Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Andreas-Salomé Lou

Friedrich Nietzsche in seinen Werken - Andreas-Salomé Lou


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sein Zustand zu apollinischer Vollendung. Das Drama als »die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen« ist vollständig. »Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermassen der Mutterschoss des eigentlichen Dramas« (41); sie sind das dionysische Element desselben, während der Dialog den apollinischen Bestandteil bildet. In ihm sprechen von der Scene aus die Helden des Dramas als die apollinischen Erscheinungen, in denen sich der ursprüngliche tragische Held Dionysos objectivirt, als blosse Masken, hinter denen allen die Gottheit steckt.

      Wir werden am Schlüsse unseres Buches sehen, in welch eigenthümlicher Weise Nietzsche ganz zuletzt noch einmal auf diesen Gedanken zurückgriff, indem er seine verschiedenen Entwicklungsperioden und Gesinnungswandlungen so darzustellen versuchte, als seien sie nicht unmittelbare Aeusserungen seines Geistes gewesen, sondern gewissermaassen nur willkürlich vorgehaltene Masken, »apollinische Scheinbilder«, hinter denen sein dionysisches Selbst, göttlich überlegen, das ewig gleiche geblieben sei. Die Ursachen dieser Selbsttäuschung werden wir am Schlüsse erkennen.

      Die Bedeutung, die Nietzsche dem Dionysischen beimisst, ist charakteristisch für seine ganze Geistesart: als Philolog hat er mit seiner Deutung der Dionysoscultur einen neuen Zugang zur Welt der Alten gesucht; als Philosoph hat er diese Deutung zur Grundlage seiner ersten einheitlichen Weltanschauung gemacht; und über alle seine spätem Wandlungen hinweg taucht sie noch in seiner letzten Schaffensperiode wieder auf; verwandelt zwar, insofern ihr Zusammenhang mit der Metaphysik Schopenhauers und Wagners zerrissen ist: aber sich doch gleich geblieben in dem, worin schon damals seine eignen verborgenen Seelenregungen nach einem Ausdruck suchten; verwandelt erscheint sie zu Bildern und Symbolen seines letzten, einsamsten und innerlichsten Erlebens. Und der Grund dafür ist, dass Nietzsche im Rausch des Dionysischen etwas seiner eignen Natur Homogenes herausfühlte: jene geheimnissvolle Wesenseinheit von Weh und Wonne, von Selbstverwundung und Selbstvergötterung, – jenes Uebermass gesteigerten Gefühlslebens, in welchem alle Gegensätze sich bedingen und verschlingen, und auf das wir immer wieder zurückkommen werden.

      Den schärfsten Contrast zum Dionysischen und der aus ihm geborenen Kunstcultur bildet die Geistesrichtung des theoretischen, aller Intuition entfremdeten Menschen, die auf den Namen des Sokrates getauft wird. In der »Geburt der Tragödie« sucht Nietzsche die Entwicklung dieser Geistesrichtung von Sokrates an durch die Philosophie und Wissenschaft aller Jahrhunderte bis auf unsere Zeit in grossen Zügen zu schildern. Mit Sokrates, dessen Vernunftlehre sich gegen die ursprünglichen hellenischen Instincte kehrte, um sie zu zügeln, – »schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um«, und es beginnt jener Triumphzug des Theoretischen, das durch Vernunft-Einsicht die letzten Gründe des Seins zu erforschen und dasselbe corrigiren zu können vermeint. Diesem Optimismus hat erst Kants Kritik ein Ende bereitet, indem sie auf die Grenzen des theoretischen Erkennens hinwies und, wie Nietzsche später witzig bemerkt, die Philosophie zu einer »Enthaltsamkeitslehre« reducirt, »die gar nicht über die Schwelle hinwegkommt und sich peinlich, das Recht zum Eintritt verweigert« (Jenseits von Gut und Böse 204). Dadurch schaffte sie, nach Nietzsche, Raum für die Regeneration der Philosophie durch Schopenhauer, der endlich einen Zugang zum unerforschten Sein und zu dessen Umgestaltung auf dem Wege der intuitiven Erkenntniss erschlossen habe.

