Waldröschen I. Die Tochter des Granden. Karl May
gelesen hatte, faltete er es zusammen und barg es wieder in der Tasche. Er ritt jetzt durch einen dichten Eichenwald, aber er sah nicht die Eichen und nicht den Weg, den sie besäumten. Er dachte zurück an Paris und an die Stunde, in der er die Schreiberin des Briefes zum ersten Mal gesehen hatte.
Das war im Jardin des Plantes gewesen, als er, um ein Boskett schreitend, um sich auf die daselbst stehende Bank niederzulassen, dieselbe bereits besetzt fand. Erstaunt und verwirrt von dem Liebreiz der jungen Dame, die er in ihrer Einsamkeit gestört hatte, war er zurückgewichen. Auch sie erhob sich, und nun sah er sich einer Schönheit gegenüber, wie er sie in dieser Vollendung bisher nicht für möglich gehalten hatte. Er, der erfahrene Mann, der Arzt, fühlte, daß seine Pulse stehenblieben, um ihm dann mit zehnfacher Geschwindigkeit das Blut aus dem Herzen nach den Schläfen und in die Wangen zu treiben. Jene Stunde entschied über ihn und auch – über sie. Sie liebten einander unaussprechlich, aber auch ebenso unglücklich. Er durfte sie nur in jenem Garten treffen und sehen. Sie war, wie sie ihm mitteilte, Gesellschafterin der Condesa Rosa de Rodriganda, die mit ihrem blinden Vater in Paris verweilte, und hatte aus Ursachen, die sie ihm nicht nennen konnte, das Gelübde getan, unverheiratet zu bleiben. Er fühlte sich hochbeglückt vor Wonne über ihre Gegenliebe, doch fast wahnsinnig vor Schmerz über ihren unerschütterlichen Entschluß, den er nicht zu fassen und zu begreifen vermochte. Er bat und flehte, er beschwor sie; sie weinte und blieb dennoch fest. Dann reiste sie ab, und er mußte ihr versprechen, sich niemals nach ihr zu erkundigen. Sie wollten für dieses Leben scheiden, um sich in einer anderen Welt als Selige wiederzufinden. Nur ein einziges Mal hatte er sie an sein Herz ziehen und seinen Mund auf ihre Lippen pressen dürfen, aber diese Wonne wurde von dem Schmerz der Trennung beeinträchtigt. Seit jener Zeit hatte er wie ein Riese mit dem Leid gerungen, das sein Herz durchwühlte und sein Leben umkrallte, und es zu keinem Sieg gebracht. Das herrliche Wesen, das er besessen hatte, nur um es wieder zu verlieren, war der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte. Wenn er auch hoffte, daß sein Herz einst noch zur Ruhe kommen werde, so fühlte er doch, daß er diese späte Ruhe mit einem großen Teil seines Lebens bezahlen würde. Und wie sollte sich seine Ahnung erfüllen! Die unbeschreiblichen Gefahren, Leiden und Kämpfe, die seiner ob dieser Liebe harrten, vermochte nur ein Charakter und Held wie Sternau zu tragen und zu überwinden. – Da plötzlich erhielt er ihren Brief. Er las ihn und fühlte alle seine Nerven beben. Ohne zu fragen und zu zagen, packte er sofort das Nötige ein und folgte dem Ruf der Teuren. Obgleich nur eine Gesellschafterin, war sie ihm doch erschienen wie ein holdes, überirdisches Wesen, wie eine jener Feen, deren Augen zuweilen über das arme Leben des Sterblichen hinleuchten wie ein Blick aus Himmelsräumen. Als nun diese Fee gebot, da mußte er gehorchen. Er flog durch das ganze Frankreich; er eilte in rasender Hast über die Pyrenäen, und nun, nun endlich näherte er sich dem Ziel, wo er sie wiedersehen sollte, die Herrliche, die Unvergleichliche, der er zu eigen war mit Seele, Leib und Leben.
Der Galopp des Maultiers war ihm noch zu langsam; er trieb es zu vermehrter Eile, und eben als die Sonne hinter den westlichen Höhen niedertauchte, ritt er in das Dorf Rodriganda ein.
Es hatte ein weit besseres und freundlicheres Aussehen, als es gewöhnlich bei spanischen Dörfern der Fall zu sein pflegt. Die Straße war breit und sauber gehalten, die Häuser des Ortes lugten mit ihren funkelnden Fensterscheiben förmlich einladend aus den wohlgepflegten Blumengärten hervor. Dies war ein Zeichen, daß Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla nicht nur ein Herr, sondern vielmehr auch ein Vater seiner Untertanen sei, der alles tat, um ihr Glück und Wohl zu fördern.
Sternau fragte einen ihm Begegnenden nach der Wohnung Mindrellos und wurde nach dem letzten Häuschen des Dorfes gewiesen. Er sprang vor demselben von dem Tier und trat ein. Die Familie des Contrebandiers befand sich soeben bei einer frugalen Abendmahlzeit.
»Wohnt hier Mindrello?« fragte Sternau. – »Ja. Señor, ich bin es«, antwortete der Mann, indem er sich vom Stuhl erhob.
Er war eine kräftige, untersetzte Gestalt, die jeder Strapaze gewachsen zu sein schien, und sein offenes Gesicht konnte ihm als die beste und zuverlässigste Empfehlung dienen.
