Der Sinn und Wert des Lebens. Eucken Rudolf
Besitz zu einem schweren Problem geworden; auch das Ewige, was sie enthalten mag, hat sich der Gegenwart neu zu bewähren, es ist zu einer offenen Frage geworden.
Die Lebensordnung des weltlichen Idealismus
Die Verwicklungen der Religion zu vermeiden, ohne die Tiefe des Lebens zu mindern, glaubt ein der Welt zugekehrter, sie umfassender und durchdringender Idealismus, ein Idealismus, der mit seiner Entfaltung einer Geisteskultur seit Jahrtausenden eine selbständige Art neben der Religion entwickelt, bald sie freundlich ergänzend, bald ihr als Feind begegnend. Die Lebensordnung des Mittelalters hatte diesen Idealismus ihren eigenen Überzeugungen angegliedert, die Neuzeit gab ihm eine wachsende Selbständigkeit, so daß er sich schließlich der Religion überlegen fühlte und ihr die Beherrschung des Lebens bestreiten konnte. Auch dieser Idealismus nimmt seinen Standort in einer unsichtbaren Welt, aber ihm bedeutet diese nicht ein neben dem sinnlichen Dasein befindliches, von ihr abgelöstes Reich, sondern seinen eigenen Grund, seine belebende Seele; daß das All nicht in das Nebeneinander der einzelnen Erscheinungen aufgeht, sondern eine dem äußeren Auge verborgene Tiefe besitzt, daß es ein Ganzes bildet und ein inneres Leben führt, das ist die Grundüberzeugung, mit der diese Lebensordnung steht und fällt. Aus solcher Überzeugung verbindet dieser Idealismus den Menschen eng mit dem All und läßt ihn sein Leben aus diesem schöpfen, aber zugleich gewährt er ihm eine einzigartige Stellung und ein ausgezeichnetes Werk. Denn alles Untermenschliche scheint das Leben bewußtlos und aus dunklem Zwange zu führen, es verwandelt das Vermögen des Ganzen nicht in den Besitz der einzelnen Stelle; dies aber geschieht beim Menschen, der den Gedanken des Ganzen denkt und dieses selbst damit weiterführt. Erst bei ihm erhebt sich die Welt zu voller Klarheit und Freiheit und erlangt damit ihre Vollendung; der Mensch darf groß von sich denken, indem sein Wirken so viel für das Ganze bedeutet.
Diese Lebensordnung bewegt sich vornehmlich um den Gegensatz von Innerem und Äußerem, von unsichtbarer und sichtbarer Welt. Das Innere hat als der Hauptträger des Lebens das Äußere zu ergreifen und zu beseelen, es tut das namentlich in Kunst und Wissenschaft, aber auch durch Entwicklung einer in der menschlichen Natur angelegten Moral; das Äußere aber ist unentbehrlich, um das Innere von mattem Umriß zu voller Durchbildung zu bringen. So entsteht ein geistiges Schaffen, das, getragen von einer Weltvernunft, gegenüber der gebundenen Natur, auch gegenüber der äußeren Ordnung des Menschenlebens, wie die Zivilisation sie vertritt, ein höheres Leben schafft, eine Geisteskultur, deren Wahres, Schönes, Gutes den Menschen den reichsten Gehalt gewinnen und den ganzen Umkreis des Daseins veredeln läßt. Dieses Leben bedarf keines außer ihm gelegenen Lohnes und ist nicht auf einen Nutzen gerichtet, es findet vollste Befriedigung in seiner eigenen Entfaltung und freudigen Selbstanschauung; bei unablässigem Wirken ruht es sicher im eigenen Wesen und bewahrt bei allem Streben ins Weite einen beherrschenden Mittelpunkt.
Dies Leben ist verschiedener Färbungen fähig, je nachdem Wissenschaft, Kunst oder Moral den leitenden Grundton geben, und an Kämpfen im eigenen Bereich hat es ihm nicht gefehlt. Aber alle Mannigfaltigkeit beläßt ihm der Religion gegenüber eine eigentümliche Art. Die Religion ist mehr auf die Schärfung, die Weltkultur mehr auf die Ausgleichung der Gegensätze bedacht; jene richtet das Leben auf einen Punkt, diese gibt ihm mehr Weite; jene sieht mehr Schwäche und Kleinheit, diese mehr Kraft und Größe am Menschen; ist sie es doch, die vor allem das Menschsein zu einem hohen Wertbegriff erhoben und Achtung vor allem geweckt hat, was menschliches Angesicht trägt; jene findet den Weg zur Lebensbejahung erst durch schwere Erschütterung und herbe Verneinung hindurch, diese glaubt sie durch vollste Anspannung eigener Kraft unmittelbar vollziehen zu können; jener gilt das Böse mehr als eine Verderbtheit, dieser dagegen als eine Schwäche und Mattheit des Wollens. Vielleicht mag ein Leben weiterer Art den Gegensatz umspannen und zu einer Ausgleichung führen, zunächst ist ein weites Auseinandergehen nicht zu verkennen.
Dieser weltliche Idealismus gewann eine besondere Höhe im altgriechischen Leben; im Mittelalter ein bloßer Nebenstrom, brach er in der Neuzeit mit frischer Kraft hervor, aus ihm entsprang bei uns Deutschen die Epoche geistigen Schaffens, welche wir unsere klassische nennen, und die uns den Ruf eines Volkes der Dichter und Denker eintrug.