      In den Jahren 1873-1876 veröffentlichte Nietzsche im Geist und Sinn seines vorhergehenden Werkes, unter dem Gesammttitel: »Unzeitgemässe Betrachtungen«, vier kleinere Schriften, – bestimmt: »gegen die Zeit, und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit«, zu wirken. Die erste derselben, die den Titel führte: »David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller«, bestand in einer vernichtenden Kritik des damals überaus gefeierten Buches »Der alte und der neue Glaube«, und einer energischen Befehdung des einseitigen Intellectualismus unserer modernen Bildung. Von dauernderem Interesse ist die zweite höchst werthvolle Schrift: »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, deren Grundgedanke in Nietzsches letzten Werken, wenn auch modificirt, aber darum nicht weniger deutlich wiederkehrt als seine Auffassung des Dionysischen. Das Wort Historie bezeichnet hier den Begriff des Gedankenlebens, ganz allgemein gefasst, im Gegensatz zum Instinctleben; – Erkennen des Vergangenen, Wissen vom Gewesenen, im Gegensatz zur vollen Lebenskraft des Gegenwärtigen und Werdenden. Die Schrift behandelt die Frage: »Wie ist das Wissen dem Leben unterthan zu machen?« und präcisirt den Standpunkt des Verfassers in dem Satze: »Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.« Sie dient ihm aber nur so lange, als gegenüber den zersetzenden, belastenden und überall eindringenden Einflüssen des Gedanklichen die wichtigste Seelenfunction im Menschen noch völlig intact geblieben ist. »… die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur… ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen« (10). Sonst entsteht in uns ein Chaos fremder, uns nur zugeströmter Reichthümer, die wir nicht zu bewältigen, nicht zu assimiliren im Stande sind, und deren Mannigfaltigkeit daher das Einheitliche und Organische unserer Persönlichkeit schwer gefährdet. Wir werden dann zum passiven Schauplatz durcheinanderwogender Kämpfe, in denen sich die verschiedensten Gedanken, Stimmungen, Werthurtheile unaufhörlich befehden; wir leiden unter den Siegen der Einen wie unter den Niederlagen der Andern, ohne im Stande zu sein, unser Selbst zu ihrer Aller Herrn zu machen.

      Hier findet sich zum ersten Mal eine Hindeutung auf Nietzsches so viel besprochenen Decadenzbegriff, der in seinen späteren Werken eine so grosse Rolle spielt. Nicht umsonst gemahnt uns diese erste Beschreibung der Decadenzgefahr an die von uns gegebene Schilderung seines eignen Seelenzustandes; – wir können hier schon den seelischen Ursprung derselben deutlich erkennen: es ist die geheime Qual, die es diesem leidenschaftlichen Geist verursachte, den steten Andrang überwältigender Erkenntnisse und Gedankenströmungen auszuhalten, – Gewalt, mit der all sein Denken und Wissen auf sein Innenleben einwirkte, so dass die Fülle innerer einander widerstreitender Erlebnisse die geschlossenen Grenzen der Persönlichkeit zu sprengen drohte. Er sagt selbst im Vorwort (V) zu jener Schrift: » – Auch soll … nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe.«18 Was er in sich selbst vorfand, das wurde ihm zur allgemeinen Gefahr des ganzen Zeitalters, – und steigerte sich später sogar zu einer Todesgefahr für das ganze Menschenthum, die ihn zum Erlöser und Erretter aufrief. Die Folge aber dieses Umstandes ist ein eigenthümlicher Doppelsinn, der durch die ganze Schrift hindurch geht und einem kundigen Nietzsche-Leser sofort auffällt: da nämlich dasjenige, was am herrschenden Zeitgeist seine Bedenken hervorrief, doch etwas wesentlich Anderes war als sein eigenes Seelenproblem, so wendet er sich ohne Unterschied gegen zwei voneinander völlig verschiedene Dinge: Einmal gegen die Verkümmerung eines vollen, reichen Seelenlebens durch den erkältenden und lähmenden Einfluss einseitiger Verstandesbildung: »Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst« (36). »Im Inneren ruht dann wohl die Empfindung jener Schlange gleich, die ganze Kaninchen verschluckt hat und sich dann still gefasst in die Sonne legt und alle Bewegungen ausser den nothwendigsten vermeidet… Jeder, der vorübergeht, hat nur den einen Wunsch, dass eine solche »Bildung« nicht an Unverdaulichkeit zu Grunde gehe« (37). – Das andere Mal aber gerade gegen die allzu heftige, aufreizende und aufrührerische Einwirkung des Gedanklichen auf das psychische Leben, gegen den dadurch hervorgerufenen Kampf zusammenhangloser wilder Triebkräfte.

      Es ist ein Unterschied wie zwischen Seelenstumpfsinn und Seelenwahnsinn. In Nietzsche selbst pflegten die abstractesten Gedanken sich in Gemüthsmächte umzusetzen, die ihn mit unmittelbarer und unberechenbarer Gewalt fortrissen. In dem von ihm gezeichneten Bilde unseres Zeitalters mussten sich ihm daher die beiden entgegengesetzten Wirkungen des Intellectuellen vermischen, und in Bezug auf die eine von ihnen, – auf die chaotische Entfesselung des Seelenlebens, – verschmolzen ihm in ähnlicher Weise zwei verschiedene Ursachen mit einander. Es handelt sich nämlich nicht nur um die rein intellectuellen Einflüsse, nicht nur um die Gefahr des Verstandesmässigen für das Instinctmässige, sondern auch um die uns vererbten und einverleibten Einflüsse längst verflossener Zeiten, die, einst einer intellectuellen Quelle entsprungen, jetzt nur in der Form von Trieben und Gefühlsschätzungen


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<p>18</p>

Vergleiche die einführende Vorrede zur Neuen Ausgabe des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, wo es IV heisst: » – was ich gegen die »historische Krankheit« gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte – .