Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Lagerlöf Selma

Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen - Lagerlöf Selma


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Jungen nicht, und dieser rief ihn nicht an, denn er wollte zuerst ergründen, warum der Gänserich auf diese Weise ein Mal ums andre verschwand.

      Und er erfuhr auch bald die Ursache. Oben auf dem Steinhaufen lag eine junge Graugans, die vor Freude laut aufschrie, als sie den Gänserich erblickte. Der Junge schlich noch näher hinzu, um zu hören, was die beiden sprächen; und da hörte er, daß die Graugans einen beschädigten Flügel hatte und deshalb nicht fliegen konnte; ihre Reisegefährten waren schon weggereist und hatten sie allein zurückgelassen. Sie war am Verhungern gewesen, als der weiße Gänserich am gestrigen Tage ihr Rufen gehört und sie aufgesucht hatte. Und seither war er bemüht gewesen, ihr Nahrung zu verschaffen. Beide hatten gehofft, sie würde hergestellt sein, ehe er die Insel wieder verlassen müsse, aber sie konnte noch immer weder gehen noch stehen. Der Gänserich war sehr betrübt darüber, aber er tröstete sie damit, daß er noch lange nicht wegreisen werde. Schließlich wünschte er ihr gute Nacht und versprach, am nächsten Tage wiederzukommen.

      Der Junge ließ den Gänserich vorausgehen, und sobald dieser verschwunden war, schlich er auch auf den Steinhaufen hinauf. Als er nun die junge Gans sah, verstand er, warum der Gänserich ihr seit zwei Tagen Futter gebracht hatte, und warum er nicht gestehen wollte, was er tat. Die Graugans hatte das niedlichste Köpfchen, das man sich denken konnte; ihr Federkleid war wie Seide so weich, und die Augen hatten einen sanften, flehenden Ausdruck.

      Als sie den Jungen erblickte, wollte sie entfliehen, aber ihr einer Flügel war beschädigt, er schleifte am Boden und hinderte sie bei allen Bewegungen.

      „Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten,“ sagte der Junge und hielt an, um ihr zu zeigen, daß sie nicht nötig habe, vor ihm zu fliehen. „Ich bin Däumling, Gänserich Martins Reisekamerad,“ fuhr er fort. Dann aber stockte er und wußte nicht, was er sagen sollte.

      Tiere haben manchmal etwas an sich, was einem unwillkürlich die Frage in den Mund legt, was für Wesen sie eigentlich seien. Man fühlt sich beinahe versucht, sie für verwandelte Menschen zu halten. Und so war es auch bei dieser Graugans. Sobald Däumling gesagt hatte, wer er war, neigte sie den Hals und Kopf sehr anmutig vor ihm, und mit einer so schönen Stimme, von der der Junge kaum glauben konnte, daß sie einer Gans angehöre, sagte sie: „Ich freue mich sehr über dein Kommen. Du kannst mir gewiß helfen, der weiße Gänserich hat mir gesagt, es gäbe niemand, der so gut und klug sei wie du.“

      Dies sagte sie mit einer Würde, von der der Junge ganz eingeschüchtert wurde. „Das kann doch wohl keine Gans sein,“ dachte er. „Es ist gewiß eine verzauberte Prinzessin.“

      Er hätte ihr schrecklich gern geholfen, und so griff er mit seinen kleinen Händen in die Federn hinein und tastete nach dem Flügelknochen. Der Knochen war nicht gebrochen, aber er war aus dem Gelenk geraten, und sein Finger kam an ein leeres Gelenkschüsselchen. „Halt nun fest!“ sagte er, faßte den Röhrenknochen tapfer an und drehte ihn dahin, wo er hingehörte. Für einen ersten Versuch machte er seine Sache recht schnell und gut; aber es mußte der armen Gans doch sehr, sehr weh getan haben, denn sie stieß nur einen einzigen gellenden Schrei aus und sank dann, ohne noch ein Lebenszeichen von sich zu geben, auf die Steine nieder.

      Der Junge erschrak furchtbar. Er hatte ihr ja nur helfen wollen, und jetzt war sie tot. Mit einem großen Satz sprang er von dem Steinhaufen hinunter und lief davon. Er hatte das Gefühl, als habe er einen Menschen getötet.

      Am nächsten Morgen war die Luft klar und vollständig frei von Nebel, und Akka sagte, nun solle die Reise fortgesetzt werden. Alle Gänse waren sehr bereit, weiterzureisen, bloß der weiße Gänserich machte Einwendungen, und der Junge wußte den Grund wohl; er wollte nur nicht von der jungen Graugans wegreisen. Aber Akka hörte nicht auf ihn, sondern machte sich gleich auf den Weg.

      Der Junge sprang auf den Rücken des Gänserichs, und der Weiße folgte der Schar, obgleich langsam und unwillig. Der Junge aber freute sich, daß man die Insel verließ. Er hatte Gewissensbisse wegen der Graugans, wollte aber dem Gänserich nicht sagen, wie es gegangen sei, als er sie hatte heilen wollen. „Es wäre am besten, wenn Martin es gar nicht erführe,“ dachte er. Aber zugleich verwunderte er sich doch, daß der Weiße das Herz hatte, die Graugans zu verlassen.

