Aphorismen zur Lebensweisheit. Артур Шопенгауэр

Aphorismen zur Lebensweisheit - Артур Шопенгауэр


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»Dasein und Wohlsein sind nichts; sondern was die andern von uns denken, das ist die Sache.« Allenfalls kann der Ausspruch als eine Hyperbel gelten, der die prosaische Wahrheit zum Grunde liegt, daß zu unserm Fortkommen und Bestehn unter Menschen die Ehre, d. h. die Meinung derselben von uns, oft unumgänglich nötig ist; worauf ich weiterhin zurückkommen werde. Wenn man hingegen sieht, wie fast alles, wonach Menschen, ihr Leben lang, mit rastloser Anstrengung und unter tausend Gefahren und Mühseligkeiten, unermüdlich streben, zum letzten Zweck, hat, sich dadurch in der Meinung anderer zu erhöhen, indem nämlich nicht nur Ämter, Titel und Orden, sondern auch Reichtum, und selbst Wissenschaft5 und Kunst, im Grunde und hauptsächlich deshalb angestrebt werden, und der größere Respekt anderer das letzte Ziel ist, darauf man hinarbeitet; so beweist dies leider nur die Größe der menschlichen Torheit. Viel zu viel Wert auf die Meinung anderer zu legen, ist ein allgemein herrschender Irrwahn: mag er nun in unserer Natur selbst wurzeln, oder in Folge der Gesellschaft und Zivilisation entstanden sein; jedenfalls übt er auf unser gesamtes Tun und Lassen einen ganz übermäßigen und unserem Glücke feindlichen Einfluß aus, den wir verfolgen können, von da an, wo er sich in der ängstlichen und sklavischen Rücksicht auf das qu'en dira-t-on zeigt, bis dahin, wo er den Dolch des Virginius in das Herz seiner Tochter stößt, oder den Menschen verleitet, für den Nachruhm, Ruhe, Reichtum und Gesundheit, ja, das Leben zu opfern. Dieser Wahn bietet allerdings dem, der die Menschen zu beherrschen oder sonst zu lenken hat, eine bequeme Handhabe dar; weshalb in jeder Art von Menschendressierungskunst die Weisung, das Ehrgefühl rege zu erhalten und zu schärfen, eine Hauptstelle einnimmt: aber in Hinsicht auf das eigene Glück des Menschen, welches hier unsere Absicht ist, verhält die Sache sich ganz anders, und ist vielmehr davon abzumahnen, daß man nicht zu viel Wert auf die Meinung anderer lege. Wenn es, wie die tägliche Erfahrung lehrt, dennoch geschieht, wenn die meisten Menschen gerade auf die Meinung anderer von ihnen den höchsten Wert legen und es ihnen darum mehr zu tun ist als um das, was, weil es in ihrem eigenen Bewußtsein vorgeht, unmittelbar für sie vorhanden ist; wenn demnach, mittels Umkehrung der natürlichen Ordnung, ihnen jenes der reale, dieses der bloß ideale Teil ihres Daseins zu sein scheint, wenn sie also das Abgeleitete und Sekundäre zur Hauptsache machen und ihnen mehr das Bild ihres Wesens im Kopfe anderer, als dieses Wesen selbst am Herzen liegt; so ist diese unmittelbare Wertschätzung dessen, was für uns unmittelbar gar nicht vorhanden ist, diejenige Torheit, welche man Eitelkeit, vanitas, genannt hat, um dadurch das Leere und Gehaltlose dieses Strebens zu bezeichnen. Auch ist aus dem Obigen leicht einzusehn, daß sie zum Vergessen des Zwecks über die Mittel gehört, so gut wie der Geiz.

