Die Ahnen. Gustav Freytag

Die Ahnen - Gustav Freytag


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Schneide die Weiden, welche ihm die Arme banden; mit den befreiten Händen löste er leicht die Füße. Es war langwierige, sorgliche Arbeit. Noch jetzt blieb er liegen und regte die Arme und Beine, bis in die geschwollenen Glieder wieder Bewegung kam. Dann klopfte er leise an die Wand, wie ein Holzwurm pickt, und lauschte. Eine lange Zeit verging, endlich hörte er eine bekannte Stimme leise rufen: »Jetzt zu mir.« Der Wächter rührte sich, aber blitzschnell warf Ingram seine Jacke ab, warf sich über den Sorben an der Tür, schnürte ihm die Jacke über dem Haupt zusammen und Hände und Füße mit dem Seil, raunte ihm zu: »Dein Leben danke dem Krug Wasser«, und sprang aus der geöffneten Tür. Draußen regte sich nichts, er fuhr um das Haus herum, eine Freundeshand faßte ihn und half ihm beim Schwunge über den Zaun. Zwei Männer rollten den Berg hinab und sprangen durch die Dorfgassen. Wütend kläfften die Hunde und der andere stieß einen Fluch aus: »Die Köter sind ihre beste Hilfe, wir verfehlen das Schlupfloch.« Da wurde es plötzlich tageshell, von der entgegengesetzten Seite des Lagers brach ein Feuer auf, beide sprangen vorwärts wie vom Winde getrieben. Einer von den Wächtern, die längs dem Zaune gingen, schrie sie an, Wolfram antwortete in der Sorbensprache und wies nach dem Feuer. Durch eine Lücke im Dorfzaun glitten sie in den Graben hinab, im nächsten Augenblick standen sie im Freien. »Jetzt schnellen Schritt und gutes Glück.« Hinter ihnen erscholl wirres Geschrei und Rufe. Vor den Laufenden erhob sich im Felde ein hoher Birnbaum, unter seinem Blätterdach hielt ein Reiter ledige Rosse. Die Flüchtigen schwangen sich auf die Pferde und ritten in die Nacht hinein, während hinter ihnen die Flamme zum Himmel stieg und der Lärm des erwachten Dorfes klang.

      Der wilde Ritt trieb das Blut schneller durch Ingrams Adern, vom Rosse reichte er seinem Treuen die Hand. »Wer ist der dritte?« fragte er.

      »Godes, einer von uns, ein Roßknecht des Miros; er hat sich mir gelobt; sein Herr hat ihn mit der Peitsche geschlagen, dafür hat er ihm eine Fackel angesteckt. Die Flamme mag uns Rettung werden, sie steigt jenseit der Ratizburg auf, dorthin zieht es ihre Gedanken von unserem Wege.«

      Der Reiter vor ihnen hob warnend den Arm: »Vorsicht, Herr, wir nahen dem Ringzaun an der Dorfmark. So schlaftrunken ist keine Sorbenwache, daß sie den roten Schein am Himmel mißachtet und den Tritt dreier Pferde, die aus ihrem Weidegrund brechen.«

      Sie waren einen Hügel hinabgejagt, gedeckt durch das Baumlaub, jetzt fuhren sie hinaus auf das offene Feld zwischen die Baumstümpfe, hinter ihnen leuchtete der Feuerschein, er fiel auf die weißen Slawenröcke, welche zwei der Reiter trugen, und warf die Schatten vor ihnen auf das Feld. »Dort im Dorfe half uns die heiße Lohe, hier hat sie unsern Nachtmantel verbrannt«, brummte Wolfram. Von der Seite erscholl Anruf und Geschrei und Hufe klapperten. »Jetzt gilt es leben oder verderben«, rief der Mann und die Flüchtlinge sausten wie Sturmwind dahin, hinter ihnen die Verfolger. Ein Pfeil fuhr auf Ingrams Sattel, ein anderer streifte sein wehendes Haar. »Hier ist der Holzring der Grenze«, mahnte Wolfram, sie trieben die Pferde zum Sprunge und flogen hinüber, noch wenige Roßsprünge und über ihnen breiteten sich die Äste eines Fichtenwaldes. Auf schmalem Wege ritten die Reiter bergauf, die Pferde stolperten und stöhnten. »Bricht ein Pferdefuß, so sollen Sorbenmädchen weinen«, rief Wolfram. Aber die Rufe der Verfolger wurden schwächer und verhallten. »Die Nachtjagd im finsteren Wald dünkte ihnen gefährlich. Gemach, Godes, Pferdeleib und Menschenbein sind nicht von Eisen, die Äste zausen das Haar und die Stämme brechen die Knie.«

