Memoiren einer Grossmutter, Band II. Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter, Band II - Pauline Wengeroff


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und wieder lesen und heute noch, nach Verlauf von 65 Jahren, weiß ich die ganze Geschichte auswendig.

      Monate vergingen seit der Hochzeit meiner Schwester, und ein Tag glich dem andern; ich ahnte gar nicht, wie nahe der Tag war, der diesem gleichmäßigen und ruhigen Leben ein Ende machen sollte. Als ich eines Morgens auf unserem Balkon saß und mit den Schulaufgaben zu tun hatte, näherten sich mir meine Eltern. Die Mutter faßte mich am Arm, befahl mir aufzustehen, drehte mich herum und unterzog meine ganze Gestalt einer Prüfung; dabei lächelte sie liebevoll und wechselte mit dem Vater verständnisvolle Blicke.

      Obwohl ich dieses Verhalten meiner Eltern nicht verstand, wurde ich instinktiv unter ihren Blicken rot; ich wagte jedoch nicht, eine Frage an sie zu richten. Die Mutter sah meine Verlegenheit, streichelte mir zärtlich die Wange und entfernte sich im Gespräch mit dem Vater. Ich blieb auf meinem Platz zurück, nachdenklich und regungslos. Was sollte das sonderbare Benehmen der Eltern bedeuten? Lange quälte mich die Frage, bis ich eine Erklärung zu finden glaubte: Ich hatte an diesem Sommermorgen 1848 ein blaues Sommerkleid an, das meiner Mutter sehr gefiel, und wahrscheinlich wollte sie mich in diesem Kleide dem Vater zeigen, der uns Kinder stets hübsch gekleidet zu sehen wünschte.

      So harmlos waren die Gedanken und Gefühle der Kinder zu jener Zeit, als ihre Eltern sich bereits mit Heiratsplänen für sie umhertrugen.

      Seit jenem Morgen aber veränderte sich das Benehmen aller Hausgenossen mir gegenüber; man schenkte mir viel mehr Aufmerksamkeit als sonst, und es fiel mir auf, daß Vater, Mutter und Geschwister mich oft mit eigenem Interesse betrachteten. Erst in den nächsten Tagen erfuhr ich die Ursache dieser sonderbaren Aufmerksamkeit. Mein Vater hatte einen Brief, der einen Heiratsantrag für mich enthielt, zustimmend beantwortet. Dieser Brief rührte von dem Rebben (Talmudlehrer) her, der sich auf der Suche nach einer Braut für seinen Schüler befand.

      Ganz nach der patriarchalischen Sitte hatten die Eltern meines Mannes den Rebben des erwachsenen Schülers in die Welt geschickt, eine Braut zu suchen. Die Schadchonim (Heiratsvermittler) zeigten ihm an, wo man hübsche Mädchen aus guten Familien finden könnte.

      Der Rebbe, der sich an meinen Vater schriftlich wandte, war bereits in einigen Städten, hatte aber bisher die Gewünschte nicht gefunden. Und nun kam er nach Brest, um in unserem Hause eine Braut für seinen Schüler zu erlangen.

      Die Eltern des betreffenden jungen Mannes waren reiche Leute und suchten für ihre Söhne Frauen aus vornehmen jüdischen Familien. Der vornehme, reiche Jude jener Zeit war immer bestrebt, eine Bas Towim, d. h. die Tochter eines talmudisch Gebildeten, für seinen Sohn zu finden. Andererseits scheute er keine Mühe und kein Geld, einen ebenso gebildeten Talmudisten seiner Tochter zum Manne zu geben. Die Talmudwissenschaft und ihre Pflege war für den damaligen Juden der Hauptinhalt seines Lebens, die einzige Quelle seiner Weisheit und geistigen Entwicklung.

