Der Erbe. Dritter Band.. Gerstäcker Friedrich
die Sache aufzugeben, als das Mädchen zufällig einen auf dem Tisch stehenden Blumentopf in das andere Zimmer getragen hätte, und von dem Augenblicke an war es, als ob ein Bann von den Karten genommen sei. Sie fielen ordentlich wie ein Buch, in dem man ganz bequem lesen konnte.
Alle möglichen Versuche wurden deshalb jetzt auch hier gemacht: die Blumen sämmtlich entfernt, die Stühle herumgedreht, der Tisch selbst ward anders gestellt; aber es half nichts: die Kartenblätter wollten keine Vernunft annehmen, als die Frau Räthin endlich der Sache müde und zu einem verzweifelten Entschluß kam.
»Hören Sie, Frau Staatsanwalt,« sagte sie – es war indessen auch dunkel geworden, und das Mädchen hatte eben die Lampe hereingebracht – »ich wollte Ihnen schon lange einen Vorschlag machen, aber ich habe mich immer nicht getraut. Ich wüßte Jemanden, der uns aus der Noth helfen könnte.«
»Und wer ist das?« fragte die Frau Staatsanwalt.
»Die Heßberger, des Schusters Frau – die versteht das aus dem Grunde, und mir – das versichere ich Ihnen – hat sie schon merkwürdige Dinge prophezeit.«
»Und ist es eingetroffen?«
»Auf's Haar, sage ich Ihnen, auf's Tittelchen. Nein, einmal – das war zu merkwürdig – da fehlte mir ein silberner Theelöffel und ich ging zu ihr, und blos aus den Karten sagte sie mir, daß ich morgen früh mit Tagesanbruch in meinen Holzstall unten im Hof gehen sollte, dort würde ich ihn finden – und wahrhaftig, wie ich am andern Morgen hinuntergehe, liegt er mitten drin, und wie er dahin gekommen ist, weiß ich bis auf den heutigen Tag noch nicht!«
»Das ist in der That sonderbar…«
»Und ehe mein Männi neulich krank wurde, wo er sich so heftig übergeben mußte, hat sie mir fast die Stunde vorhergesagt und mir auch gleich eine Medicin mitgegeben, die ich ihm vorher heimlich in den Wein schütten mußte, damit es ihm nichts weiter schadete, und ich sage Ihnen, nach zwei oder drei Stunden war er wieder gesund wie ein Fisch und eben so naß, denn ich hatte ihn tüchtig schwitzen lassen.«
»Ja, wenn wir die Frau nur einmal auf eine halbe Stunde hier hätten!« sagte Frau Witte. »Aber ich darf es nicht wagen, denn wenn es nachher durch einen Zufall mein Mann erführe, so könnte ich sicher sein, daß er ein volles Jahr darüber zankte und raisonnirte.«
»Sie geht auch nicht zu den Leuten in's Haus,« bemerkte die Frau Räthin, »eben der häufigen Störungen wegen, denen sie dort durch irgend einen fremdartigen Gegenstand ausgesetzt ist. Wenn wir aber nun einmal zu ihr gingen – bei ihr ist Alles darauf eingerichtet, und kein Mensch brauchte ein Wort davon zu erfahren.«
»Um Gottes willen,« rief die Frau Staatsanwalt, schon von dem Gedanken erschreckt, »nachher möchte ich meinen Mann sehen!«
»Und was braucht der davon zu wissen?« sagte Madame Frühbach. »Ich bin oft und oft schon dort gewesen, es ist ein ganz anständiges Haus, und in einer Stunde wäre die ganze Sache abgemacht.«
»Und wenn sie nachher darüber spricht und es weiter erzählt?«
»Da kennen Sie die Heßberger schlecht,« sagte die Frau Räthin; »eher ließe sie sich todtschlagen. Die ist berühmt wegen ihrer Verschwiegenheit, und das ja auch nur zu ihrem eigenen Vortheile; denn sie weiß recht gut, daß sie ihre ganze Kundschaft verlieren würde, wenn sie nur ein einziges Mal plauderte.«
»Aber, liebe Frau Räthin, ich kann doch nicht meiner Schustersfrau einen Besuch abstatten?«
»Aber das ist ja doch kein Besuch, Frau Staatsanwalt; der Schuhmacher Heßberger arbeitet ja auch für uns, und ich bin ebenfalls hingegangen. Und dann braucht sie noch gar nicht einmal zu wissen, wer Sie sind – Sie nehmen einen dichten Schleier vor und setzen Ihre Kapuze auf. Sehr viele Damen kommen dort tief verschleiert hin – Damen aus den allerhöchsten Ständen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe selber schon einmal die Frau Präsidentin dort getroffen, aber das ganz unter uns, denn ich that natürlich gar nicht, als ob ich Sie erkannte; aber Sie wissen wohl, sie hinkt ein bischen, hat wenigstens so einen krummen Gang, und dann müßte ich auch blind sein, denn wir haben ja eine und dieselbe Putzmacherin, und ich erfahre immer Alles, was sie sich machen läßt.«
Das Mädchen kam herein, um das Kaffeegeschirr hinauszutragen.
