Waldröschen I. Die Tochter des Granden. Karl May
eigentlich gar nichts danach zu fragen; aber ich möchte es doch wissen. Er zahlt gut, ein Dummkopf ist, wer eine Zitrone nicht so sehr ausquetscht, daß auch der letzte Safttropfen herauskommt.«
Wieder sann er nach. Sein Gedankengang schien, wie aus dem Spiel seiner Mienen zu ersehen war, ein sehr unruhiger zu sein. Er erhob sich sogar, ging einige Schritte auf und ab, blieb wieder stehen, wiegte seinen Kopf hin und her, dann nickte er langsam und murmelte weiten
»Auch die Geschichte mit dem Mariano soll mir noch manches Sümmchen einbringen. Ich sollte den Jungen töten, aber ich wäre doch ganz ohne Verstand gewesen, wenn ich es getan hätte. Ist er mir doch dem Advokaten gegenüber für immer eine Geisel. Jetzt habe ich den Jungen sogar liebgewonnen, und es sollte mir leid tun, wenn ich noch gezwungen würde, ihn ganz verschwinden zu lassen. Vielleicht brächte ich das gar nicht mehr fertig!«
Der Hauptmann schritt abermals eine kleine Weile in dem engen Raum auf und ab. Dann stieß er ein kurzes, höhnisches Lachen aus, trat an die Felsenwand seines Gemaches, und als er an einer Stelle derselben drückte, gab ein kleines, viereckiges Stück des Steins nach, und es kam ein Raum zum Vorschein, in den der Hauptmann hineingelangte, um ein sichtlich sehr altes und zusammengelegtes Papier daraus hervorzubringen.
»Wie sich der Elende weigerte, wie er sich wand und krümmte, als ich diesen Schein von ihm verlangte«, murmelte er vergnügt. »Aber er mußte, denn ich hatte ihn in der Hand! Und ich durfte nicht genannt werden, denn da dieser Schurke Manuel den Jungen geholt hatte, war er es, dessen Name niedergeschrieben wurde.«
Er schlug das Papier auseinander, trat näher an das Licht der Lampe heran und las:
»Ich erkläre hiermit der Wahrheit gemäß, daß der Fischer Manuel Sertano aus Mataro am ersten Oktober 18** in dem Gasthof ›L‘Hombre grand‹ in Barcelona auf meine Veranlassung und gegen Bezahlung von tausend Silberpiastern einen Knaben gegen einen anderen umgetauscht hat. Der umgetauschte Knabe lebt unter dem Namen Mariano unter sicherem Schutz in einer Höhle des Gebirges.
Manresa, Notar.«
Gasparino Cortejo, den 15. November 18**
Der Capitano faltete das Papier wieder zusammen, legte es in das Versteck zurück, strich sich mit sehr zufriedener Miene den Bart und sagte:
»So habe ich den Alten fest in der Hand, und sein Beutel wird bluten müssen. Schade nur, daß er sich so hartnäckig weigert, mir zu sagen, wer die beiden umgetauschten Knaben gewesen sind. Allerdings, eine schwache Vermutung habe ich ja. Er ist Geschäftsführer des Grafen Emanuel de Rodriganda. Ich werde nachforschen! Der junge Graf soll zurückkehren oder ist vielleicht sogar schon da. Soll ich ihn beobachten? Soll ich die Familienverhältnisse des Grafen ausforschen lassen? Ja, das wäre das sicherste Mittel. Aber durch wen?«
Seine nachdenkliche Miene erheiterte sich plötzlich, und er stieß ein kurzes Lachen aus, um darauf in seinem Selbstgespräch fortzufahren:
»Das ist allerdings ein lustiger Gedanke! Schicke ich vielleicht Mariano, um das Nötige zu erfahren? Ja, er ist der einzige, der dazu fähig ist. Er ist der einzige von uns, der sich unter solchen Leuten fehlerlos bewegen kann. Ich habe ihm ja alles lehren lassen, was ein vornehmer Señor wissen muß; er reitet wie ein Kavalier, kann fechten, schießen, schwimmen, ist stark und tapfer, treu und anhänglich, dabei klug und listig – ja, ich werde es tun! Der Notar hat ihn nie gesehen; er wird ihn also nicht erkennen, er wird gar nicht ahnen, daß dieser junge, liebenswürdige und gewandte Mann der Knabe ist, den er einst töten lassen wollte. Per Dios, das ist ein wirkliches Abenteuer! Das ist ein Coup, der meinem Kopf die größte Ehre macht!«
Er schritt noch einige Zeit in der Zelle auf und ab und begab sich dann in den Nebenraum, um sich schlafen zu legen.
