Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
ich hinüber nach dem kleinen Städtchen Bublitz, wo, wie ich wußte, eben ein Missionsfest gefeiert wurde. Die Feier neigte sich schon ihrem Ende zu. Ich band mein Pferd draußen an und trat, um doch noch einiges zu hören, in die Kirche ein. Ich merkte gleich, daß der Pastor den Text hatte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!” Herzandringend schilderte er die Not hinsiechender, sterbender, verderbender Menschenseelen und des Herrn Jammer über sie, und zuletzt fragte er mit großem Ernst, ob denn unter der ganzen Gemeinde, unter allen, die im Gehorsam gegen den Befehl Christi um Arbeiter in seine Ernte bäten, nicht auch ein solcher wäre, der sich selbst für diesen Dienst stellen wollte. Da hieß es laut in mir: „Ja, ja, ich will gern kommen.” Fröhlich, ja, frohlockend jagte ich heimwärts, um zunächst die irdische Erntearbeit in Gang zu bringen.
In fliegender Eile gingen nun die letzten Monate meiner Gramenzer Zeit zu Ende. Mein Freund Ernst Senfft kam, um mich abzulösen. Die äußeren Verhältnisse hatten sich auch weiterhin entschieden gebessert. So konnte ich, da auch einige tüchtige Wirtschaftsinspektoren gefunden waren, meinem Freunde die Aufgabe getrost in die Hand legen. Am 11. Oktober nachts schnürte ich mein Bündel. Das Andachtsbuch meiner Eltern, der liebe Bogatzky, war inzwischen auch mein Freund geworden, und es war mir eine nicht geringe Stärkung meines Glaubens, was mir Bogatzky an diesem Abend mit auf den Weg gab, Apostelgeschichte 26, 17: „Ich will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende.”
Als Student
Die kleine Schrift, die die große Entscheidung für Bodelschwingh gebracht hatte, war aus Basel gekommen. Als es sich nun für den Beginn seiner theologischen Studien um die Wahl einer Universität handelte, fühlte er sein ganzes Herz nach Basel gerichtet. Da er aber nicht lediglich einem Gefühl folgen wollte, so fragte er in Berlin seinen alten Seelsorger Snethlage um Rat. „Gehen Sie nach Basel!” sagte dieser, schickte ihn aber zu seinem Kollegen, dem Domprediger Hoffmann, der bis vor kurzem Missionsinspektor in Basel gewesen war, um auch dessen Meinung einzuholen. Auch Hoffmann sagte: „Gehen Sie nach Basel!” Und so sah er seinen Weg entschieden.
Er eilte zur Mutter. Sie stimmte der Wendung, die sein Lebensweg genommen hatte, aus tiefstem Herzen zu und sah darin die Erfüllung ihres verborgenen Herzenswunsches. Zugleich entdeckte sie ihrem Sohn, daß auch sein Vater, ohne es je seinem Kinde auszusprechen, die Hoffnung gehegt habe, daß einer seiner Söhne einmal das Studium der Theologie ergreifen möchte. Nur Ernst von Senfft war aufs tiefste erschüttert. Er hatte die geniale Begabung seines Freundes für das Praktische zur Genüge erkannt, und nun beschwor er ihn, bei dem alten Berufe zu bleiben. Er war überzeugt, daß der Entschluß seines Freundes nichts als das Aufwallen einer religiösen Stimmung sei, die ihn nur auf Abwege bringen könne.
Aber die Stimme des Freundes konnte nichts mehr ausrichten. Wichtiger als seine eigene Entscheidung war ihm die Gewißheit, daß Gott über ihn entschieden hatte. Und wenn es auch Jahre dauerte, so erlebte er es doch schließlich bei seinem Freunde Senfft, daß, wenn jemandes Wege Gott gefallen, er nicht nur seine Feinde, sondern erst recht seine Freunde mit ihm zufrieden macht.
So machte sich der im 24. Jahre stehende Student über Frankfurt a. M., wo sein Bruder Ernst stand, nach Basel auf.
„Der Aufenthalt bei meinem Bruder Ernst”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „brachte mir eine besondere Erquickung. Ich war ja so ganz mit ihm aufgewachsen, so viele Jahre lang hatten wir ein Wohn- und Schlafzimmer geteilt, so viele Wege hatten wir miteinander zur Schule gemacht. Aber nun erst konnten wir unsere Herzen ganz gegeneinander aufschließen. Ernst war von einem unbeschreiblich kindlichen Zutrauen zu mir. Wir gingen in der Nacht am Ufer des Mains auf und ab, und er erzählte mir von den schweren Kämpfen, die er habe, um seinem Versprechen nicht untreu zu werden, das er zusammen mit seinem Freunde von Oidtmann Gott gegeben hatte, daß sie in ihrem Soldatenleben nichts tun wollten, was ihr Gewissen befleckte. Er bat mich brüderlich und herzlich, ihn in diesem schweren Glaubenskampf zu unterstützen und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Er sagte mir auch, daß es ihm von ganz besonderem Segen sei, den lieben Vater, der an ihm, seinem Benjamin, wie er ihn zu nennen pflegte, mehr noch als an seinen andern Kindern gehangen hatte, im Himmel zu wissen; denn er könne sich vorstellen, daß der Vater erfahre, wie er, sein Sohn, auf Erden wandele. Und dies sei ihm eine Stärkung im guten Kampf. Auch bat er mich, ihm von Basel gute Schriften zu schicken, um mit ihnen den ihm unterstellten Soldaten zu dienen.
