Der Zauberberg. Volume 2. Томас Манн
mein Herr. Sie sollten die Sehnsucht der Menschheit nach ihrer gesellschaftlichen Vervollkommnung nicht verhöh-nen. Das Volk, das solche Bestrebungen durchkreuzt, wird sich unzweifelhaft der moralischen Achtung aussetzen."
"Wozu wäre die Politik auch da, als einander Gelegenheit zu geben, sich moralisch zu kompromittieren!"
"Sie huldigen dem Pangermanismus?"
Naphta zuckte die Schultern, die nicht ganz gleichmäßig standen. Er war wohl eigentlich etwas schief, zu seiner sonstigen Häßlichkeit. Er verschmähte es, zu antworten. Settembrini urteilte:
"Jedenfalls ist es zynisch, was Sie da sagen. In den hochherzigen Anstrengungen der Demokratie, sich international durchzu-setzen, wollen Sie nichts erblicken, als politische List…"
"Sie verlangen wohl, daß ich Idealismus oder gar Religiosität darin erblicke? Es handelt sich um letzte, schwächliche Regun-gen des Restes von Selbsterhaltungsinstinkt, über den ein verur-teiltes Weltsystem noch verfügt. Die Katastrophe soll und muß kommen, sie kommt auf allen Wegen und auf alle Weise. Neh-men Sie die britische Staatskunst. Englands Bedürfnis, das indi-sche Glacis zu sichern, ist legitim. Aber die Folgen? Eduard weiß so gut wie Sie und ich, daß die Machthaber von Petersburg die mandschurische Scharte auswetzen müssen und die Ableitung der Revolution so notwendig brauchen wie das liebe Brot. Trotzdem lenkt er – er muß es wohl! – den russischen Ausdehnungsdrang nach Europa, weckt eingeschlummerte Riva-litäten zwischen Petersburg und Wien –"
"Ach, Wien! Sie sorgen sich um dieses Welthindernis, ver-mutlich, weil Sie in dem morschen Imperium, dessen Haupt es ist, die Mumie des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erkennen!"
"Und Sie finde ich russophil, vermutlich aus humanistischer Sympathie mit dem Cäsaro-Papismus."
"Mein Herr, die Demokratie hat selbst vom Kreml mehr zu hoffen, als von der Hofburg, und es ist eine Schande für das Land Luthers und Gutenbergs –"
"Es ist außerdem wahrscheinlich eine Dummheit. Aber auch diese Dummheit ist ein Werkzeug der Fatalität –"
"Ach, gehen Sie mir mit der Fatalität! Die menschliche Ver-nunft braucht sich nur stärker zu wollen als die Fatalität, und sie ist es?"
"Gewollt wird immer nur das Schicksal. Das kapitalistische Europa will das seine."
"Man glaubt an das Kommen des Krieges, wenn man ihn nicht hinlänglich verabscheut!"
"Ihre Abscheu ist logisch abrupt, solange Sie ihn nicht beim Staate selbst beginnen lassen."
"Der nationale Staat ist das Prinzip des Diesseits, das Sie dem Teufel zuschreiben möchten. Machen Sie aber die Nationen frei und gleich, schützen Sie die – kleinen und schwachen vor Unter-drückung, schaffen Sie Gerechtigkeit, schaffen Sie nationale Grenzen …"
"Die Brennergrenze, ich weiß. Die Liquidation Österreichs. Wenn ich nur wüßte, wie Sie sie ohne Krieg zu bewerkstelligen gedenken!"
"Und ich wüßte wahrhaftig gern, wann jemals ich den nationalen Krieg verdammt haben soll."
"Ich höre doch wohl –"
"Nein, das muß ich Herrn Settembrini bestätigen", mischte sich Hans Castorp in den Disput, dem er im Gehen gefolgt war, indem er den jeweils Sprechenden mit schrägem Kopfe auf-merksam von der Seite betrachtet hatte. "Mein Vetter und ich haben ja schon manchmal den Vorzug gehabt, uns mit ihm über diese und ähnliche Dinge zu unterhalten, das heißt, natürlich lief es darauf hinaus, daß wir ihm zuhörten, wie er seine Mei-nungen entwickelte und alles klarstellte. Und da kann ich denn bestätigen, und auch mein Vetter hier wird sich daran erinnern, daß Herr Settembrini mehr als einmal mit großer Begeisterung von dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion und der Weltverbesserung sprach, das ja an sich kein so ganz friedliches Prinzip ist, sollte ich meinen, und daß diesem Prinzip noch gro-ße Anstrengungen bevorständen, ehe es überall gesiegt haben werde und die allgemeine glückliche Weltrepublik stattfinden könne. Das waren seine Worte, wenn sie auch natürlich viel pla-stischer und schriftstellerischer waren als meine, das versteht sich von selbst. Was ich aber ganz genau weiß und wörtlich be-halten habe, weil ich als ausgepichter Zivilist direkt etwas dar-über erschrak, das war, daß er sagte, dieser Tag werde, wenn nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlerschwingen kommen (über die Adlerschwingen erschrak ich, wie ich mich erinnere), und Wien müsse aufs Haupt geschlagen sein, wenn man das Glück in die Wege leiten wolle. Man kann also nicht sagen, daß Herr Settembrini den Krieg überhaupt verworfen hat. Habe ich recht, Herr Settembrini?"