Als er am Morgen erwacht war, trat der Pater Dominikaner bei ihm ein und meldete:
»Capitano, der fremde Mann, dessen Beichte ich heute nacht hörte, ist soeben gestorben.« – »Gut, so sind wir ihn los. Man werfe ihn in die Schlucht!« – »Das werde ich nicht zugeben, Capitano! Er ist als ein reuiger Christ gestorben und soll als ein solcher auch begraben werden.« – »Mir gleich. Tut, was Ihr wollt, nur laßt mich dabei aus dem Spiel! Ist Mariano schon wach?« – »Ja.« – »Er soll gleich zu mir kommen!«
Der Pater entfernte sich, und kurze Zeit später trat Mariano ein. Er grüßte freundlich, und zwar mit der vertraulichen Untertänigkeit, die er sich für den Umgang mit dem Hauptmann angeeignet hatte, und ließ sich nichts von der Gesinnung merken, die zu verbergen er sich vorgenommen.
Der Capitano bot ihm einen Sitz an und begann:
»Mariano, wie befindet sich dein Rapphengst?«
In den Zügen des Jünglings ward es hell, und in sein Gesicht stieg eine leise Röte. Es war augenscheinlich, daß die Erwähnung des Pferdes ihm angenehm war.
»Er wird kaum zu bändigen sein«, antwortete er. »Er steht nun über einen Monat drüben in der Pferdehöhle, und ich habe ihn von den anderen Tieren fortnehmen müssen, weil er sie sonst zu Schanden schlägt.« – »So nimm dich heute in acht, daß es kein Unglück gibt. Wenn so ein edles und mutiges Pferd vier Wochen lang den Reiter nicht getragen hat, so ist es schwer zu bändigen.« – »Ah! Soll ich ausreiten, Capitano?« – »Ja.« – »Wohin?« – »Nach Manresa und Schloß Rodriganda.« – »Das ist sehr weit, Hauptmann!« – »Du hast viel Zeit zu diesem Ausflug. Es ist möglich, daß du wochenlang dort verweilen wirst.«
Das Gesicht des Jünglings hellte sich immer mehr auf. Der Gedanke, auf eine lange Zeit von der jetzigen düsteren Umgebung erlöst zu sein, war ihm der angenehmste, den er haben konnte.
»In einem Auftrag?« fragte er. – »Ja, und noch dazu in einem sehr schwierigen«, antwortete der Capitano. »Ist deine Garderobe instand?« – »Vollständig.« – »Auch die Uniformen?« – »Ja. Soll ich mich als Offizier verkleiden?« – »Als französischer Offizier. Du bist ja des Französischen vollständig mächtig. Ich werde dir einen Urlaubspaß geben, der auf den Husarenleutnant Alfred de Lautreville lautet.« – »Und was ist meine Aufgabe, Capitano?« – »Du hast auf irgendeine Weise auf Schloß Rodriganda Zutritt zu suchen und dich dabei so zu verhalten, daß man dich veranlaßt, längere Zeit als Gast zu bleiben. Während dieser Zeit studierst du die Verhältnisse der Bewohnerschaft auf das sorgfältigste und speziellste. Ich werde dir darüber einen eingehenden Bericht abverlangen. Du bist klug genug zur Lösung einer solchen Aufgabe.« – »Willst du mir vielleicht einzelne Anhaltspunkte mitteilen, Hauptmann? Es wäre mir das lieb.« – »Ich kann dir nicht viel sagen. Aber da ist besonders ein Notar, ein gewisser Cortejo, der der Geschäftsführer des Grafen ist, und den du am aufmerksamsten beobachten sollst. Ich möchte gern genau wissen, wie er zu den Gliedern der gräflichen Familie steht. Dann ist da der junge Graf Alfonzo, der in Mexiko gewesen ist. Sieh einmal zu, wie er sich gegen den Grafen und dessen Geschäftsführer verhält. Es liegt mir besonders daran, zu wissen, ob er diesem letzteren vielleicht ähnlich sieht. Gehe und mache dich fertig. Das Geld, welches du brauchst, werde ich dir mit dem Paß aushändigen. Du mußt fein auftreten und als ein wohlhabender Offizier gelten; darum wird die Summe nicht unbedeutend sein. Ich werde dafür sorgen, daß du einen tüchtigen Mann als Diener erhältst, den du als Bote verwendest, wenn du mir etwas mitzuteilen hast.«
Mariano ging. Es war ihm noch niemals ein Auftrag so willkommen gewesen, wie der gegenwärtige, und er hatte ganz das Gefühl, als ob er kurz vor dem Beginn neuer und wichtiger Ereignisse stünde.
5. Kapitel
An dem Ort, von dem hier die Rede war, nämlich in Schloß Rodriganda, herrschte heute eine tiefe Stille. Der Graf hatte befohlen, daß sich jedermann der möglichsten Ruhe befleißigen sollte, da er sich sehr angegriffen fühle.
Niemand befolgte diesen Befehl so genau wie der alte Kastellan Juan Alimpo. Er schlich auf den Fußzehen wie eine Katze die Treppen auf und ab, er huschte unhörbar wie ein Schatten über die Korridore, und selbst in seiner Wohnung, die von der des Grafen so entfernt lag, daß selbst der größte Lärm nicht zu dem Gebieter hätte dringen können, schwebte er so lautlos hin und her, als verstehe er die Kunst, den Boden nicht zu berühren.
Dieser großen Kunst befleißigte sich auch seine Gattin Elvira,