»Kennen Sie die Gesellschafterin der Condesa de Rodriganda?« – »Wie heißt sie?« forschte der Spanier mit gespannter Miene. – »Rosetta.« – »Heilige Madonna von Cordova, so sind Sie wohl Señor Sternau aus Paris?« – »Der bin ich.«
Da erhoben sich sämtliche Mitglieder der Familie und streckten Sternau mit einem freudigen Willkommen die Hände entgegen, und sogar die Kleinen wagten sich herbei, um mit lachenden Gesichtern dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen.
»Willkommen, herzlich willkommen!« rief Mindrello. »Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit. Die gnädige Condesa, ich wollte sagen, die gute Señorita Rosetta ist in großer Angst gewesen. Ich werde sogleich nach ihr senden.« – »Wurde der Graf heute operiert?« – »Nein, noch nicht; die Condesa hat so lange gebeten und gefleht, bis man es noch einmal verschoben hat; aber morgen wird es sicher geschehen. Die Condesa ist ganz überzeugt, daß Sie kommen werden, Señor.« – »So weiß sie von dem Brief, den mir die Gesellschafterin, Señorita Rosetta, geschrieben hat?« – »Ja, hm, natürlich weiß sie es«, antwortete der Spanier mit einer Verlegenheit. »Aber, Señor, wir haben Ihnen für heute ein kleines Zimmerchen fertig gemacht, da oben im Giebel, wo die Blumen vor dem Fenster stehen. Ich werde Sie hinaufführen und Ihnen zugleich ein Abendbrot geben, bevor die Señorita kommt« – »Und mein Maultier?« – »Das wird beim Nachbar einen Platz und auch Futter finden, bis Sie mit ihm in das Schloß ziehen. Wollen Sie mir folgen, Señor?«
Mindrello führte Sternau darauf eine kleine Treppe empor in ein niedriges Gemach, dessen Decke der Arzt mit dem Kopf erreichte, das aber höchst saubergehalten war, in Spanien eine sehr große Seltenheit. Bald wurde das Mahl gebracht, und während desselben konnte Sternau durch das Fenster die herrliche Aussicht auf das Schloß genießen.
Noch aus der Zeit der Mauren stammend, bildete es ein gewaltiges, durch malerisches Kuppelwerk gekröntes Viereck, das trotz der Massigkeit seiner hoch und langgestreckten Fronten so leicht und zierlich gegliedert zum Himmel strebte, als sei es aus leuchtenden Minaretts, mit Rosenblättern verziert gebildet. Von diesem weithin schimmernden Bau stachen die ihn umgebenden dunklen Korkeichenwaldungen außerordentlich effektvoll ab, und wer ihn jetzt betrachtete, als das verglimmende Abendrot seine zauberischen Tinten über ihn warf, der konnte sich in jene Gegenden des Morgenlands versetzt fühlen, wo aus dem ewigen Pflanzengrün die Bauwerke der Kalifen so weiß, rein und unbefleckt emporragen, als ob sie von den Händen der Engel und Seligen errichtet wären.
Der Tag schied aus dem Tal; die Dämmerung verschwand, und der Abend warf seine Schatten über Schloß und Dorf. Sternau brannte das Licht an und prüfte die Instrumente, die ihm Mindrello heraufgebracht hatte, ehe er das Maultier zum Nachbar schaffte. Da hörte er die Stiege leise knarren, und dann klopfte es.
»Herein«, antwortete er.
Die Tür wurde geöffnet, und – da stand sie unter derselben, von dem Licht hell bestrahlt, sie, nach der er sich gesehnt hatte mit jedem Schlag seines Herzens. Sternau öffnete die Arme und wollte der Geliebten entgegeneilen; aber es ging ihm wie damals in Paris. Sie, die einfache Gesellschafterin, stand vor ihm so stolz, so hoch und hehr wie eine Königin; sein Fuß stockte, er wagte es nicht einmal, ihre Hand zu erfassen.
»Rosetta…«
Dieses eine Wort war alles, was er zu sagen vermochte; aber es lag in seinem Ton eine ganze Welt voll Entzücken und – Herzeleid.
Sie stand vor ihm, ebenso ergriffen wie er. Sie sah ihn erbleichen, sie sah, daß er mit der Hand nach seinem Herzen fuhr, sie sah, daß sein Auge größer und dunkler wurde, wie unter einer aufsteigenden Tränenflut, und nun zitterte auch ihre Stimme, als sie fragte:
»Señor Carlos, Sie haben mich noch immer nicht vergessen?« – »Vergessen?« erwiderte er. »Verlangen Sie von mir alles, aber verlangen Sie nicht, daß ich Sie jemals vergessen soll. Sie sind mein Denken und Empfinden, mein Leben und Leiden, und Sie vergessen, das heißt nichts anderes als sterben.« – »Und dennoch muß es sein. Heute aber dürfen wir uns noch sehen, und so will ich Ihnen danken, daß Sie gekommen sind.« – »Oh, Señorita, ich glaube, ich wäre gekommen, und wenn ich auf dem Sterbebett gelegen hätte«, antwortete Sternau in tiefster Bewegung. – »Fast möchte ich Ihnen das glauben,