Benno Stehkragen. Ettlinger Karl
holte ihr Jackett und ging nach Hause.
»No?« frug der alte Binder. »No, Fräulein Böhle? So frieh schon haam? Hat’s was gewwe?«
Und nachdem er ohne Erregung Auskunft erhalten hatte, meinte er: »Des hätt’ ich Ihne im voraus sage könne! E Mädche wie Ihne läßt merr net so mir nix, dir nix fort! Also zum Wittmann komme Se? Schad’! Des dhut merr laad! Nemme Se Ihne in acht vor dem! Des is e Heimticker! Unner uns Parrersdöchter gesacht!«
»Na, sehen Se,« begrüßte Wittmann am Mittag Fräulein Böhle. »Na, sehen Se: Schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande! Die Götter haben mein Flehen erhört.«
Ganz wie damals, als Rittershaus vorgestellt hatte: »Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann,« machte er eine leichte Verbeugung und streckte ihr die Hand hin:
»Auf gute Kollegenschaft, Fräulein!«
Und diesmal ergriff Martha herzhaft die dargebotene Hand und lächelte:
»Auf gute Kollegenschaft!«
Sie hatte in der Zwischenzeit manches gelernt und fühlte aus dem Ton salopper Vertraulichkeit, den sich die meisten Beamten im Verkehr mit den weiblichen Angestellten erlaubten, kaum mehr die Ungezogenheit heraus.
Wittmann sah sich im Bureau um. »Wohin plazieren wir Sie denn? Dahinten, gegenüber von Herrn Stehkragen, is noch ’n Sitz frei. Also nehmen Se Platz, und schmücken Se unser Heim!«
Und so kam es, daß Benno Stehkragen, wenn er von seinem Drehstuhl nicht nach rechts, nicht nach links, sondern geradeaus schaute, das höchst sehenswerte Fräulein Böhle erblickte.
Und er guckte jetzt öfter von seiner Arbeit auf, als es sonst seine Gewohnheit gewesen war, und seine beweglichen dunklen Augen nahmen dabei einen ruhigen, beschaulichen Blick an.
Etwa so, als betrachte ein Kunstfreund aufmerksam ein seltenes Meisterwerk, das immer neue Wunder offenbarte.
Das erstemal am Tag schaute Benno Stehkragen des Morgens, wenige Minuten nach acht Uhr, empor, wenn Martha sich niedersetzte.
»Guten Morgen, Herr Stehkragen!« sagte sie dann, indem sie die Schreibärmel überstülpte.
»Guten Morgen, Fräulein Tulpe!« erwiderte Benno und erntete ein freundliches Lächeln.
Er begrüßte sie jeden Vormittag mit einem anderen Blumennamen, und ihm schien an jedem Tag, daß just der heute gewählte Name am besten für sie passe.
Das zweitemal hoben sich seine altmodischen Brillengläser gegen zehn Uhr, und dann sahen Bennos Augen zwei stattliche Schinkenbrote hinter Marthas kerngesunden Zähnen verschwinden.
Sein Blick frug ermunternd: »Schmeckt’s?«, und ein Gegenblick antwortete vergnügt: »Danke, ausgezeichnet!«
Und einmal phantasierte Benno vor sich hin: Wenn ich jetzt das Schwein wär’, von dem der Schinken abstammt – und ich wär’ gemästet – und ich tät’ drei Zentner wiegen, Gott behüt’ – und es käm’ der Metzger – und tät’ sagen: »Benno Schwein,« tät’ er sagen – »du mußt jetzt sterben! – Denn da ist ein reizender Gaumen – ein Gaumen von einer Königin – und die Königin muß notwendig zwei Schinkenbrote essen – sonst kann se kein Kopierbuch registrieren« – dann …
Er brach die Phantasie jäh ab, denn der Gedanke, ein Schwein, ein verbotenes, unreines Tier zu sein, war seinem strenggläubigen Gemüt doch zu schreckhaft.
Das drittemal guckte Benno Stehkragen geradeaus um dreiviertel zwölf Uhr.
Da fingen im Bureau die Vorbereitungen zur Mittagspause an. Die Federhalter wurden beiseite gelegt, Formulare in die Fächer eingeordnet, Schubladen, Schränke verschlossen, Hände gewaschen und gemächlich die Arbeitsjoppen mit den Straßenröcken vertauscht.
»Es is noch nicht Zwölf, meine Herrschaften!« rief Wittmann täglich gereizt.
Und erhielt täglich prompt die Antwort: »Ihne Ihr Uhr geht nach! Uff maaner is es schon drei Minute driwwer!«
Benno beobachtete, wie Martha die Schreibärmel herunterzog, sie glatt strich und in der Pultschublade verwahrte.
Von Samt und Seide sollten se sein, dachte er, und nicht von schundigem Leinen! – Und lauter rote Herzchen sollten drauf gestickt sein! – Und ganz oben das oberste Herzchen, wo die Sicherheitsnadel durchgeht, wenn se sich die Schreibärmel feststeckt – das wär’ dem Benno Stehkragen sein Herz – und tät’ jeden Morgen und jeden Nachmittag sagen: »Autsch, Se tun merr weh, Fräulein Reseda!« – Und es tät’ ein kleiner Blutstropfen herausquellen und den Schreibärmel hinunterlaufen – wo jetzt die schwarzen Tintenklexe hinunterlaufen – bis zuletzt der ganze Schreibärmel rot wär’! – Und dann tät’ se ihn wegwerfen und dem buckligen Benno Stehkragen sein Herz dazu …
»Mahlzeit, Herr Stehkragen!« sagte Martha und wandte sich zum Gehen.
»Mahlzeit!« sagte Benno und machte sich langsam fertig.
Am Portal der Bank aber holte er sie wieder ein und lief neben ihr her, die Kaiserstraße hinunter, vom Bahnhofsplatz bis zum Uhrtürmchen, ohne ein Wort zu sprechen.
Wie ein Hündchen lief er neben ihr her. Und seine Gedanken liefen dabei die konfusesten Pfade, die alle von dem Wegweiser »Wenn« abzweigten.
Diese Begleitung war Martha etwas lästig.
Aber sie wollte den spaßhaften Bureaugenossen nicht kränken, und so ließ sie ihn gewähren. Bis zum Uhrtürmchen. Dort nickte sie ihm zu, sagte »Adjö!« und stieg in die Elektrische.
Benno bog in die Promenade ein, ging durch die Große Gallusgasse, über den Roßmarkt, nach dem koscheren Restaurant, in dem er seit Jahren zu Mittag speiste.
Und Marthas »Adjö« begleitete ihn auf seinem Weg und leuchtete ihm voraus wie der Stern den heiligen drei Königen.
Dieses »Adjö« schwamm als Markklößchen in der Suppe, kicherte ihn an aus den Preißelbeeren und lachte ihm als Rosine aus dem Schalet entgegen.
Und die kleinen Bläschen, die im Selterswasser aufstiegen, das waren lauter kleine, goldhelle »Adjös«, und die Serviette, mit der er sich zum Schluß den Mund abwischte, das war einer von ihren Schreibärmeln, und der Mundwischer war ein scheuer, andächtiger Kuß.
Benno Stehkragen erwachte erst erschrocken aus seinen Träumen, wenn der Oberkellner, der stoppelbärtige Josef, der ebenso zum Inventar des koscheren Restaurants gehörte wie Benno zum Inventar der Industriebank, unaufgefordert an seinen Tisch trat und diskret frug: »Hawwe Se net gerufe, Herr Stehkrage’? Unn ich wollt’ Ihne aach sage, Ihne Ihr Abonnementskaart is abgelaafe! Ich habb’ Ihne gleich e neu’ ausgestellt!«
Er überreichte auch sofort die neue Abonnementskarte, indem er dabei mit der Serviette wedelte wie eine fliegengeplagte Kuh mit dem Schwanz und wußte: Jetzt gab es eine Mark Trinkgeld.
Das war die seit vielen Jahren zwischen ihm und diesem Stammgast übliche Taxe, die als Trinkgeld ausreichte für die zwölf Mahlzeiten, über die die Karte lautete.
Hätte ihm Benno einmal versehentlich nur neunzig Pfennig gegeben, so würde der stoppelbärtige Josef mit ruhigem Gewissen gesagt haben: »Se hawwe Ihne geerrt, Herr Stehkrage’!«
Und hätte ihm Benno mehr gegeben, so würde er den Betrag zwar eingesteckt, aber dabei sich gedacht haben: Er is meschugge wor’n! No ja, halb war er’s schonn immer!
Zum vierten Male sah Benno nach Martha mittags um ein Viertel über Zwei.
Dann erst traf sie im Bureau ein, wie es denn überhaupt die Angestellten nachmittags mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahmen.
Denn um zwei Uhr waren die meisten Bureauchefs und Prokuristen, die die Börse besuchten, noch beim Mittagessen. Die Junggesellen unter ihnen leisteten sich sogar noch ein Verdauungsviertelstündchen im Kaffeehaus.
Die Nachmittagsunpünktlichkeit und die darauffolgende halbe Stunde süßen Nichtstuns, das sich freilich unter dem Schein eifrigster Arbeit verbarg, war übrigens den Beamten wohl zu gönnen. Denn gegen dreiviertel drei Uhr trafen die Ausgeher