Memoiren einer Grossmutter, Band II. Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter, Band II - Pauline Wengeroff


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empfangen. Die Königin schlug Sir Montefiore zum Ritter, und als er zu ihren Füßen kniete, berührte sie, die übliche Zeremonie vollziehend, seine Schulter mit dem Degen, und rief ihn an: »Steh auf, Ritter von Jerusalem, Moses Montefiore!« Und der Saal, in dem die Zeremonie stattfand, war mit zahlreichen Fahnen geschmückt, die alle die Inschrift »Jerusalem« trugen.

      Ich erinnere mich, bei dieser Gelegenheit einmal eine deutsche Übersetzung1 aus einer englischen Zeitung, eine Episode aus der Mädchenzeit der Königin Viktoria gelesen zu haben. Vor vielen Jahren ging eines schönen Morgens in London ein kleines Mädchen mit ihrer Erzieherin spazieren. Sie kamen an einem großen, reichen Hause, das von einem Garten umgeben war, vorbei. Durch das Gitter sah man eine prächtige rote Rose, die so wunderbar schön war, daß sie unter allen anderen Blumen hervorragte. Das Kind ergötzte sich an der Blume und wollte sie endlich pflücken. Doch rasch ergriff die Erzieherin das Händchen des Kindes, um es an der Ausführung seiner Absicht noch rechtzeitig zu verhindern. Das kleine Mädchen fügte sich ohne Murren dem Willen seiner Mentorin und setzte, ohne das Gesicht zu verziehen, den Spaziergang weiter fort. Als es nach Hause kam und in sein Zimmer trat, fand es zu seiner größten Freude einen Strauß roter Rosen vor. – Das kleine gehorsame Mädchen war niemand anders als die spätere Königin Viktoria von England und der Spender des Straußes war der später von ihr zum Ritter ernannte Moses Montefiore.

      Bei dem Aufenthalt in Wilna war es auch, als Louis Loewe in einer mit Argumenten und Zitaten des Talmuds reich verzierten Rede der zahlreichen Menge in der Synagoge bewies, daß die jüdische Tradition das Erlernen der Wissenschaften und fremden Sprachen weder ausschließt, noch verpönt. —

      Daß in diesen Zeiten Moses Mendelssohn ein »Führer der Verirrten« werden mußte, begreift sich leicht. Seine deutsche Bibelübersetzung und seine philosophischen Werke hatten die jüdische Jugend dem deutschen Geiste und der deutschen Sprache näher gebracht. Bisher kannte sie die Bibel nur als ein religiöses Buch – jetzt tauchten vor ihr neue Gesichtspunkte auf. Man fing an, dieses Buch der Bücher mit weltlichen Augen zu betrachten. Der Nimbus der Unantastbarkeit schwand. Die Kritik setzte ein.

      Es war eine Revolution der jungen Geister!

      Die Älteren nannten diese Jugend jetzt in dem Sinne »Berliner«, wie man sie Ende der dreißiger Jahre »Apikorsim« (Abtrünnige) hieß. Mehr noch als dem lebendigen Lilienthal galt ihr Ingrimm dem toten Philosophen, den sie nach seiner Geburtsstadt den »Dessauer« nannten.

      Die deutsch-russischen Werke, die »treifenen Büchelach« wurden von den Alten nur widerwillig geduldet: ehe der Sabbath begann, mußten sie, ebenso wie jeder Rest der Wochenarbeit, weggeräumt werden. Den ganzen Sabbath hindurch blieben sie versteckt.

      Allein bei dem immer mächtigeren Drange der Jugend zur Aufklärung konnten diese Maßregeln nicht lange bestehen. Mochten die Eltern sich noch immer »bösern« (ärgern), sie mußten schließlich nachgeben.

      Die neuen Aufklärungsideen des Berolinismus konnten natürlich in dem Teile Litauens, der an Kurland mit seiner deutschen Kultur grenzt, die besten Früchte tragen. Aus dieser Gegend ging auch ein Mann hervor, der in der Geschichte der jüdischen Aufklärung in Rußland keine geringe Rolle gespielt hatte – der erste jüdische Student in Rußland – L. Mandelstamm. Als siebzehnjähriger Junge begeisterte er sich bereits an Mendelssohn und 1844 folgte er dem Beispiel seines Vorbildes und übersetzte die Bibel. Ins Russische. In Rußland herrschte noch zu jener Zeit das Verbot, über heilige Dinge russisch zu schreiben; und Mandelstamms Bibelübersetzung konnte zuerst nur im Auslande erscheinen. Erst 1869 erschien sie auch in Rußland.

      Nachdem Lilienthal nach Amerika gegangen war, hatte Mandelstamm die Stellung des gelehrten Juden im Ministerium für Volksbildung erhalten. Ihm fiel die Aufgabe zu, den von dem Kultusminister Uwaroff und Lilienthal gemeinsam ausgearbeiteten Plan der Reformation des Schulwesens durchzuführen und die Leitung der neubegründeten Schulen zu übernehmen. Den neuen Zielen dienten die Wörterbücher Mandelstamms, aus denen ganze Generationen von »Jeschiwabachurim« die Anfänge der russischen Sprache lernten.

