Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild. Gustav von Bodelschwingh
und den ich fast auswendig konnte. Nach einer köstlichen stillen Morgenstunde in dem Wandsbecker Waldtal wanderte ich, der Stimme eines Glöckchens folgend, in einer halben Stunde hinüber zum Rauhen Hause. Ich blieb den ganzen Tag unter der fröhlichen Kinderschar und ihren ebenso fröhlichen Pflegern und lernte an der Hand meines freundlichen Führers, des Hausvaters Pastor Riehm, die ganze Entstehung und das Wachstum der Anstalt, Station auf Station, kennen. Am Abend aber saß ich schon wieder im Postwagen und fuhr die Nacht durch hinüber nach Bremen und von da zu Schiff die Weser hinunter nach Geestemünde.
Denn zwei Stunden von Geestemünde war einer meiner Baseler Studienfreunde Pastor geworden. Er war in Basel mein englischer Lehrer gewesen. Jeden Nachmittag war er für eine Stunde zu mir gekommen, um mit mir englisch zu treiben. Er war dazumal schon 28 Jahre alt, und sein Lebensgang war sehr gewaltsam gewesen. Eines Tages, kurz vor unserm ersten Baseler Weihnachtsfest, sagte er mir einmal: „Heute vor vier Jahren brachte ich die Nacht auf einer Fleischerbank in Neu-Orleans zu. Diese Bank war damals für längere Zeit mein Nachtquartier, denn eine Wohnung besaß ich nicht. Ich lebte von Spottgedichten, die ich für die Zeitungen lieferte. Zigarren und Branntwein waren meine Hauptnahrung.”
Er war in der Schweiz als Hirtenbube in großer Armut aufgewachsen. Freunde, die seine Talente bemerkten, hatten ihn unterstützt und bis zur Universität gefördert. Mit eiserner Energie hatte er sich durch Stundengeben auf der Universität unterhalten, zu gleicher Zeit aber in seinem Trotz und seiner Wildheit solche Streiche gemacht, daß er sich unmittelbar aus dem Karzer in ein Schiff flüchtete, das ihn nach Amerika brachte. In jener tiefsten Zeit seines Lebens, als eine Bank auf dem Fleischmarkt sein Nachtquartier war, ergriff ihn Gottes Hand. Er erkrankte am gelben Fieber und stand nahe vor der Todestür. Da nahm sich ein unbekannter Fremdling, der aber ein entschiedener Jünger des Heilandes war, des gänzlich Verlassenen an. In seinem unbekannten Wohltäter trat ihm das Erbarmen mit solcher Macht vor die Seele, daß er, als er von seinem Krankenlager aufstand, entschlossen war, ein anderes Leben zu beginnen.
Da er Jurisprudenz studiert hatte, so übersetzte er nun in kurzer Zeit das Gesetzbuch des Staates Indiana ins Deutsche und erhielt dafür eine sehr bedeutende Geldsumme. Diese wollte er benutzen, um Theologie zu studieren. Allein in seinem doch noch ungebrochenen Sinn verstand er nicht, mit dem Gelde umzugehen, und als er auf deutschem Ufer landete, war fast alles Geld schon wieder seinen Händen entschwunden. So war er genötigt, in Basel in einem Studentenheim Quartier zu nehmen, wo man für ein geringes Entgelt Wohnung und Nahrung erhielt. Abgemagert, in dürftigster Kleidung, und, um durch die Kälte das Einschlafen zu verhindern, ohne wärmenden Ofen saß er oft bis drei Uhr nachts auf und arbeitete mit einem wahrhaft staunenswerten Eifer, während er bei Tage Unterrichtsstunden gab, durch die er sich das nötige Kostgeld verdiente.
Er trieb vor allem das Studium der alttestamentlichen Propheten, und ihre Donner gegen die Israeliten waren ihm ein besonderer Ohrenschmaus. Das unverständlichste Wort in der Schrift war ihm das Wort „Gnade”. „Mit diesen beiden Fäusten muß es verdient sein,” rief er einmal aus, indem er seine hageren Arme ausstreckte, die frostig aus dem dünnen Jäckchen hervorguckten.
Ein anderes Mal tat er bei der Lektüre des Wandsbecker Boten, den ich unter seiner Anleitung ins Englische übersetzte, eine Äußerung, die so wild und roh war, daß ich ihm erklärte, ich wollte nun keine Stunden mehr bei ihm haben und er solle mir nicht mehr auf mein Zimmer kommen. In wildem Zorn hatte er mich verlassen. Da, gegen Mitternacht, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Fenster geworfen wurden. Mein Freund stand unten und forderte mich auf, herunterzukommen; er habe mir etwas zu sagen. Ich tat es, und wir gingen fast bis zum Anbruch des Morgens auf dem Petersplatz auf und ab. Er bekannte, daß er bei seinem Vorsatz, mit eigener Kraft und mit eigener Vernunft Gottes Wort zu treiben und Gottes Reich zu bauen, aus der Friedelosigkeit nicht herauskomme, und versprach, es sollte anders mit ihm werden.
Vor seinem Abschied aus Basel versammelte er seine Kollegen aus dem Studentenheim und forderte sie aufs ernstlichste auf, nicht so zu studieren, wie er es gemacht habe; dabei würden sie alle verloren gehen. Er pries ihnen als das einzige Mittel der Seligkeit die freie Gnade Gottes an. Als ich ihn spät abends an seinen Postwagen brachte, sagte er zu mir: „Du siehst mich nicht wieder, oder ich bin ein anderer Mensch geworden.”
