Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh

Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild - Gustav von Bodelschwingh


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fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, – denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling – wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.

      Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.

      Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.

      Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.

      Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.

      Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.

      Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.

      Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.

      Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.

      Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.

      Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”

      Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.

      Neben Hendrichs stand mir ein anderer


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