      Die Kenntnis der Werke fremder Nationen ließ die Jugend an der eigenen Religion rütteln und schütteln; und allmählich schwand aus dem jüdischen Leben die Pietät für die althergebrachte Tradition für die Gesetze und Bräuche. Die Prophezeiung: Das Wort Gottes wird hintangesetzt und die heilige hebräische Sprache vernachlässigt werden, hatte sich bewahrheitet.

      Meine Familienchronik hält außer meinen beiden Schwägern, von denen ich bereits im ersten Bande erzählte, noch die Erinnerung an zwei junge Leute fest, die von den neuen Ideen mitgerissen waren. Der eine war mein älterer Bruder E. Epstein, der andere der Gatte meiner Schwester K., A. S. Beide waren begabte, wißbegierige, fleißige junge Männer; sie gehörten in Brest, wo der Kreis der Gebildeten schon ziemlich groß war, zur Elite der Stadt. Sie verbrachten nur noch ihre Jünglingsjahre an den Talmudfolianten aber der »Melamed« war nicht mehr ihr einziger Lehrer. Das Talmudstudium wurde von ihnen nur in bestimmten Stunden betrieben, nicht mehr wie in der guten alten Zeit meiner älteren Schwäger Tag und Nacht. Dennoch hatte mein Schwager gemeinsam mit meinem Bruder unter der Leitung des Vaters und eines Melameds das »Lernen« sogar noch einige Jahre nach der Verheiratung fortgesetzt. Es war schon die Zeit, da die Lilienthalsche Bewegung in breitere und tiefere Schichten drang. Jetzt durfte man es wenigstens wagen, die »fremden Bücher« zu studieren; und die jungen Leute in Brest nutzten diese Möglichkeit nach jeder Richtung aus. Sie veranstalteten Versammlungen, in denen man deutsche Klassiker, wissenschaftliche Werke, besonders aber die der alten Griechen las. Allmählich wurden auch Frauen zu diesen Zusammenkünften zugelassen.

      Alle Eltern mißbilligten diesen Eifer, denn bei dieser Gelegenheit wurde so manche jüdische Sitte verletzt. So fanden oft die Zusammenkünfte am Sonnabend statt, worin die Eltern schon eine Entweihung des Sabbaths sahen. Und so gab es wieder Hader und Ärger im Familienleben; und manche tragikomische Szene spielte sich vor meinen Augen ab: der ewige Kampf der Alten und Jungen, wenn auch nicht immer der gleiche.

      Wenn ich so heute rückschauend die kleinen Ärgernisse wieder bedenke, so muß ich doch gestehen, daß die Alten wohl wußten, was sie taten. Mit Äußerlichkeiten fing die Revolution an. Wir Jungen mochten nichts daran finden. Die Alten aber erkannten, daß auch nur der leisesten Veränderung in der Tradition, der äußeren Gehabung eine Revolutionierung des inneren Menschen folgen müsse. Ich muß lächeln und bin doch wieder ernst gestimmt, wenn ich an die Entrüstung denke, mit der meine Eltern die Versuche meiner Schwester zurückwiesen, den Bann der alten Tracht zu durchbrechen. Es war in den vierziger Jahren. Da kam die wunderliche Mode der Krinoline auf. Bei uns freilich wurde dieses Monstrum noch auf eine sehr primitive Art hergestellt. In einen Kattunrock machte man unten einen breiten Saum und zog einen Rohrreifen ein. Ein zweiter Reifen, der auch umsäumt wurde, folgte etwa einviertel Meter höher. Nach vielem heißem Bemühen war meine Schwester Kathy glücklich in den Besitz eines solchen Monstrums gekommen. Eines Morgens – wir saßen stillvergnügt im Eßzimmer – tauchte plötzlich ein Faß in unserem Zimmer auf und darin steckte Kathy. Meine Mutter machte große Augen: »Was hast du da für ein Faß angezogen?« Und ohne sich auf irgendeine weitere Debatte einzulassen, befahl sie, daß das bauschige Ding sofort zu verschwinden habe. Meine Schwester fing heftig zu weinen an; denn sie war sehr empfindlich. Aber sie blieb noch eine Weile stehen, ohne sich zu regen. Da rief ihr die Mutter zu: »Soll ich dir beim Auskleiden vielleicht behilflich sein?« – Das genügte. Weinend lief Kathy in ihr Zimmer, wohin meine Mutter ihr folgte, bemächtigte sich des fatalen Rockes, riß die Rohrreifen heraus, knickte sie schneckenartig zusammen und brachte sie nach der Küche. Auf dem Herde war ein gutes Feuer, und der Dreifuß stand darauf. Die Flammen griffen gierig nach der neuen Mode. Sie hatte in unserm Hause wenigstens den Vorteil, daß sie das Wasser in der Kasserolle schneller zum Kochen brachte.

      Nicht viel besser erging es meiner Schwester Eva. Sie hatte sich nach der damaligen Mode eine Manischka, eine Art Jabot, aus weißem Musselin angefertigt und erschien also angetan am Freitag Abend am Eßtisch. Meine Eltern waren aufs höchste entrüstet. Mein Vater sagte empört: »Du siehst wie eine Goje aus. Wie kann eine jüdische Tochter ein Kleid tragen, das an der Brust durchsichtig ist!« Meine Schwester wagte noch einige Bemerkungen, daß sie ja keine böse Absicht gehabt und nur geglaubt hätte, das neue Kleidungsstück stehe ihr so gut


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»Die Welt« 1900.