"Ungefähr", sagte der Italiener kurz, indem er abgewandten Kopfes seinen Stock schwenkte.
"Schlimm", lächelte Naphta häßlich. "Da sind Sie von Ihrem eigenen Schüler kriegerischer Neigungen überführt. Assument pennas ut aquilae …"
"Voltaire selbst hat den Zivilisationskrieg bejaht und Fried-rich dem Zweiten den Krieg gegen die Türken empfohlen."
"Statt dessen verbündete er sich mit ihnen, he, he. Und dann die Weltrepublik! Ich unterlasse es, mich zu erkundigen, was aus dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion wird, wenn das Glück und die Vereinigung hergestellt sind. In diesem Augen-blick würde die Rebellion zum Verbrechen …"
"Sie wissen sehr wohl, und auch diese jungen Herren wissen es, daß es sich um einen als unendlich gedachten Fortschritt der Menschheit handelt."
"Alle Bewegung ist aber kreisförmig", sagte Hans Castorp. "Im Raum und in der Zeit, das lehren die Gesetze von der Er-haltung der Masse und von der Periodizität. Mein Vetter und ich sprachen vorhin noch davon. Kann denn bei geschlossener Bewegung ohne Richtungsdauer von Fortschritt die Rede sein? Wenn ich abends so liege und den Zodiakus betrachte, das heißt: die Hälfte, die zu sehen ist, und an die alten weisen Völ-ker denke …"
"Sie sollten nicht grübeln und träumen, Ingenieur", unterbrach ihn Settembrini, "sondern sich entschlossen den Instink-ten Ihrer Jahre und Ihrer Rasse anvertrauen, die Sie zur Tätigkeit drängen müssen. Auch Ihre naturwissenschaftliche Bildung muß Sie der Fortschrittsidee verbinden. Sie sehen in ungemessenen Zeiträumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fort-und emporentwickeln, Sie können nicht zweifeln, daß dem Menschen noch unendliche Vervollkommnungsmöglichkeiten offen stehen. Versteifen Sie sich denn aber auf die Mathematik, so führen Sie Ihren Kreislauf von Vollkommenheit zu Voll-kommenheit und erquicken Sie sich an der Lehre unseres acht-zehnten Jahrhunderts, daß der Mensch ursprünglich gut, glück-lich und vollkommen war, daß nur die gesellschaftlichen Irrtü-mer ihn entstellt und verdorben haben, und daß er auf dem Wege kritischer Arbeit am Gesellschaftsbau wieder gut, glück-lich und vollkommen werden soll, werden wir –"
"Herr Settembrini versäumt, hinzuzufügen", fiel Naphta ein, "daß das Rousseausche Idyll eine vernünftlerische Verballhornung der kirchlichen Doktrin von der ehemaligen Staat – und Sündlosigkeit des Menschen ist, seiner ursprünglichen Gottes-unmittelbarkeit und Gotteskindschaft, zu der er zurückkehren soll. Die Wiederherstellung des Gottesstaates nach Auflösung aller irdischen Formen liegt aber dort, wo Erde und Himmel, Sinnliches und Übersinnliches sich berühren, das Heil ist trans-zendent, und was Ihre kapitalistische Weltrepublik anbelangt, lieber Doktor, so ist es recht sonderbar, Sie in diesem Zusam-menhang von 'Instinkt' reden zu hören. Das Instinktive ist durchaus auf Seiten des Nationalen, und Gott selbst hat den Menschen den natürlichen Instinkt eingepflanzt, der die Völker veranlaßt hat, sich in verschiedenen Staaten voneinander zu sondern. Der Krieg …"
"Der Krieg", rief Settembrini, "selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen müssen, wie Sie mir einräu-men werden, wenn Sie sich gewisser Ereignisse aus Ihrer Lieb-lingsepoche, ich meine: wenn Sie sich der Kreuzzüge erinnern! Diese Zivilisationskriege haben die Beziehungen der Völker im wirtschaftlichen und handelspolitischen Verkehr aufs glücklich-ste begünstigt und die abendländische Menschheit im Zeichen einer Idee vereinigt."
"Sie sind sehr duldsam gegen die Idee. Desto höflicher will ich Sie dahin berichtigen, daß die Kreuzzüge nebst der Ver-kehrsbelebung, die sie zeitigten, nichts weniger als international ausgleichend gewirkt haben, sondern im Gegenteil die Völker lehrten, sich voneinander zu unterscheiden, und die Ausbildung der nationalen Staatsidee kräftig förderten."
"Sehr zutreffend, soweit das Verhältnis der Völker