      In der Tat überschreitet der Wert, den wir auf die Meinung anderer legen, und unsere beständige Sorge in betreff derselben, in der Regel, fast jede vernünftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein verbreiteter oder vielmehr angeborener Manie angesehn werden kann. Bei allem, was wir tun und lassen, wird, fast vor allem andern, die fremde Meinung berücksichtigt, und aus der Sorge um sie werden wir, bei genauer Untersuchung, fast die Hälfte aller Bekümmernisse und Ängste, die wir jemals empfunden haben, hervorgegangen sehn. Denn sie liegt allem unserm, so oft gekränkten, weil so krankhaft empfindlichen, Selbstgefühl, allen unsern Eitelkeiten und Prätensionen, wie auch unserm Prunken und Großtun, zum Grunde. Ohne diese Sorge und Sucht würde der Luxus kaum ein Zehntel dessen sein, was er ist. Aller und jeder Stolz, point d'honneur und puntiglio, so verschiedener Gattung und Sphäre er auch sein kann, beruht auf ihr – und welche Opfer heischt sie da nicht oft! Sie zeigt sich schon im Kinde, sodann in jedem Lebensalter, jedoch am stärksten im späten; weil dann, beim Versiegen der Fähigkeit zu sinnlichen Genüssen, Eitelkeit und Hochmut nur noch mit dem Geize die Herrschaft zu teilen haben. Am deutlichsten läßt sie sich an den Franzosen beobachten, als bei welchen sie ganz endemisch ist und sich oft in der abgeschmacktesten Ehrsucht, lächerlichsten National-Eitelkeit und unverschämtesten Prahlerei Luft macht; wodurch dann ihr Streben sich selbst vereitelt, indem es sie zum Spotte der andern Nationen gemacht hat und die grande nation ein Neckname geworden ist. Um nun aber die in Rede stehende Verkehrtheit der überschwänglichen Sorge um die Meinung anderer noch speziell zu erläutern, mag hier ein, durch den Lichteffekt des Zusammentreffens der Umstände mit dem angemessenen Charakter, in seltenem Grade begünstigtes, recht superlatives Beispiel jener in der Menschennatur wurzelnden Torheit Platz finden, da an demselben die Stärke dieser höchst wunderlichen Triebfeder sich ganz ermessen läßt. Es ist folgende, den Times vom 31. März 1846 entnommene Stelle aus dem ausführlichen Bericht von der soeben vollzogenen Hinrichtung des Thomas Wix, eines Handwerksgesellen, der aus Rache seinen Meister ermordet hatte: »An dem zur Hinrichtung festgesetzten Morgen fand sich der hochwürdige Gefängniskaplan zeitig bei ihm ein. Allein Wix, obwohl sich ruhig betragend, zeigte keinen Anteil an seinen Ermahnungen: vielmehr war das einzige, was ihm am Herzen lag, daß es ihm gelingen möchte, vor den Zuschauern seines schmachvollen Endes, sich mit recht großer Bravour zu benehmen. – Dies ist ihm denn auch gelungen. Auf dem Hofraum, den er zu dem, hart am Gefängnis errichteten Galgenschaffot zu durchschreiten hatte, sagte er: >Wohlan denn, wie Doktor Dodd gesagt hat, bald werde ich das große Geheimnis wissen!< Er ging, obwohl mit gebundenen Armen, die Leiter zum Schaffot ohne die geringste Beihilfe hinauf: daselbst angelangt machte er gegen die Zuschauer, rechts und links, Verbeugungen, welche denn auch mit dem donnernden Beifallsruf der versammelten Menge beantwortet und belohnt wurden, usw.« – Dies ist ein Prachtexemplar der Ehrsucht, den Tod, in schrecklichster Gestalt, nebst der Ewigkeit dahinter, vor Augen, keine andere Sorge zu haben, als die um den Eindruck auf den zusammengelaufenen Haufen der Gaffer und die Meinung, welche man in deren Köpfen zurücklassen wird! – Und doch war eben so der im selben Jahr in Frankreich, wegen versuchten Königsmordes, hingerichtete Lecomte, bei seinem Prozeß, hauptsächlich darüber verdrießlich, daß er nicht in anständiger Kleidung vor der Pairskammer erscheinen konnte, und selbst bei seiner Hinrichtung war es ihm ein Hauptverdruß, daß man ihm nicht erlaubt hatte, sich vorher zu rasiren. Daß es auch ehemals nicht anders gewesen, ersehen wir aus dem, was Mateo Aleman, in der, seinem berühmten Romane, Guzman de Alfarache, vorgesetzten Einleitung (declaracion) anführt, daß nämlich viele betörte Verbrecher die letzten Stunden, welche sie ausschließlich ihrem Seelenheile widmen sollten, diesem entziehn, um eine kleine Predigt, die sie auf der Galgenleiter halten wollen, auszuarbeiten und zu memoriren. – An solchen Zügen jedoch können wir selbst uns spiegeln: denn kolossale Fälle geben überall die deutlichste Erläuterung. Unser aller Sorgen, Kümmern, Wurmen, Ärgern, Ängstigen, Anstrengen usw. betrifft, in vielleicht den meisten Fällen, eigentlich die fremde Meinung und ist eben so absurd, wie das jener armen Sünder. Nicht weniger entspringt unser Neid und Haß größtenteils aus besagter Wurzel.

      Offenbar nun könnte zu unserem Glücke, als welches allergrößtenteils auf Gemütsruhe und Zufriedenheit beruht, kaum irgend etwas so viel beitragen, als die Einschränkung und Herabstimmung dieser Triebfeder auf ihr vernünftig zu rechtfertigendes Maß, welches vielleicht ein fünfzigstel des gegenwärtigen sein wird, also das Herausziehn dieses immerfort peinigenden Stachels aus unserm Fleisch. Dies ist jedoch sehr schwer: denn wir haben es mit einer natürlichen und angeborenen Verkehrtheit zu tun. Etiam sapientibus cupido gloriae novissima exuitur sagt Tacitus (hist. VI, 6). Um jene allgemeine Torheit los zu werden, wäre das alleinige Mittel, sie deutlich als eine solche zu erkennen und zu diesem Zwecke sich klar zu machen, wie ganz falsch, verkehrt, irrig und absurd die meisten Meinungen in den Köpfen der Menschen zu sein pflegen, daher sie, an sich selbst, keiner Beachtung wert sind; sodann, wie wenig realen Einfluß auf uns die Meinung anderer, in den meisten Dingen und Fällen, haben kann; ferner, wie ungünstig überhaupt sie meistenteils ist, so daß fast jeder sich krank ärgern würde, wenn er vernähme, was alles von ihm gesagt und in welchem Tone von ihm geredet wird; endlich, daß sogar die Ehre selbst doch eigentlich nur von mittelbarem und nicht von unmittelbarem Werte ist u. dgl. m. Wenn eine solche Bekehrung von der allgemeinen Torheit uns gelänge; so würde die Folge ein unglaublich großer Zuwachs an Gemütsruhe und Heiterkeit und ebenfalls ein festeres und sichereres Auftreten, ein durchweg unbefangeneres und natürlicheres Betragen sein. Der so überaus wohltätige Einfluß, den eine zurückgezogene Lebensweise auf unsere Gemütsruhe hat, beruht größtenteils darauf, daß eine solche uns dem fortwährenden Leben vor den Augen anderer, folglich der steten Berücksichtigung ihrer etwanigen Meinung entzieht und dadurch uns uns selber zurückgibt. Imgleichen würden wir sehr vielem realen Unglück entgehn, in


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Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter.