Visionen und andere phantastische Erzählungen. Turgenev Ivan Sergeevich

Visionen und andere phantastische Erzählungen - Turgenev Ivan Sergeevich


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der Laden wurde wieder zugeschlagen, und der Lichtschein wurde auf einmal matter, als ob man die Lampe in ein anderes Zimmer getragen hätte. Ich blieb unbeweglich stehen und konnte lange nicht zu mir kommen. Das Gesicht der Frau, das ich in diesem kurzen Augenblick gesehen hatte, war unbeschreiblich schön. Es war viel zu schnell meinen Blicken entschwunden, als daß ich mir jeden einzelnen Zug hätte merken können; doch der ganze Eindruck war ungemein stark und tief… Ich hatte schon damals das Gefühl, daß ich dieses Gesicht nie vergessen werde… Das Mondlicht übergoß die Wand des Pavillons und fiel gerade auf jenes Fenster, in dem ich sie erblickt hatte; mein Gott! – wie wunderbar glänzten im Mondlicht ihre großen dunklen Augen! Wie herrlich fielen ihre halbaufgelösten, schwarzen Flechten auf die runde Schulter herab! Wie viel verschämte Zärtlichkeit lag in der leichten Neigung ihres Oberkörpers, wie viel Liebessehnsucht in ihrer Stimme, als sie mich anrief, – wie hell klang das rasche Flüstern! Nachdem ich noch recht lange an dieser Stelle gestanden hatte, trat ich etwas zur Seite, in den Schatten der gegenüberliegenden Mauer und blickte von dort aus verständnislos und etwas blöde auf den Pavillon. Ich lauschte… lauschte gespannt und aufmerksam… Ich glaubte hinter dem dunkel gewordenen Fenster bald ein leises Atmen zu hören, bald ein seltsames Rascheln und ein leises Lachen. Plötzlich hörte ich in der Ferne Schritte… sie kamen immer näher; am Ende der Straße zeigte sich ein Mann von gleichem Wuchse wie ich; er kam mit schnellen Schritten zu der Pforte, die in der Mauer dicht neben dem Pavillon angebracht war und die ich vorher nicht bemerkt hatte, klopfte zweimal, ohne sich umzublicken, mit dem eisernen Ring, wartete eine Weile, klopfte noch einmal und stimmte leise an: »Ecco ridente…« Die Pforte ging auf und er schlüpfte lautlos hinein. Ich fuhr auf, schüttelte den Kopf, spreizte die Arme auseinander, drückte mir den Hut in die Stirne und ging ziemlich mißvergnügt nach Hause. Am nächsten Tage ging ich bei der gräßlichen Sonnenglut wohl zwei Stunden lang in der Straße am Pavillon auf und ab, doch ohne jeden Erfolg. Am gleichen Abend verließ ich aber Sorrent, ohne Tassos Haus besichtigt zu haben.

      Mag sich nun der Leser das Erstaunen vorstellen, das mich ergriff, als ich in der Steppe, in einer der gottvergessensten Gegenden Rußlands die gleiche Stimme und das gleiche Lied wiedererkannte… Jetzt wie damals war es in der Nacht; wie damals erklang die Stimme ganz plötzlich aus einem erleuchteten unbekannten Zimmer; wie damals war ich ganz allein. Das Herz klopfte mir und ich fragte mich, ob das Ganze nicht ein Traum sei. Da erklang das letzte »Vieni«… Wird denn auch jetzt das Fenster aufgehen? Wird sich wieder eine Frauengestalt zeigen? Das Fenster ging auf. In seinem Rahmen erschien eine Frau. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich fünfzig Schritt von ihr entfernt war, obwohl der Mond in diesem Augenblick von einem leichten Wölkchen verdeckt war. Es war sie, meine Unbekannte aus Sorrent. Diesmal streckte sie aber nicht wie damals ihre entblößten Arme vor sich aus, sondern hielt sie auf dem Fensterbrett gekreuzt und blickte stumm und unbeweglich in den Garten. Ja, sie war es, es waren ihre unvergeßlichen Züge, ihre unvergleichlichen Augen. Sie trug wieder ein weites weißes Gewand, schien aber etwas voller als in Sorrent. Ihr ganzes Wesen atmete Siegesbewußtsein und Liebe, triumphierende, ruhige, glückliche Schönheit. Sie blieb ziemlich lange unbeweglich am Fenster stehen, blickte dann ins Innere des Zimmers zurück, richtete sich plötzlich auf und rief dreimal mit lauter und heller Stimme: »Addio!« Die herrlichen Töne ihrer Stimme hallten weit durch die Nacht, zitterten lange nach und erstarben über den Linden des Gartens, im Felde hinter mir und überall. Alles um mich her wurde für einige Augenblicke von dieser Frauenstimme erfüllt, alles widerhallte die Stimme, sie selbst schien in allen Dingen zu tönen… Sie schloß das Fenster, und nach einigen Augenblicken erlosch auch das Licht im Hause.

