Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 3. Johann Wolfgang von Goethe
gleichmäßig herzustellen. Hiebei tröstete ihn der Lehrer, indem er die Vervielfältigung durch Abformung sehen ließ, da denn das Nacharbeiten, das Reinbilden der Exemplare eben wieder neue Anstrengung, neue Aufmerksamkeit verlangte.
Alles, worein der Mensch sich ernstlich einläßt, ist ein Unendliches; nur durch wetteifernde Tätigkeit weiß er sich dagegen zu helfen; auch kam Wilhelm bald über den Zustand von Gefühl seines Unvermögens, welches immer eine Art von Verzweiflung ist, hinaus und fand sich behaglich bei der Arbeit. "Es freut mich", sagte der Meister, "daß Sie sich in diese Verfahrungsart zu schicken wissen und daß Sie mir ein Zeugnis geben, wie fruchtbar eine solche Methode sei, wenn sie auch von den Meistern des Fachs nicht anerkannt wird. Es muß eine Schule geben, und diese wird sich vorzüglich mit überlieferung beschäftigen; was bisher geschehen ist, soll auch künftig geschehen, das ist gut und mag und soll so sein. Wo aber die Schule stockt, das muß man bemerken und wissen; das Lebendige muß man ergreifen und üben, aber im stillen, sonst wird man gehindert und hindert andere. Sie haben lebendig gefühlt und zeigen es durch Tat, Verbinden heißt mehr als Trennen, Nachbilden mehr als Ansehen."
Wilhelm erfuhr nun, daß solche Modelle im stillen schon weit verbreitet seien, aber zu größter Verwunderung vernahm er, daß das Vorrätige eingepackt und über See gehen solle. Dieser wackere Künstler hatte sich schon mit Lothario und jenen Befreundeten in Verhältnis gesetzt; man fand die Gründung einer solchen Schule in jenen sich heranbildenden Provinzen ganz besonders am Platze, ja höchst notwendig, besonders unter natürlich gesitteten, wohldenkenden Menschen, für welche die wirkliche Zergliederung immer etwas Kannibalisches hat. "Geben Sie zu, daß der größte Teil von ärzten und Wundärzten nur einen allgemeinen Eindruck des zergliederten menschlichen Körpers in Gedanken behält und damit auszukommen glaubt, so werden gewiß solche Modelle hinreichen, die in seinem Geiste nach und nach erlöschenden Bilder wieder anzufrischen und ihm gerade das Nötige lebendig zu erhalten. Ja es kommt auf Neigung und Liebhaberei an, so werden sich die zartesten Resultate der Zergliederungskunst nachbilden lassen. Leistet dies ja schon Zeichenfeder, Pinsel und Grabstichel."
Hier öffnete er ein Seitenschränkchen und ließ die Gesichtsnerven auf die wundersamste Weise nachgebildet erblicken. "Dies ist leider", sprach er, "das letzte Kunststück eines abgeschiedenen jungen Gehülfen, der mir die beste Hoffnung gab, meine Gedanken durchzuführen und meine Wünsche nützlich auszubreiten."
über die Einwirkung dieser Behandlungsweise nach manchen Seiten hin wurde gar viel zwischen beiden gesprochen, auch war das Verhältnis zur bildenden Kunst ein Gegenstand merkwürdiger Unterhaltung. Ein auffallendes, schönes Beispiel, wie auf diese Weise vorwärts und rückwärts zu arbeiten sei, ergab sich aus diesen Mitteilungen. Der Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein reales Muskelpräparat zu verwandeln. "Auch hier finden sich Mittel und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, daß ich über den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttliche Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir würdige Männer in Schlafröcken und weiten ärmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich, nützlich zu sein, und auch dies ist von Bedeutung. Wird mein Wunsch erfüllt, wird es als brauchbar anerkannt, daß, wie in so viel andern Dingen, Nachbildung und das Nachgebildete der Einbildungskraft und dem Gedächtnis zu Hülfe kommen, da, wo den Menschengeist eine gewisse Frische verläßt, so wird gewiß mancher bildende Künstler sich, wie ich es getan, herumwenden und lieber euch in die Hand arbeiten, als daß er gegen überzeugung und Gefühl ein widerwärtiges Handwerk treibe."