      Sie schlugen sich durch das Dickicht die Höhe hinauf und ritten durch niedriges Buschholz über einen langen Bergrücken. Der Weg hatte sich gewandt, zu ihrer rechten Seite flammte das Feuer, immer höher und röter, und dunkle Rauchwolken wirbelten durch die Masse. Mitten in der feurigen Lohe hob sich der Hügel des Ratiz, die beleuchtete Halle und die Strohdächer. Plötzlich blinkte ein heller Schein auf dem First der Halle, ein weißes Licht flackerte über das Dach, gleich darauf standen auch die Dächer des Hügels in hellen Flammen und die Röte breitete sich über den halben Nachthimmel. »Dort sengt das Räubernest,« rief Ingrams Mann in wilder Freude, »nicht umsonst hast du, Herr, beim Eintritt mit den Feuerzungen gedroht.« Ingram lachte, aber er blickte scheu auf die Flamme und kalt fuhr es ihm über den Leib. Seit seiner Kinderzeit war ihm ein Hausbrand greulich und oft hatten ihn seine Gesellen darum gehöhnt, jetzt mühte er sich wegzusehen, aber immer zog es ihm die Augen nach der Lohe; er fühlte deutlich, wie einem zumute war, der hoffnungslos mit beklommenem Atem darin saß, er dachte an die Worte des Jünglings, der ihn bat, nichts Böses zu wünschen, und plötzlich erinnerte er sich des Wächters, den er unter dem Strohdach gefesselt hatte, und er wandte unwillkürlich sein Pferd nach dem fernen Sorbendorfe zurück. Aber Wolfram riß das Tier beim Zügel vorwärts, trieb es durch einen Schlag und rief lachend: »Der Gaul merkt, daß sein Stall brennt.« »Manches Sorbenweib muß heut stöhnen im heißen Ofen«, rief der Führer ebenso zurück.

      »Das ist schwache Vergeltung für den Mordbrand, den sie in unseren Dörfern geübt,« versetzte Wolfram, »ich denke, der Ratiz wird die Lust verlieren, morgen Frankendörfer zu brennen, die Kerzen leuchten ihm heimwärts.« Ingram schwieg.

      Noch eine Stunde ritten die Reiter, der rote Schein wich hinab an den Horizont, das bleiche Licht des neuen Tages stieg herauf, mit leichterem Herzen sah Ingram die Brandröte im Frühlicht dahinschwinden. Der Morgennebel setzte sich in Haar und Gewand der Reiter und die Rosse zogen ihre Spur in den graulichen Tau, der auf dem Rasen des Grundes lag. Vor ihrem Wege schoß ein Bach, sie tränkten die Rosse, der Vordermann ritt mit dem Lauf des Wassers bis zu einer Stelle, wo viele Tritte auf dem feuchten Grund sichtbar wurden, dort trieben sie die Rosse hindurch bis hinter ein Erlengebüsch unweit des anderen Ufers. Der Führer hielt.

      »Ich erkenne, was du meinst, Godes«, sagte Wolfram. »Wähle unseren Weg, Herr; durch die Furt sind die Frankenfrauen geschritten, die der Christ erledigt hat, man sieht jeden Fußstapfen, das Roß des Priesters mit fremdländischem Eisen, die Kinder, die Kuh, und hier den tiefen Tritt, welchen die Gertrud in den Boden gestampft hat. Sollen wir nachziehen auf ihrem Wege? Ein Blinder könnte ihn fühlen.«

      Ingram sah düster auf den Wiesengrund. »In wenigen Stunden haben wir sie eingeholt, wenn die müden Sorbengäule uns noch tragen, obgleich du gut gewählt hast unter den Rossen des Miros.«

      »Die Weiber rasteten diese Nacht im Steinturm an der Saale, den die Slawen zerrissen«, erinnerte Wolfram.

      Ingram sah vor sich nieder. »Wie mag der Vogel fliegen, wenn ihm die Schwingen ausgerauft sind, waffenlos bin ich.«

      »Ich sah dich doch sonst schon mit knotigem Astholz treffen, wenn andere Waffen fehlten«, versetzte Wolfram erstaunt.

      »Führt unsere Spur zu den Frankenfrauen, so locken wir den Ratiz auf ihre Fährte und leiten ihnen die Gefahr auf ihren Weg.«

      »Ein hungriger Bär packt das Wild, das er zunächst erreicht. Meinst du, daß die Sorben jetzt an etwas anderes denken als an Rache? Dreißig und ein Haupt können bezahlen für die rote Lohe, schwerlich wird der Ratiz seine Krieger zurückhalten, auch wenn er wollte, wenn diese bei der Heimkehr ihre Weiber und Kinder aus der Asche aufheben.«

      Wieder fuhr es kalt über den Rücken Ingrams. »Teurer Preis wurde bezahlt für das Haupt des einen Mannes.«

      »Hätte er nur den Raben und sein Schwert,« dachte Wolfram bekümmert, »denn völlig ist der Mann verwandelt. Willst du, so fragen wir den Godes, er kennt die Sorben.« Er rief den Führer heran und stellte die Frage. Godes antwortete: »Einige folgen uns Männern, ob sie uns fangen; aber das Sorbenvolk wird, wie ich denke, ausziehen gegen die entledigten Weiber.«

      »Und wann mag der Ratiz in seine zerstörte Burg einfliegen?« fragte Ingram.

      Der Mann sah nach dem Himmel und überlegte. »Hat er den Nachtbrand gesehen, und er hat ihn gesehen, so kann er noch vor Mittag sich an den Kohlen seiner Halle das Mahl bereiten.«

      »Dann drückt er zum Abend den Nacken des Priesters«, rief Wolfram.

      »Genug«, rief Ingram und stieß dem Pferd seine Fersen in die Flanke. Sie ritten weiter über Berg und Tal, bis sie den verfallenen Turm vor sich sahen, zu ihm führte deutlich die Spur. Sie drangen auf den Gipfel, umritten den wüsten Balkenring, erkannten den Rastplatz, die Haut der geschlachteten Kuh, eine Feuerstätte, in der Ecke gepflückte Zweige und gerauftes Gras. »Hier war das Lager der Walburg«, sagte Wolfram. Sein Herr warf nur


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