Am andern Tage – es war am 6. November 1854 – langte ich abends spät in Basel an, das mir nun für anderthalb Jahre eine ganz besonders reiche Segensstätte werden sollte. Ich stieg in einem kleinen Gasthof ab, der dicht am Rhein lag. Hier wurde ich gleich freudig überrascht, als ich auf meinem Nachttisch eine Bibel liegen fand, die sich als Eigentum des Wirtshauses herausstellte, und als ich von der alten Magd, die das Zimmer bediente, erfuhr, daß der Wirt in jedes Zimmer eine Bibel lege. Das war mir bis dahin auf meiner Pilgerreise noch nicht vorgekommen.
Ich fand auf dem Petersplatz bei ein paar alten Fräulein ein gar freundliches Zimmer, das ich auch die anderthalb Jahre nicht wieder verlassen habe. Die beiden alten Damen hatten eine württembergische Magd, die auch schon bei Jahren war. Sie hieß Rösli Schwarz. Es war für mich, der ich nach ernster Sammlung und stillem Studium verlangte, eine große Wohltat, durch diese Magd alle Mahlzeiten im Hause bekommen zu können, auch mein Mittagbrot. Ich hatte aber auch außerdem manchen Segen durch diese treue Person. Sie hatte eine Schwester, die an einen Missionar in Afrika verheiratet war, und sie trug die Heidenmission, die ja auch mir so sehr anlag, unablässig auf betendem Herzen. Sie war eine von den Verborgenen und Stillen im Lande, durch die Gott gewiß nicht die kleinsten Taten tut.
So oft eine frohe Nachricht aus den Heidenländern kam, konnte ich es ihr gleich anmerken; denn dann glänzte ihr Angesicht vor Freude. So oft aber auf dem Missionsfelde etwas Schmerzliches vorgefallen war, ging sie gebeugt einher als eine, die selbst an solcher Niederlage mit schuld war, weil sie, wie sie sich selbst anklagte, im Wachen und Beten nachgelassen habe. Es ist selbstverständlich, daß ich bei solchem Herzenszustande an ihr eine mütterliche Pflegerin hatte, und bis auf diese Stunde (1887), wo sie als eine bald 80 jährige Pfründnerin zu Fellbach bei Stuttgart lebt, bekomme ich von ihr alljährlich die rührendsten Gaben und Liebeszeichen. Durch sie wurde ich auch mit manchen Württemberger Zuständen näher bekannt, namentlich mit dem lieben Korntal, wo sie längere Zeit ihres Lebens gewohnt hatte.
Ebenso angenehm wie mein kleines Zimmer und meine häusliche Verpflegung war auch die Umgebung meiner Wohnung. Dicht vor meinem Fenster ragten die schönen hohen Ulmen und Linden des großen Petersplatzes empor. An der linken Seite, von der die Treppe nach der Unterstadt hinabführte, lag die Peterskirche, an der der würdige Pfarrer La Roche stand. Schaute ich rechts zu meinem Fenster hinaus, so begrenzte hier der alte Wall meine Aussicht. Ich brauchte aber nur den Kamm des Walles zu übersteigen, so sah ich auf der andern Seite des Wallgrabens den großen Friedhof der Stadt liegen und darüber hinweg die Vogesen. Wenn ich quer über den Petersplatz ging, so hatte ich von der andern Seite des Platzes aus nur noch ein kurzes Gäßchen zu durchschreiten, dann stand ich an dem schönsten Tor der Stadt, dem alten Spalentor, vor dem jetzt das neue Missionshaus liegt. Damals war jenseits des Tores noch freies Feld. So suchte ich mir dort in der Frühlings- und Herbstzeit jeden Morgen zwischen den grünen Matten die schönsten Wege auf, um in der Stille ein Kapitel in meinem griechischen Neuen Testament zu lesen. Da habe ich unbeschreiblich köstliche Feierstunden zugebracht.
Die alte Universität von Basel lag dicht über dem Rhein, oberhalb der Rheinbrücke. Die Hörsäle blickten fast sämtlich vom steilen Abhang herunter in den lieben Rheinstrom hinein, der in einem prachtvollen Bogen die Stadt durchströmt. Ein wenig oberhalb der Universität liegt das herrliche Münster von Basel, aus rotem Sandstein gebaut, in das ich oft und gern eintrat und in dem ich manche wertvolle Predigt gehört habe.
Es war damals gute Zeit in Basel, so gut, wie sie vorher und nachher Studenten vielleicht kaum erlebt haben. Ein kleiner Kreis frommer Männer hatte seit längerer Zeit aus freiwilligen Mitteln dafür gesorgt, daß immer ein entschieden biblischer Theologe an der Universität angestellt war. Als Nachfolger des trefflichen Beck, der nach Tübingen gegangen war, stand damals Professor Auberlen in seiner vollen Liebesglut. Er war einer von denen, die, wie Woltersdorf und Hofacker,