Von den reichen Schätzen, welche die Gesamtbewegung des weltlichen Idealismus mit ihrer Geisteskultur erzeugte, zehren wir heute alle, und können uns gar nicht denken, wie sie zu entbehren wären. Aber mit dem Anspruch, das Leben zu führen, ist es dem weltlichen Idealismus nicht anders ergangen als der Religion: die Grundlage wurde erschüttert, das Grunderlebnis verdunkelt; so erhielten feindliche Mächte die Oberhand und vertrieben diese Gestaltung aus dem Mittelpunkte des Lebens. Daß die Welt eine Tiefe habe, und daß diese dem Menschen zugänglich sei, das ist jetzt dem vorwiegenden Zuge des Lebens nicht minder zweifelhaft geworden als die Grundwahrheiten der Religion. Der weltliche Idealismus hatte stets Mühe, seine Behauptung in vollem Sinne zu erhärten. Eine sichere Überzeugungskraft gaben ihm nur besondere Höhepunkte geistigen Schaffens, seltene Sonn- und Festtage der Menschheit, wo eine Gunst des Schicksals mit hohen Aufgaben der weltgeschichtlichen Lage selbstwüchsige Persönlichkeiten großen Stils zusammenführte; dann wurde allerdings eine unsichtbare Tiefe der Welt zu allergewissester Nähe und zum sicheren Standort des Handelns. Aber solche schaffenden Zeiten sind Ausnahmezeiten, und der Alltag übt sein Recht, jenes hohe Leben sinkt und zugleich sein Vermögen, den ganzen Menschen an sich zu ziehen und einzunehmen; aus der eigenen Betätigung wird dann ein bloßes Aneignen und Genießen überkommener Schätze, es verflacht damit das geistige Schaffen unvermeidlich zu einer bloßen Bildung, einer geschmackvollen Formung des Lebens; gewiß hat auch eine solche ihren Wert, aber sie bewegt nicht die letzten Tiefen des Lebens, und sie ist dem Dunklen, ja Dämonischen in der Menschennatur bei weitem nicht gewachsen; sie befreit nicht genügend von innerer Leere, und sie erleidet leicht dadurch Schaden an ihrer Wahrhaftigkeit, daß sie oft weniger aus einer Notwendigkeit eigenen Verlangens als der sozialen Umgebung halber gesucht wird. Alles in allem erscheint die Bildung mehr als ein Leben aus zweiter Hand, ein solches aber kann schwer den Angriffen Widerstand leisten, welche der Grundbehauptung erwachsen.
Der Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts hat diese Angriffe mächtig anschwellen lassen. Zunächst wirkt die Erschütterung der Religion auch zu einer Schwächung des weltlichen Idealismus. Denn seine Überzeugung von einer Tiefe des Alls und von dem Walten eines unsichtbaren Ganzen hat die Menschheit meist nur im Anschluß an eine religiöse Überzeugung gewonnen, nur eine solche machte den Bruch mit der sichtbaren Welt auch dem Einzelnen zur zwingenden Notwendigkeit, und die Veredlung, welche jener Idealismus an der Welt vollzieht, ist kaum denkbar ohne das verklärende Licht, das die Überwelt der Religion auf diese wirft; je mehr die Zurückdrängung der Religion dieses Licht verblassen läßt, desto mehr verliert auch jener seine leitende Stellung im Leben, wird er aus dessen Mittelpunkte an die Außenseite gedrängt. Sodann aber hat die neueste Zeit der sichtbaren Welt eine Selbständigkeit gegeben, welche sie nie zuvor für uns hatte; immer energischer hat die wissenschaftliche Arbeit aus ihr alles Seelenleben vertrieben, dafür aber ein neues Reich reiner Tatsächlichkeit eröffnet und aus ihm eine überströmende Fülle neuer Aufgaben abgeleitet, deren Lösung das menschliche Wohlsein aufs erheblichste zu steigern verspricht. Zugleich hat die Forschung die Besonderheit und Gebundenheit des menschlichen Lebens und Strebens aufs stärkste hervorgekehrt, es scheint ihr in enge Schranken gebannt und dadurch gänzlich verhindert, jene Welt starrer Tatsächlichkeit sich innerlich anzueignen und ihre Unermeßlichkeit als ein Ganzes zu erleben; sie wird bei aller äußeren Annäherung unserer Seele immer fremder. Kann ein solcher Gedankengang im Menschen den Vollender des Weltalls sehen? Aber mehr als alles das widersprechen dem weltlichen Idealismus im modernen Leben die Erfahrungen innerhalb der Menschheit selbst. Es erschien hier so viel wilde Leidenschaft und unbegrenzte Selbstsucht, so viel Kleinheit der Gesinnung, so viel moralische Unlauterkeit, so viel Mangel an geistiger Größe und an Kraft der Persönlichkeit, es stellte sich das menschliche Dasein so sehr als ein wirres Chaos dar, daß alle Hoffnung verflog, in ihm ein Reich der Vernunft entdecken oder es in ein solches verwandeln zu können. Wie vermöchte sich aber bei solcher Lage geistiges Schaffen und edle Bildung als der Kern des Lebens zu behaupten? Auch der gegenwärtige Krieg muß den Eindruck ihrer Ohnmacht über die menschliche Seele verstärken. Wäre eine gemeinsame Vernunft die Grundkraft menschlichen Lebens, so müßte sie die Menschheit zusammenhalten und einen etwaigen Zwiespalt rasch überwinden, sie müßte allem Rohen und Gemeinen siegreich widerstehen, das an einzelnen Stellen erscheinen