Gesammelte Schulhumoresken. Eckstein Ernst
seiner Tante, bei der er zur Miete wohnte, einen gestohlen. Und nun sollte unser guter Freund Boxer für alle diese Streiche verantwortlich gemacht und vielleicht mit einer mehrtägigen Karzerstrafe belegt werden! Es war nicht zu verlangen, daß wir unser reizendes Amüsement aufgaben; aber ebensowenig durften wir Boxer zumuten, um unseres Gaudiums willen die Räume des Karzers zu beziehen.
Wir überlegten hin und her, ohne zu einem Resultat zu gelangen.
Plötzlich sagte Boxer: »Laßt mich nur machen!«
Am folgenden Tage arrangierten wir die Bescherung, wie verabredet. Boxer war der emsigste, und in der Tat, es war keine kleine Arbeit, denn wir mußten die Eimer glasweise füllen, weil der Pedell sonst Lunte gemerkt hätte. Einer von uns stand Wache, um das Herannahen des Herrn Pastors rechtzeitig anzukündigen.
»Er kommt!« rief es jählings aus dem Munde unseres Warners.
Sofort ergriff Boxer seine Mütze, nahm einen möglichst starken Stoß Bücher unter den Arm und verließ das Lehrzimmer, um sich auf dem Korridor hinter einen der größten Schränke zu stellen.
Zwei Minuten später erschien der Lehrer, und unmittelbar hinter ihm her tappte keuchend und atemlos unser trefflicher Freund Boxer, die Bescherung auf dem Katheder genau ebenso verblüfft anstarrend, wie der Herr Pastor.
– »Boxer! Wo ist der Boxer?« zürnte der entrüstete Schulmann.
»Hier!« rief es hinter ihm. »Entschuldigen Sie, daß ich mich heute verspätet habe.«
Der Herr Pastor biß sich ärgerlich auf die Lippe. Der Tatsache gegenüber, daß Boxer fast mit ihm zugleich ins Zimmer getreten war, konnte er seine Drohung von gestern nicht wohl verwirklichen.
»Heute brauche ich die Eimer wohl nicht auszuleeren?« fragte Boxer triumphierend.
»Schwarz,« sagte der Lehrer, »rufen Sie einmal den Pedell.«
Der Pedell erschien.
»Quaddler,« begann der Herr Pastor in ernstem Tone, »nehmen Sie einmal diese Gefäße da hinweg. Ich mache Sie von jetzt ab dafür verantwortlich, daß solche Ungehörigkeiten sich nicht wiederholen. Stellen Sie sich an den Brunnen, damit kein Wasser geschöpft werden kann, oder lassen Sie Ihre Frau Wache halten. Wozu sind Sie verheiratet?«
»Entschuldigen Sie gütigst,« stammelte Quaddler in höchster Verwirrung, »aber meine Frau war gerade damit beschäftigt, sich anzukleiden, und da mußte ich Kaffee brennen.«
»Brennen Sie Ihren Kaffee von sieben bis acht! Kommen Sie vorher Ihren Pedellpflichten nach! Was ist das für eine Art! Die Eimer da können doch nur von Ihnen herrühren! Warum geben Sie nicht besser auf Ihre Küchengerätschaften acht?«
Quaddler näherte sich dem Katheder.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er. »Das sind allerdings sozusagen zwei Eimer, aber zwischen Eimer und Eimer ist ergebenst ein Unterschied. Meine Eimer sind ganz anders. Und wenn die Herren Sekundaner hinter meinem Rücken solche Sachen da mitbringen …«
»Seien Sie still und machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich hinauskommen. Die Eimer können Sie behalten, denn wenn dieselben auch nicht Ihrer Küche entstammen, so bezweifle ich doch, daß die wahren Besitzer sich melden werden.«
Und Quaddler nahm die Eimer und verschwand in den Gängen des Schulgebäudes. Der Herr Pastor irrte sich indes, wenn er glaubte, über fremdes Eigentum so ohne weiteres verfügen zu dürfen. Die Tante meines Freundes Schwarz machte bei der Polizei die Anzeige, es sei ihr am Nachmittage des Dreizehnten ein Eimer gestohlen worden. Die Behörden stellten umfassende Recherchen an; Quaddler mußte zu wiederholten Malen auf das Gericht, und selbst der Herr Pastor ward eidlich vernommen. Schwarz brauchte nicht zu schwören, denn er ist erst fünfzehn Jahre alt, und so lief die Sache höchst günstig ab. Fortes fortuna juvat.
Doktor Veit.
