Waldröschen VI. Die Abenteuer des schwarzen Gerard 1. Karl May
war bei diesen Worten ganz sonderbar und fremd zumute geworden. Sie konnte sich keine Rechenschaft über ihr Verhalten geben, aber sie fragte weiter:
»Nicht wahr, jetzt habt Ihr doch nur im Scherz gesprochen?« – »Warum sollte ich mit Euch scherzen, Señorita? Nein, nein, ich sagte Euch die volle Wahrheit.«
Da senkte sie den Kopf, ein Gefühl der Enttäuschung war auf ihrem Gesicht zu lesen, und ihre Stimme klang kälter als vorher, als sie sagte:
»So verzeiht, daß ich Euch mit meinen Fragen belästigt habe! Aber so oft Ihr jetzt auch zu uns gekommen seid, habt Ihr stets so still und traurig dagesessen, daß es mich gedauert hat. In Eurem Auge ist es ja stets, als ob eine Träne daraus hervorbrechen wollte.« – »Ja, man findet zuweilen Menschen, die eine ganze Flut von Tränen in sich tragen und doch zu stolz sind, dies merken zu lassen.« – »Oh, ich habe es wohl bemerkt. Und da dachte ich mir, daß Euch ein freundliches Wort vielleicht erfreuen würde. Es gibt ja Personen, die einem gar nicht fremd erscheinen können, Señor. Habt Ihr das nicht auch schon erfahren?« – »Ja, doch erst hier bei Euch, Señorita.«
Sie errötete. Er fuhr daher entschuldigend fort:
»Ihr dürft mir diese Worte nicht übelnehmen. Wenn sie Euch weh tun, werde ich gehen und nie wiederkommen.« – »Nein, das dürft Ihr nicht, Señor«, entgegnete sie rasch. »Es würde mir jedoch sehr angenehm sein, Euch etwas weniger traurig zu sehen, als bisher, und wenn Ihr mir von Euch auch gar nichts sagen wollt, so möchte ich doch Euren Namen gern erfahren.« – »Nennt mich Mason, Señorita.« – »Mason? Ja, das ist ein französischer Name. Und Euer Vorname?« – »Ihr wollt ihn auch noch wissen?« – »Ja. Wir Frauen denken uns einen Mann gern bei seinem Vornamen und bringen die Bedeutung desselben mit den Eigenschaften des Trägers in Verbindung.« – »Ich heiße Gerard.« – »Gerard? Ah, gerade wie der ›Schwarze Gerard‹, von dem mein Vater vorhin sprach. Ihr habt auch einen solchen schwarzen Bart, wie er ihn tragen soll. Aber könnt Ihr mir sagen, welche Bedeutung der Name Gerard hat?« – »Er bedeutet der Kraftvolle oder der Verteidiger, so hat mir einst mein Lehrer gesagt.« – »Der Kraftvolle? Ja, das paßt für Euch. Und wer kraftvoll ist, der kann auch gut ein Verteidiger sein.« – »Leider bin ich es nicht gewesen, sondern gerade das Gegenteil.« – »Wie meint Ihr das, Señor?«
Der Gefragte blickte traurig hinaus in das Weite und antwortete:
»Ich war Garotteur.« – »Garotteur? Das verstehe ich nicht. Was bedeutet das?« – »Ja, Eurem unschuldigen Sinn ist es wohl noch nie zu nahe getreten. So wißt denn, Señorita, daß in großen Städten, in denen Millionen beisammenwohnen, viele Tausende des Abends kaum wissen, woher sie des Morgens Brot nehmen sollen. Noch schlimmer daran aber sind die Tausende, die sich des Abends sagen: ›Wenn du dir nicht des Nachts dein Brot stiehlst, so mußt du morgen hungern.‹ Diese sind die Sklaven des Verbrechens. Die meisten sind nicht ganz schuldig, und viele sind sogar unschuldig. Der Vater erzieht den Sohn und die Mutter die Tochter zum Verbrechen, ein Rechtsgefühl wird nicht entwickelt, und so leben diese Leute auf der Stufe des Fuchses oder des Löwen, deren Natur den Raub oder Diebstahl gebietet. Sie sind die Raubtierklasse des Menschengeschlechts.« – »Mein Gott, das muß doch sehr, sehr traurig sein!« – »Trauriger, als Sie denken.« – »Und Ihr, Señor? Ihr wolltet doch wohl von Euch reden?« – »Allerdings. Auch ich war ein solches Raubtier.« – »Unmöglich!« fuhr sie erschrocken auf. – »Doch, leider! Ich klage zwar niemand an, doch gehorchte ich meinem Vater. Wir waren arm und lernten die Arbeit verachten. Mein Vater war schwach und stahl, ich aber war stark und garottierte, das heißt, ich ging des Nachts auf die Straßen, zog den mir Begegnenden mit einer Schlinge den Hals zusammen und leerte ihnen dann, wenn sie die Besinnung verloren hatten, die Taschen. Wir verführten auch meine Schwester. Sie widerstand uns und warf sich in den Fluß, um sich zu ertränken. Doktor Sternau aber, von dem vorhin Euer Vater sprach, sprang ihr nach und rettete sie.« – »O mein Gott, wie ist dies doch so schrecklich!« rief Resedilla erbebend.
Sie war leichenblaß geworden. Da saß der Mann, der einzige, dem sie ihre Liebe hätte schenken mögen, und er erzählte ihr, daß er ein Verbrecher sei. Warum diese fürchterliche Aufrichtigkeit? Sie schauderte an allen Gliedern.
»Ja, schrecklich ist es«, fuhr er mit jener Gleichgültigkeit, welche bereits das Schlimmste hinter sich weiß, fort. »Aber es kam noch schlimmer. Kein ehrliches Mädchen hätte mich geliebt. Ich lernte jene Mignon kennen. Wir liebten einander, und ich gab ihr alles, was ich raubte. Dann lernte ich einst einen schlechten Menschen kennen, vielleicht erfahrt Ihr einmal, wer es gewesen ist. Er bot mir große Summen an, für ihn ein Verbrechen zu begehen. Ich ging scheinbar darauf ein, aber ich schützte den Bedrohten und nahm dem Mörder zur Strafe sein ganzes Geld ab. Nun wollte ich ein ehrlicher Mann werden und gab Mignon alles, sie aber betrog mich, indem sie einen vornehmen Herrn betörte, den sie mir vorzog und mit dem sie den Raub verpraßte. Und als ich ihr drohte, sagte sie, daß sie mich anzeigen werde.« – »Was habt Ihr da getan? Sie getötet?« – »Nein«, antwortete er verächtlich. – »Oder ihren Verführer?« – »Nein, auch das nicht. Ich bin gegangen und habe gearbeitet. Oh, damals habe ich viel gelitten und gestritten und gekämpft, ich selbst war ja mein schlimmster Gegner. Aber ich hatte mir nun einmal vorgenommen, ein ehrlicher Mensch zu werden, und ich bin es geblieben, denn was ich einmal ernstlich will, das pflege ich auch durchzuführen. Aber in der Gesellschaft guter Leute ist mir erst das volle Bewußtsein meiner Sünden gekommen, und es hat mich hinausgetrieben, fort von der Heimat, in die Fremde, wo ich sühnen und dann sterben will.«
Es entstand eine lautlose Stille. In dem Auge des Mädchens perlte eine Träne. War es eine Träne des Schmerzes, der Entsagung, oder lag in dem feuchten Glanz derselben ein Widerschein des Bibelwortes von dem bußfertigen Sünder, über den im Himmel mehr Freude ist, als über neunundneunzig Gerechte? Ein voller, tiefer Atemzug entquoll ihrer Brust, und sie erhob das Auge fest zu ihm, sah ihm ernsthaft in das seinige und fragte:
»Aber, Señor, warum erzähltet Ihr denn mir dies alles?« – »Das will ich Euch sagen«, antwortete er. »Als ich glaubte, jene Mignon zu lieben, und getäuscht wurde, als ich nach Amerika ging, die Berge, die Wüsten und Savannen durchwanderte und während dieser langen Jahre ein Jäger, ein Scout – Pfadfinder – wurde, der einen guten Namen hat, da ließ mich die Einsamkeit mein Herz erkennen, und als ich dann Euch erblickte, da wußte ich, was wahre Liebe sei, und ich konnte ohne Euren Anblick nicht mehr sein, es zog mich zu Euch, wie es den Gläubigen zu den Füßen der Madonna zieht. Nun ich aber bemerkte, daß auch Euer Auge voll Teilnahme auf mir ruhte, da erwachte in mir das Bewußtsein meiner Pflicht. Ihr durftet Euer Herz nicht an einen Unwürdigen verschenken, und darum, darum, Señorita, habe ich Euch erzählt, was ich gewesen bin, damit Ihr mich verabscheuen lernen sollt. Und außerdem ist es mir gewesen, als ob ich jetzt zu meinem Beichtvater oder zu Gott selbst gesprochen hätte: Wer seine Sünden bekennt und bereut, dem werden sie vergeben. Ich werde jetzt gehen und nicht wiederkehren. Ihr aber werdet vor der Verunreinigung mit dem Verdammten bewahrt bleiben! Doch ich bitte Euch, über das, was ich Euch erzählt habe, zu schweigen. Ihr würdet sonst viele in Schande bringen, denen ich jetzt nützlich bin, denn ich müßte ja diese Gegend dann verlassen.«
Gerard erhob sich und ergriff sein Gewehr. Er wollte gehen, ohne sein Glas ausgetrunken zu haben. Da aber stand sie auch auf und trat ihm in den Weg. Ihr Antlitz war noch bleicher geworden als vorher.
»Señor«, sagte sie, »Ihr seid bisher so außerordentlich aufrichtig gegen mich gewesen, seid es nun auch zum letzten Mal und sagt mir, ob Ihr ein Spion der Franzosen seid.« – »Nein, ich bin es nicht.« – »Darf ich dies wirklich glauben?« – »So, als ob Gott es Euch gesagt hätte.« – »Und Ihr haltet Euch nicht zu den Franzosen?« – »Nein. Ich hasse den Kaiser, der nur durch Blut und Lüge regiert. Ich könnte ihn töten, ihn, der jetzt wieder einen wohlgesinnten, ehrlichen Fürsten in das Verderben führt! Aber seine Zeit wird einst kommen. Ich stehe zu den Mexikanern, und ich liebe Juarez. Ist dies Euch genug, Señorita?« – »Ja, vollständig; ich bin beruhigt.« – »So lebt denn wohl!« – »Wollt Ihr wirklich gehen, Señor?« – »Ja.« – »Für immer?« – »Für immer von Euch, aber nicht von Guadeloupe. Man wird mich hier wiedersehen.«
Er senkte seinen Blick tief in den ihrigen; beider Augen standen voller Tränen, und es war, als ob er jetzt