Nun nach drei Jahren sollte ich ihn wirklich wiedersehen. Er hatte in seiner ersten Stelle in der Schweiz gegen die Sünden der Regierung, namentlich ihre Sonntagsentheiligung, so geeifert, daß er infolgedessen seines Amtes entsetzt worden war. Aber Bremer Kaufleute, die ihn hatten predigen hören, hatten seine Berufung in jenes dem Staate Bremen gehörige Dorf durchgesetzt. Ich war neugierig, wie ich meinen Freund, den ich als einen blutarmen Bruder Studio verlassen hatte, nun als Pastor wiederfinden würde. Man hatte mich in Bremen schon darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Schwester bei sich habe, ein armes Schweizer Landmädchen, das ihm den Haushalt führe, und daß er mit ihr etwas tyrannisch verfahre aus Angst, sie könne vornehm und hoffärtig werden.
Ich traf meinen Freund, wie er mit strahlender Freude eben seine Hühner fütterte. Während er mich durch seinen großen Obstgarten führte, kletterte er plötzlich auf einen Apfelbaum, der voll Früchte hing, und mit gespreizten Beinen oben im Baum stehend, rief er: „Alle diese Äpfel sind mein.” Dann sprang er in ein Kartoffelfeld und rief wieder: „Alle diese Kartoffeln sind mein.” Den blutarmen Schweizerknaben, der sein ganzes Leben mit Hunger und Not gekämpft hatte, nun im Besitz eines so prächtigen Pfarrhofes zu sehen und all seine Freude zu teilen, war wirklich schön. Seine Schwester hatte uns mit aller Sorgfalt ein Mittagbrot bereitet, und ich hatte es durchgesetzt, daß sie, die sonst nur als Magd aufgewartet hatte, mit uns zu Tische saß. Am Nachmittag sollte auf dem Filialdorf eine Kindtaufe sein. Als ich nun bei Tisch die Schwester fragte, ob sie uns nicht dahin begleiten wolle, war mein Freund mit seiner Geduld am Ende. Er sprang wütend vom Tisch auf und schrie mich an: „Ich wollte, daß du zu Hause geblieben wärest. Meine Schwester soll nicht mit auf Kindtaufen gehen; dann will sie auch feine Kleider haben, und das geht nicht.” Ich war auch nicht faul und sagte: „Ich kann den Weg zu deiner Tür wohl finden. Geht deine Schwester nicht mit, dann nehme ich Abschied.” Da lenkte er ein.
Ehe wir uns zur Kindtaufe aufmachten, kamen noch Leute, die nach Amerika auswandern wollten. Für diese Auswanderer herrschte die schöne Sitte, daß sie vor ihrem Abschied noch einmal im Pfarrhause das Abendmahl feierten. Vom Nebenzimmer aus hörte ich die Beichtrede meines Freundes über die Worte: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen greulich. Der Herr aber ist noch größer in der Höhe.” Da zeigte sich die ganze gewaltige Größe des Mannes. Mit erschütterndem Ernste konnte er Buße predigen und in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens hinabsteigen, aber ebenso gewaltig dann auch von der Gnade Zeugnis ablegen, die viel größer ist als unsere Sünde.
Wir hatten dann einen schönen Weg durch Feld und Wald zur Kindtaufe und einige friedsame Abend- und Morgenstunden, in denen mein Freund ganz besonders köstlich und kräftig den Reichtum der Gnade Gottes zum Gegenstande seiner Andachten und Gespräche machte. Dann ließ er mich in Frieden pilgern. Gott hat an diesem merkwürdigen Mann noch viel und ernst zu arbeiten gehabt, bis wirklich die Gnade das stolze Herz zerbrochen und die Schlacken im Schmelztiegel ausgeschmolzen hatte.
Als ich von da zu meiner lieben alten Mutter nach Velmede zurückgekehrt war, fand ich einen Brief eines andern Baseler Freundes vor, der mir mitteilte, daß er eben in Straßburg sein Examen bestanden habe und bereit sei, meiner Einladung zu folgen und mich in Westfalen aufzusuchen. Es war mein Freund Jules Steeg, mit dem ich in Basel auf eine merkwürdige Weise zusammengeführt worden war. Für jenen unglücklichen Pfarrersohn, der später in der Fremdenlegion so schmerzlich endete, hatte ich in demselben Hause, wo ich in Basel wohnte, ein Zimmer gemietet. Ich hoffte, ihn so etwas mehr unter Augen zu haben und ihm in seiner Not gründlicher beistehen zu können. Aber die Sache hatte sich zerschlagen. Da jedoch das Stübchen einmal gemietet war, so war ich in das nahe Studentenheim gegangen und hatte gebeten, den ersten Studenten, der eine Wohnung suche und sie im Studentenheim nicht mehr bekommen könne, zu mir zu schicken.
Wenige Stunden darauf trat ein zartes Männchen bei mir ein, bräunlich wie David, mit schwarzen Haaren, aber herzinnig freundlichen Antlitzes, das nicht nur große Intelligenz, sondern auch Feuer der göttlichen Liebe verriet, das aus seinen Augen strahlte. Er fragte in seinem gebrochenen Deutsch nach dem leeren Zimmer, und wir waren schnell