriffe. Ich und faul! Aber ich bin wirklich hierher gelaufen, anstatt zu Dir! Ich habe wirklich