      Doch plötzlich machte der Gänserich kehrt. Der Gedanke an die junge Gans hatte ihn übermannt. Mit der Lapplandreise mochte es gehen, wie es wollte! Mit dem Bewußtsein, daß die junge Gans einsam und krank zurückbliebe und verhungern müsse, konnte er nicht mit den andern davonfliegen.

      Mit wenigen Flügelschlägen war er an dem Steinhaufen. Aber da lag keine junge Graugans zwischen den Steinen. „Daunenfein! Daunenfein! Wo bist du?“ rief der Gänserich.

      „Der Fuchs wird sie wohl geholt haben,“ dachte der Junge.

      Aber in demselben Augenblick hörte er eine schöne Stimme dem Gänserich antworten: „Hier bin ich, Gänserich, hier bin ich! Ich habe nur ein Morgenbad genommen.“ Und aus dem Wasser tauchte die kleine Graugans empor, vollständig frisch und gesund. Und nun erzählte sie, wie Däumling ihren Flügel eingerenkt habe, und daß sie ganz hergestellt sei.

      Die Wassertropfen lagen wie Perlen auf ihren wie Seide schillernden Federn, und der Däumling dachte abermals, sie sei gewiß eine richtige kleine Prinzessin.

      12

      Der große Schmetterling

Mittwoch, 6. April

      Die Gänse flogen die langgestreckte Insel entlang, die jetzt deutlich sichtbar unter ihnen lag. Dem Jungen war es leicht und froh ums Herz. Er war jetzt ebenso vergnügt und zufrieden, wie er gestern düster gestimmt und niedergedrückt gewesen war, wo er auf der Suche nach dem Gänserich die Insel durchstreift hatte. Es sah aus, als bestehe das Innere der Insel aus einer kahlen Hochebene mit einem Kranz von gutem, fruchtbarem Land an den Küsten hin; und jetzt begann dem Jungen der Sinn eines Gesprächs klar zu werden, das er am vorhergehenden Abend mitangehört hatte.

      Er hatte sich da an einer der vielen Windmühlen auf der Hochebene ausgeruht, als zwei Schäfer, ihre Hunde zur Seite und eine große Schafherde hinter sich, dahergekommen waren. Der Junge war nicht erschrocken, denn er saß wohlgeborgen unter der Mühlentreppe; aber die Hirten ließen sich auf derselben Treppe nieder, und so hatte der Junge sich wohl oder übel mäuschenstill verhalten müssen.

      Der eine Hirte war jung und sah ganz so aus, wie solche Leute meistens aussehen. Der andre dagegen war ein alter, merkwürdiger Mensch. Er hatte einen großen, knochigen Körper, aber einen kleinen Kopf, und das Gesicht zeigte weiche, sanfte Züge. Kopf und Körper schienen ganz und gar nicht zusammen zu passen.

      Er saß eine Weile still da und schaute mit einem unbeschreiblich müden Blick in den Nebel hinein. Dann wendete er sich an seinen Gefährten und knüpfte ein Gespräch mit ihm an. Dieser nahm ruhig Brot und Käse aus seiner Hirtentasche heraus und begann zu essen; er gab fast keine Antwort, hörte aber sehr geduldig zu, ganz als ob er dächte: „Ich will dir eine Freude machen und dich eine Weile reden lassen.“

      „Nun will ich dir etwas erzählen, Erik,“ sagte der alte Schäfer. „Ich denke mir, daß in den alten Zeiten, wo die Menschen und die Tiere noch weit größer waren als jetzt, wohl auch die Schmetterlinge ungeheuer groß gewesen sind. Und da hat es wohl einmal einen viele Meilen langen Schmetterling gegeben mit Flügeln so breit wie Meere. Diese Flügel waren so wunderschön blau und silberschimmernd, daß alle andern Tiere stehen blieben und dem Schmetterling verwundert nachschauten, wenn er durch die Luft dahinflog.

      Aber der Schmetterling hatte einen Fehler, er war zu groß für seine Flügel, die den Körper kaum zu tragen vermochten. Es wäre aber doch gegangen, wenn er verständig gewesen und über dem Festland geblieben wäre. Doch das war er nicht, sondern er wagte sich auf die Ostsee hinaus; aber er war noch nicht weit gekommen, als der Sturm ihm entgegenbrauste und an seinen Flügeln zerrte. Ja, ja, Erik, man kann leicht erraten, wie es gehen mußte, als der Ostseesturm seine zarten Schmetterlingsflügel zerzauste. Es dauerte nicht lange, da waren sie abgerissen und weggewirbelt, und dann fiel natürlich der arme Schmetterlingskörper hinunter ins Meer. Im Anfang schwankte er auf den Wogen hin und her, dann strandete er gerade vor Småland auf einem Felsenriff. Und da blieb er liegen, so groß und so lang als er war.

      Und nun denke ich mir,


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