Eine Porträt-Skizze
Zu den reinsten Genüssen meiner Schuljahre zähle ich den Unterricht des originellen Mathematiklehrers Doktor Veit, der uns von Quarta bis Obersekunda den Pfad zur Vollendung führte. Man verbindet gewöhnlich mit dem Begriffe des Mathematikers die Vorstellung eines regelrecht konstruierten Behälters öder, lebloser Formeln: nur im äußersten Winkel dieses Behälters lauert die Individualität eines menschlich fühlenden Wesens. Unser lieber, trefflicher Veit war die verkörperte Widerlegung dieser einseitigen Theorie. Kein Zug seiner charaktervollen Erscheinung erinnerte an die Schablone. Seine innere und äußere Physiognomie entfernte sich himmelweit von jenen typischen Schreckbildern, die alles auf Gleichungen zurückführen, die selbst in der Liebe von positiven und negativen Größen phantasieren und die Erkorene mit dem Parallelogramm der Kräfte an die hochklopfende Brust ziehen. Doktor Veit war vielmehr ein erquickliches Original, in derber Holzschnittmanier ausgearbeitet, aber nirgends geometrisch korrekt. In seinen Lehrstunden herrschte durchaus nicht der Ton der reinen Mathematik. Sein Vortrag war reich an subjektiven Streiflichtern, an reizvollen Impromptus, an ergötzlichen Zwischenfällen …
Erst in Sekunda lernten wir diesen Mann nach dem ganzen Umfange seiner Vorzüge schätzen.
Wenn es elf schlug, und der Xenophon-Interpret, »froh der bestandenen Gefahr,« von hinnen geeilt war, dann erschien in der Tür eine mittelgroße Gestalt mit rötlich angestrahltem Gesicht, den Hut ein wenig im Nacken, um die Lippen ein freundliches Lächeln. Rasch warf er die Kopfbedeckung auf den Tisch neben dem Eingang und schritt beweglich nach dem Katheder, ohne nach pädagogischer Würde zu haschen, ohne in professorenhafter Manier den Rock zuzuknöpfen, ohne an der Brille zu rücken. Mit prüfendem Blick musterte er die lebhaft plaudernde Versammlung und nahm dann halb wie im Traum den Schwamm, der neben der Kreide lag, um ihn mit Wasser zu sättigen. Allerlei groteske Figuren beschreibend, wischte er die große Schultafel ab; dann kehrte er sein freundliches Antlitz von neuem dem schwatzhaften Publikum zu, trommelte mit den Fingern auf die Holzfläche des Katheders und nickte still vor sich hin …
Das währte so drei, vier Minuten. Plötzlich schien er sich zu besinnen, weshalb er hierher gekommen. Mit der Faust auf die Fläche des Lehrpultes schlagend wie ein Tambour, der die Kolonne zum Sturme führt, rief er mit Donnerstimme:
»Allez! vite! vite! vite! wacker! wacker! wacker! Boxer, komme Se mal raus an die Tawel!«
Diese Wendung kehrte in ähnlicher Form als Einleitung zu jeder Lehrstunde wieder. Doktor Veit vermochte sich nämlich gewisser dialektischer Eigentümlichkeiten nie zu entschlagen, namentlich in erregter Stimmung; wenn er im Eifer des Dienstes erglühte, wenn der Zorn ihm die Nerven schüttelte, stets verfiel er dem Banne der Mundart, und seine Mundart war nicht die gefeilteste. In grammatikalischer wie in lexikographischer Hinsicht borgte er bei dem Volke. So ergoß sich ein Hauch echter Urwüchsigkeit und reinen, gediegenen Menschentums über die exklusive Klassizität unseres Gymnasialkatheders.
Boxer stand auf und trat an die »Tawel«, die rechts vom Katheder auf den Holzzapfen der Staffelei ruhte …
»Ich bitt' mer jetzt aus, daß Ihr Ruh' halt't!« rief Doktor Veit kategorisch den hinteren Bänken zu. »Na, Boxer! Allez! vite! vite! Hier ist die Kreide! Schreibe Se emal folgende Gleichung!«
Boxer schrieb und begann hierauf zu Nutz und Frommen der Klasse die Auflösung.
»Halt' mer emal die Gäul' an!« unterbrach ihn Doktor Veit mit der naiv-herzlichen Frische des Volkes. »Möricke, habe Sie das verstande?«
»Jawohl, Herr Professor.«
»So rekapituliere Sie's!«
Möricke versuchte, die mathematischen Wege seines Freundes Boxer nachzuwandeln; bald aber geriet er ins Stolpern.
»Ui! ui, ui! …« rief Doktor Veit abwehrend. »Sie lerne auch Ihr Lebdag nix, Möricke! – Boxer, erkläre Sie's noch emal!«
Boxer begann von neuem und führte die Aufgabe siegreich zum Schlusse.
»'s war gut. Gehn Se auf Ihren Platz. Wenn der Hutzler halb so viel wüßt' wie der Boxer, so wüßt' er zehnmal so viel wie der Möricke.«
»Oh!« erwiderte Möricke, »ich hatte mich bloß versehen. Die Tafel blinkt so, und da hatte ich das x für ein