Die Ahnen. Gustav Freytag
»Dichter standen die Bäume im Land der Thüringe. Dort warst du der erste, welcher mir auf der Reise die Nachtpfähle hieb. Damals fiel der Eschensame herab auf den Boden und der Same heilbringender Lehre sank in dein Herz. Sieh, ein neuer Baum ist im Schutze Gottes erwachsen, nicht die unholden Schicksalsfrauen schweben darum, sondern hohe Engel, die geflügelten Boten Gottes, vielleicht, daß sie auch dir jetzt oder bald einmal eine gnadenvolle Auffahrt bereiten.«
Er segnete ihn und schritt in sein Zelt zurück, das inmitten der anderen sich stattlich erhob. Ingram legte den Hammer weg, er rüstete sich und setzte sich mit Schild und Speer an das Lagertor zur Nachtwache. Über die weite Ebene spähte sein Blick, gleich dem Herrn Winfried sah er nach der Nachtröte, welche vom Norden her so hell schien, wie er sie noch niemals geschaut. Er dachte an sein Weib und die blühenden Kinder, die jetzt daheim in Frieden schliefen und die er so herzlich liebgehabt, er überlegte das ganze glückliche Leben, das er mit seiner Hausfrau geführt, seine ruhmvollen Kriegsfahrten und das Lob seiner Streitgesellen, auch Wolfram und seine Rabenrosse kamen ihm in den Sinn, und er lachte und segnete in Gedanken alle Häupter der Seinen und betete für jedes; leicht war ihm das Herz und er sah immer wieder nach dem Himmelsrand, wo die Röte langsam nach Osten zog, bis die Helle im Osten aufstieg und die kleinen Wolken rosig leuchteten wie ein Tor der aufgehenden Sonne. Da merkte er, wie das Tor geöffnet wurde, durch das er selbst hinaufsteigen sollte zu der Burg des Himmelsherrn als einer seiner Krieger, und er kniete nieder und sprach das Gebet, welches ihn Walburg gelehrt. Wie er aufblickte, erkannte er fern im Dunst eine dunkle Masse, sie schob sich heran, Speereisen blinkten und weiße Schilde. Er schloß den Eingang, rief seinen Kriegsschrei und eilte zu dem Zelte des Bischofs und zu den Hütten der Krieger. Aus dem Zelte tönte das Glöckchen, Winfried trat hervor, das Wort des Herrn in der Hand, umdrängt von den Geistlichen. Draußen am Graben erhob sich mißtönendes Geheul, die Heiden liefen gegen das Pfahlwerk und rissen an den Hölzern. Ingram sprang den Speer schwingend auf sie und trieb seine Schildgenossen zum Kampfe. Aber mächtig erscholl die Stimme Winfrieds: »Höret das Gebot des Herrn, vergeltet nicht Böses mit Bösem, sondern Böses mit Gutem. Tut ab Krieg und Kampf, denn der Tag ist gekommen, den wir lange ersehnten, heut lohnt der große Gott des Himmels seinen Getreuen. Bereitet ist uns der Hochsitz in himmlischer Halle, die Scharen der Heiligen geleiten uns vor den Thron des Himmelsherrn.«
Da warf Ingram sein Schwert den einbrechenden Heiden entgegen; er trat mit ausgebreiteten Armen vor den Herrn Winfried, rief laut den Namen des Jünglings, der einst sein Reisegeselle war, und empfing die Todeswunde. Nach ihm der Erzbischof und darauf die übrigen, Geistliche und Laien. Nur wenige aus dem Gefolge retteten sich über das Wasser und berichteten von dem Ende der frommen Helden.
Mit großem Gefolge fuhr der Häuptling des Christengottes zu der Halle seines himmlischen Königs.
Die Gebeine Winfrieds führten fromme Väter den Rhein hinauf, dem Thüring Ingram aber schütteten christliche Friesen am Strande den Totenhügel und umschritten die Stelle mit Gebet. Nicht die Raben des Waldes flogen darüber, sondern weißbeschwingte Möven, und statt der Baumwipfel rauschten in seiner Nähe die Wogen des Meeres, wie der Sturmwind sie trieb, ein Jahrhundert nach dem anderen.
Doch aus seinem Hofe unter den Buchen und Fichten des Waldes wuchs und breitete sich fröhlich sein Geschlecht.
Die Wogen und Wälder rauschten aus einem Jahrhundert in das andere dasselbe geheimnisvolle Lied, aber die Menschen kamen und schwanden und unaufhörlich wandelten sich ihnen die Gedanken. Länger wurde die Kette der Ahnen, welche jeden einzelnen an die Vergangenheit band, größer sein Erbe, das er von der alten Zeit erhielt, und stärkere Lichter und Schatten fielen aus den Taten der Vorfahren in sein Leben. Aber wundervoll wuchs dem Enkel zugleich mit dem Zwange, den die alte Zeit auf ihn legte, auch die eigene Freiheit und schöpferische Kraft.