Hieran schloß sich die Betrachtung, daß es eben schön sei zu bemerken, wie Kunst und Technik sich immer gleichsam die Waage halten und so nah verwandt immer eine zu der andern sich hinneigt, so daß die Kunst nicht sinken kann, ohne in löbliches Handwerk überzugehen, das Handwerk sich nicht steigern, ohne kunstreich zu werden.
Beide Personen fügten und gewöhnten sich so vollkommen aneinander, daß sie sich nur ungern trennten, als es nötig ward, um ihren eigentlichen großen Zwecken entgegenzusehen.
"Damit man aber nicht glaube", sagte der Meister, "daß wir uns von der Natur ausschließen und sie verleugnen wollen, so eröffnen wir eine frische Aussicht. Drüben über dem Meere, wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem äskulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen, unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde."
"Dieses", sagte Wilhelm, "waren unsre letzten Gespräche, ich sah die wohlgepackten Kisten den Fluß hinabschwimmen, ihnen die glücklichste Fahrt und uns eine gemeinsame frohe Gegenwart beim Auspacken wünschend."
Unser Freund hatte diesen Vortrag mit Geist und Enthusiasmus wie geführt so geendigt, besonders aber mit einer gewissen Lebhaftigkeit der Stimme und Sprache, die man in der neuem Zeit nicht an ihm gewohnt war. Da er jedoch am Schluß seiner Rede zu bemerken glaubte, daß Lenardo, wie zerstreut und abwesend, das Vorgetragene nicht zu verfolgen schien, Friedrich hingegen gelächelt, einigemal beinahe den Kopf geschüttelt habe, so fiel dem zart empfindenden Mienenkenner eine so geringe Zustimmung bei der Sache, die ihm höchst wichtig schien, dergestalt auf, daß er nicht unterlassen konnte, seine Freunde deshalb zu berufen.
Friedrich erklärte sich hierüber ganz einfach und aufrichtig, er könne das Vornehmen zwar löblich und gut, keineswegs aber für so bedeutend, am wenigsten aber für ausführbar halten. Diese Meinung suchte er durch Gründe zu unterstützen, von der Art, wie sie demjenigen, der für eine Sache eingenommen ist und sie durchzusetzen gedenkt, mehr, als man sich vorstellen mag, beleidigend auffällt. Deshalb denn auch unser plastischer Anatom, nachdem er einige Zeit geduldig zuzuhören schien, lebhaft erwiderte:
"Du hast Vorzüge, mein guter Friedrich, die dir niemand leugnen wird, ich am wenigsten, aber hier sprichst du wie gewöhnliche Menschen gewöhnlich; am Neuen sehen sie nur das Seltsame, im Seltenen jedoch alsobald das Bedeutende zu erblicken, dazu gehört schon mehr. Für euch muß erst alles in Tat übergehen, es muß geschehen, als möglich, als wirklich vor Augen treten, und dann laßt ihr es auch gut sein wie etwas anderes. Was du vorbringst, hör' ich schon zum voraus von Unterrichteten und Laien wiederholen; von jenen aus Vorurteil und Bequemlichkeit, von diesen aus Gleichgültigkeit. Ein Vorhaben wie das ausgesprochene kann vielleicht nur in einer neuen Welt durchgeführt werden, wo der Geist Mut fassen muß, zu einem unerläßlichen Bedürfnis neue Mittel auszuforschen, weil es an den herkömmlichen durchaus ermangelt. Da regt sich die Erfindung, da gesellt sich die Kühnheit, die Beharrlichkeit der Notwendigkeit hinzu.
Jeder Arzt, er mag mit Heilmitteln oder mit der Hand zu Werke gehen, ist nichts ohne die genauste Kenntnis der äußern und innern Glieder des Menschen, und es reicht keineswegs hin, auf Schulen flüchtige Kenntnis hievon genommen, sich von Gestalt, Lage, Zusammenhang der mannigfaltigsten Teile des unerforschlichen Organismus einen oberflächlichen Begriff gemacht zu haben. Täglich soll der Arzt, dem es Ernst ist, in der Wiederholung dieses Wissens, dieses Anschauens sich zu üben, sich den Zusammenhang dieses lebendigen Wunders immer vor Geist und Auge zu erneuern alle Gelegenheit suchen. Kennte er seinen Vorteil, er würde, da ihm die Zeit zu solchen Arbeiten ermangelt, einen Anatomen in Sold nehmen, der, nach seiner Anleitung, für ihn im stillen beschäftigt, gleichsam in Gegenwart aller Verwicklungen des