      Als ich wieder zu mir kam – ich muß gestehen, daß es noch eine ganze Weile dauerte – ging ich sofort am Garten entlang zum versperrten Tor und blickte über den Zaun. Im Hofe konnte ich nichts Außergewöhnliches wahrnehmen; in einer Ecke stand unter einem Schuppen ein Reisewagen. Der Vorderteil des Wagens war mit Straßenkot bespritzt und schien im Mondlichte grellweiß. Die Läden des Hauses waren wie immer geschlossen. Ich vergaß vorher zu sagen, daß ich vor diesem Tage eine ganze Woche nicht in Glinnoje gewesen war. Ich ging über eine halbe Stunde ganz verdutzt vor dem Zaune auf und ab, so daß ich zuletzt die Aufmerksamkeit des alten Hofhundes auf mich lenkte; er bellte mich aber nicht an, sondern sah mich ungewöhnlich ironisch mit seinen zusammengekniffenen halbblinden Augen an. Ich verstand den Wink und zog mich zurück. Ich war aber noch nicht eine halbe Werst gegangen, als ich plötzlich hinter mir den Hufschlag eines Pferdes hörte… Nach einigen Augenblicken sprengte ein Reiter auf einem Rappen an mir vorbei; für einen kurzen Augenblick wandte er mir sein Gesicht zu, so daß ich unter der tief in die Stirne gedrückten Mütze eine Adlernase und einen schönen dichten Schnurrbart sehen konnte; er schwenkte vom Wege nach rechts ab und verschwand sofort im Walde. »Das ist er also,« sagte ich mir mit einem eigentümlichen Gefühl. Ich glaubte ihn erkannt zu haben; seine Figur erinnerte wirklich an die des Unbekannten, den ich zu Sorrent in die Gartenpforte eintreten gesehen hatte. Nach einer halben Stunde war ich schon in Glinnoje. Ich weckte meinen Quartierwirt und begann ihn sofort auszufragen, wer im Nachbarsgute angekommen sei. Als er endlich begriff, was ich von ihm wollte, antwortete er mir, daß die Gutsherrinnen eingetroffen seien.

      »Was für Gutsherrinnen?« fragte ich ungeduldig.

      »Nun, die Herrschaften,« antwortete er sehr träge.

      »Ja, was für Herrschaften?«

      »Nun, wie Herrschaften eben sind…«

      »Sind sie Russinnen?«

      »Was denn sonst? Selbstverständlich Russinnen.«

      »Nicht Ausländerinnen?«

      »Wie?«

      »Sind sie schon lange hier?«

      »Nein, erst seit kurzem.«

      »Bleiben sie lange hier?«

      »Das weiß ich nicht.«

      »Sind sie reich?«

      »Auch das weiß ich nicht. Vielleicht sind sie reich.«

      »Ist nicht auch ein Herr mit ihnen gekommen?«

      »Ein Herr?«

      »Ja, ein Herr!«

      Der Schulze seufzte auf.

      »O Gott!« sagte er gähnend. »N–n–nein, ein Herr ist nicht dabei… Ich glaube nicht, daß einer dabei ist. Ich weiß es nicht!« fügte er plötzlich hinzu.

      »Was gibt es hier noch für Nachbarn in der Nähe?«

      »Was für Nachbarn? Nun, es sind eben verschiedene da.«

      »Verschiedene? Und wie heißen sie?«

      »Wer – die Gutsherrinnen oder die Nachbarn?«

      »Die Gutsherrinnen.«

      Der Schulze seufzte wieder auf.

      »Wie sie heißen?« murmelte er. »Gott weiß, wie sie heißen! Die Ältere heißt, glaube ich, Anna Fjodorowna, und die Jüngere… Nein, ich weiß nicht, wie die Jüngere heißt.«

      »Weißt du wenigstens, wie sie mit ihrem Familiennamen heißen?«

      »Familiennamen?«

      »Ja, mit dem Familiennamen, dem Zunamen.«

      »Zunamen… Ja so. Das weiß ich bei Gott nicht.«

      »Sind sie noch jung?«

      »Nein, das nicht.«

      »Wie alt?«

      »Ja, die Jüngere wird so über die Vierzig sein.«

      »Es ist alles nicht wahr, was du mir sagst.«

      Der Schulze schwieg eine Weile.

      »Nun, Sie werden es wohl besser wissen. Ich weiß von nichts.«

      »Von dir werde ich wohl doch nichts anderes zu hören bekommen!« rief ich geärgert aus.

      Da ich aus Erfahrung wußte, daß man von einem Russen, wenn er schon einmal angefangen hat, solche Antworten zu geben, nichts herausbekommen kann (ich hatte übrigens den Mann aus dem tiefsten Schlafe geweckt, er war noch ganz verschlafen und fiel bei jeder Antwort, die er mir gab, ein wenig vorn über, während seine Augen kindliches Erstaunen


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