Das Nest der Zaunkönige
1. Im Jahre 1003
Wo die Geisa das Wasser ihrer Quellen in die Fulda gießt, lag zwischen Wiesen und fruchtbaren Feldern das Kloster Herolfsfeld. Hohe Fürsten des Himmels waren seine Beschützer, denn die Klosterkirche umschloß die Reliquien zweier Apostel; doch den größten Eifer für das Gedeihen des Klosters hatten zwei Gefährten des heiligen Bonifazius bewiesen: Erzbischof Lullus, der die ersten Mönche auf das leere Feld führte, und der Heidenbekehrer Wigbert, dessen Gebeine erst viele Jahre nach seinem Tode im Kloster niedergesetzt wurden, der aber seitdem durch zahllose Wunder den Ruhm der Stätte erhöhte. Als das stärkste von seinen Wundern rühmten die Leute, daß in der einsamen Landschaft ein mächtiges Menschenwerk entstanden war, Türme und hohe Kirchgiebel, um diese herum eine große Zahl von Gebäuden aus Stein und Lehm, deren wettergraue Holzdächer wie Silber in der Mittagsonne glänzten. Was man Kloster nannte, war in Wahrheit eine feste Stadt geworden, durch Mauern, Pfahlwerk und Graben von der Ebene geschieden. Länger als zweihundert Jahre hatten die Mönche gebetet, um den Gläubigen Heil und guten Empfang in jenem Leben zu bereiten, dafür waren sie selbst reich geworden an irdischem Grundbesitz, den ihnen fromme Christen in der bitteren Sorge um das Jenseits gespendet hatten. Die Burgen, Dörfer und Weiler, welche ihnen gehörten, lagen über viele Gaue verteilt, nicht nur im Lande der Hessen, auch unter Sachsen und Bayern, vor allem in Thüringen. Ein guter Teil des Kirchengutes, das Bonifazius erworben hatte, darunter die ersten Schenkungen, welche die Waldleute in Thüringen zur Heidenzeit gemacht, gehörte jetzt dem Kloster, und wenn der Abt seine Lehnsleute und Hintersassen zu einer Kriegsfahrt aufrief, so zogen sie dem Lager der Sachsenkaiser zu als ein Heer von Reitern und Fußvolk, in ihrer Mitte der Abt als großer Herr des Reiches mit einem Gefolge von edlen Vasallen. Länger als zweihundert Jahre hatten die Brüder auch mit Axt und Pflug gegen den wilden Wald und das wilde Kraut gekämpft, hatten unermüdlich die Halmfrucht gesäet, Obstbäume gepflanzt und Weingärten eingehegt. So waren sie allmählich große Landbauer geworden, nach Tausenden zählten sie ihre Hufen, ihre zinspflichtigen Höfe und die Familien der unfreien Arbeiter. Jetzt saßen sie in der Fülle guter Dinge als eine Genossenschaft von hundertundfünfzig Brüdern zwischen gefüllten Scheuern und springenden Herden, sahen vergnügt über die reiche Habe und ordneten selbst als umsichtige Landwirte das Tagewerk der zahlreichen Gehilfen, deren Häuser im Zaun ihres Herrenhofes standen oder seitwärts an der Fulda zu einem großen Dorf vereinigt waren. Doch nicht allein über Landarbeit, sondern über alles, was Handwerk und Kunstfertigkeit zu schaffen vermochte, walteten als Meister die Genossen, welche sich dem Christengott gelobt hatten. Neben dem Palast des Abtes und den Gasthäusern für Fremde, zwischen den Viehhöfen und Scheuern, dem Brauhause und den weiten Kellergewölben erklang der schwere Hammer des Waffenschmieds auf dem Ambos, und daneben der kleine Hammer des Künstlers, welcher edle Steine in Gold und Silber zu fassen wußte für Kirchengerät, für kostbare Bücherdeckel und für Trinkgefäße des Abtes und vornehmer Gäste. Ein Bruder bewahrte den Schlüssel zu dem Rüsthaus, in welchem die Helme, Schwerter und Schilde für ein ganzes Heer bereit lagen, ein anderer zählte den Gerbern die Häute zu, prüfte kunstverständig ihre Arbeit, mischte die Farbe und kochte die Beize für buntes Leder und Gewand. Und wieder ein anderer maß die Räume für neue Bauten, verfertigte den Riß und wies die Maurer an, wie sie den Gewölbbogen schwingen und dauerhaften Mörtel mischen sollten. Von weiter Ferne her zogen die Leute zum Kloster, nicht nur um bei den Gebeinen der Heiligen zu beten und durch Gaben das Gebet der Mönche zu kaufen; auch wer klugen Rat und irdischen Vorteil begehrte, suchte dort Beistand. Der Kaufmann fand Waren, die er gegen andere vertauschte, der große Grundherr holte sich den Bauplan für ein Steinhaus, das er auf luftiger Höhe errichten wollte, oder bat um einen meßkundigen Bruder, der ihm fernes Wasser in seinen Hof zu leiten und einen Fluß mit steinerner Brücke zu überspannen wußte. Wer vollends krank war, der neigte sich flehend vor dem Arzte des Klosters und erhielt aus der Apotheke die Holzbüchse mit kräftiger Salbe und den ruhmvollen Trank des heiligen Wigbert. Jeder Dürftige und Bettler im Lande kannte das Haus, denn er war sicher, dort Hilfe gegen den Hunger zu finden und gutherzige Spende an den nötigsten Kleidern. Was die einen in ihrer Sündenangst vor den Altären der Heiligen opferten, um den Himmel zu gewinnen, das vermehrte vielen anderen die Freude des irdischen Lebens. Aber die Mönche selbst, die sich dem Herrn zu demütiger Entsagung und Buße geweiht hatten, wurden allmählich stolze Lehrer und Gebieter in weltlichen Dingen und vermochten nicht mehr mit der alten Klosterzucht hauszuhalten.
An einem heißen Nachmittag des Sommers lag auf den Stufen