»Ist mein Mann zu Hause?«
»Nein, Frau Staatsanwalt; er ist vor etwa einer halben Stunde fortgegangen, und hat gesagt, Sie möchten heute Abend nicht auf ihn mit dem Thee warten, da er etwas Wichtiges zu thun habe.«
Die Frau Räthin warf ihrer Freundin einen triumphirenden Blick zu, denn das hätte gar nicht besser passen können. Die Frau Staatsanwalt war aber noch lange nicht mit sich einig, denn der Schritt schien ihr zu gewagt, wenn sie auch selber nur zu gern gegangen wäre. Wie viel und wie oft hatte sie schon von der Schustersfrau gehört, die unter den Damen der Stadt allerdings einen Ruf besaß; wie oft gewünscht, sie einmal selber auf die Probe zu stellen, aber es trotzdem immer unterlassen – und jetzt auf einmal bot sich die Gelegenheit und schien auch in der That Alles zusammenzutreffen, um ihr den Versuch zu erleichtern! Sie zögerte freilich noch immer, aber die Frau Räthin hatte einmal, wie sie sagte, »ihr Herz daran gesetzt,« und sie ließ nicht nach mit Bitten und Zureden, bis sich die Frau Staatsanwalt endlich entschloß, ihr zu willfahren und sie zu begleiten. Die Frau Räthin versprach ihr auch, die Sache einzuleiten, indem sie zuerst für sich selber nach dem abhanden gekommenen Hosenstoff fragte – da sie ihren Mann noch nicht wieder gesprochen hatte, konnte sie natürlich keine Ahnung haben, welche Entdeckung er indeß gemacht und welchen Verdacht er hege.
So denn, während der Staatsanwalt oben auf dem Gericht war und eine unmittelbare Haussuchung bei dem Schuhmacher Heßberger, auf die Anklage eines Diebstahls hin, betrieb, rüsteten sich die beiden Damen, um der Frau des nämlichen Mannes einen geheimen Besuch abzustatten, und verließen auch, ohne selbst Ottilien ein Wort davon zu sagen, bald darauf das Haus. Nur das hinterließ die Frau Staatsanwalt bei dem Dienstmädchen, daß es ihrem Mann, wenn er nach Hause kommen und nach ihr fragen sollte, nur ausrichten möchte, sie wäre »einen Sprung« mit der Frau Räthin gegangen und würde bald wiederkommen. Abzuholen brauche er sie nicht. –
Im Heßberger'schen Hause ging es an dem Abend und genau in der nämlichen Zeit, in welcher die beiden Damen das Witte'sche Haus verließen, etwas unruhig zu, denn Heßberger hatte seinen einen Lehrjungen auf frischer That ertappt, wie er ihm an die Privatflasche gegangen war, um so heimlich als unverschämt daraus zu kosten. Er machte auch nicht viele Umstände mit ihm: in übler Laune war er außerdem, und seinen Knieriemen nehmend, griff er dem armen Jungen mit der linken Hand in das struppige Haar und bearbeitete ihm mit dem schweren Riemen den Rücken nach Herzenslust. Er hörte auch wirklich erst auf, als er den rechten Arm nicht mehr rühren konnte, schickte den Jungen dann mit einem lästerlichen Fluch an seine Arbeit und setzte sich selber auf seinen Schemel hinter die Glaskugel, wo er, wie um seine ruhige Fassung wieder zu erlangen, fast unmittelbar danach in eines seiner gellenden geistlichen Lieder ausbrach und, mit dem Buche neben sich, um manchmal nach dem Text zu sehen, einen Vers nach dem andern abschrie.
Er mochte etwa bei dem sechsten angekommen sein, und der Junge saß noch immer still weinend bei seiner Arbeit und wischte sich nur manchmal die dicken Thränen mit dem Aermel von Augen und Nase ab, als es draußen anpochte. Der eine Junge öffnete, um zu sehen, wer da sei. Es waren zwei Damen – die eine dicht verschleiert –, die nach der Frau Heßberger fragten, und da das zu häufig vorkam, um nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen, so wies sie der Bursche, indem er einfach mit der Hand nach der Thür der Wohnstube deutete, um dort hinüber zu gehen, und setzte sich augenblicklich wieder auf seinen Schemel nieder. Die Jungen hatten strenge Ordre, nicht einmal den Kopf nach einem solchen Besuch zu wenden, und Heßberger selber that gar nicht, als ob er existire. Er unterbrach seinen Vers nicht einmal und schrie so ruhig fort, als ob er draußen auf einer Haide und meilenweit von irgend einer menschlichen Wohnung gesessen hätte.
Desto förmlicher wurde der Besuch dagegen drinnen bei der Frau Heßberger selber empfangen, die, als die Damen das Zimmer betraten, bei einer sehr hübschen Lampe an ihrem Tisch saß und in einer aufgeschlagenen Bibel las.
»Frau Räthin,« sagte sie mit einer nicht ungeschickten Verneigung, »es ist mir eine große Ehre, Sie bei mir zu sehen. Wollen