      Alles im Hause geriet in Aufregung. Jedermann wußte, wer der Fremde war, und welche Absichten ihn zu uns führten. Ich allein wagte nicht daran zu denken. Meine älteren Schwestern fanden sich mit ihren Männern zum Familienrate ein, und der ältere Schwager übernahm die Vermittlung zwischen meinen Eltern und dem Bevollmächtigten meiner künftigen Schwiegereltern. Der Familienrat beschloß, den Rebben zum Tee einzuladen. Niemand aber fand es für richtig, mich davon zu unterrichten. Am Mittagstisch sprach man von diesem Ereignis nur in Andeutungen. Die Eltern waren freudig gestimmt. – Meine Aufregung aber steigerte sich mit jeder Minute, und das arme Herz, in dem die Ahnungen deutlicher und deutlicher aufstiegen, drohte zu zerspringen. Die ganze Zeit am Tisch mußte ich mich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

      Nach Tisch ging ich aus. Ich mußte allein sein mit meinen Gedanken, mit all den neuen, ungekannten Gefühlen, die so plötzlich in mir erwachten, und meinem jungen Leben einen ganz neuen Inhalt gaben. Ich befolgte nicht den Rat meiner Schwestern, die mir zuredeten, ein schönes Kleid zu nehmen, sondern behielt mein blaues Kleidchen mit der schwarzseidenen Schürze an. »Er« sollte mich sehen, so wie ich jeden Tag bin, wie die Meinigen und wie ich selbst mich sah.

      Als ich gegen Abend nach Hause zurückkehrte, hieß es, der fremde Herr sei bereits eingetroffen, wäre aber verhindert, zum Abendtisch zu bleiben. Da er mich aber sehen mußte, veranlaßte mich mein Vater, die brennenden Kerzen in sein Arbeitszimmer zu bringen, wo die beiden Herren sich befanden. Ich gehorchte, nahm beide Leuchter mit den brennenden Kerzen und ging in das Arbeitszimmer meines Vaters. Es war ein kurzer Weg. Aber mir kam diese Zeit wie eine Ewigkeit vor. Wie viele Gedanken rasten da in diesen wenigen Minuten durch meinen Kopf. Ein Sturm erhob sich in meiner Brust; das Herz schien still zu stehen. Äußerlich aber sah ich ganz ruhig aus. Ein leises Klopfen, und ich stand auf der Schwelle dieses Zimmers, wie auf der Schwelle eines neuen Lebens.

      Da mich das Licht blendete, hob ich die Kerzen in die Höhe, über den Kopf, und stand so da, in ihrem vollen Lichte – und harrte. Da ertönte aus dem äußersten Winkel des Zimmers die Stimme meines Vaters, der mit dem fremden Herrn auf dem Sofa sich unterhielt. Ich folgte seiner Stimme, immer noch die Kerzen über meinem Haupte haltend.

      Der Mann erhob sich vom Sofa, und mein Vater stellte mich ihm vor: »Das ist mein Pessele.« Ich fühlte ein Paar große, kluge, schwarze Augen forschend auf mich gerichtet. Es war ein prüfender, durchdringender Blick, der mir sogleich sagte, daß des Rebben Reiseziel hier erreicht war. Ich errötete unter diesem Blick und war nicht imstande, ein einziges Wort zu sagen. Meine Schüchternheit und Verwirrung war so groß, daß ich noch immer die Kerzen über meinem Kopfe hielt, bis mich mein Vater darauf aufmerksam machte. Ich stellte die Leuchter auf den Tisch, blickte noch einmal den Herrn an und entfernte mich lautlos aus dem Zimmer.

      Im Speisezimmer harrten meiner schon alle Angehörigen, die mich sogleich mit Fragen bestürmten. Ich bat sie aber inständig, über die ganze Angelegenheit gar nicht zu sprechen, weswegen ich unaufhörlich ausgelacht und geneckt wurde.

      Nach einer Stunde verabschiedete sich Herr Brim (so hieß der Rebbe) von meinen Eltern, und trat noch an demselben Abend seine Rückreise nach Konotop (800 russische Werst von unserer Stadt) an.

      Bald kam aus Konotop ein Brief an, in welchem der Rebbe meinem Vater berichtete, er hätte alles nach seinem Wunsch geordnet, und Herr Wengeroff werde mit seinem Sohne und ihm selbst in den nächsten Tagen die große Reise antreten. Wir sollten mit meinem zukünftigen Bräutigam in einem 15 Meilen weit von uns entfernten kleinen Städtchen Kartuskaja Berjosa zusammentreffen und, wenn wir einander gefielen, dort gleich die Verlobung feiern.

      Mein Mädchenherz kannte die Gefühle der Liebe noch kaum; plötzlich wurde es aus seinem Schlummer gerissen. Nie geahnte Bilder stürmten auf mich ein. In der Dämmerstunde saß ich jetzt oft und träumte von der Liebe, von dem Manne, der mein Lebensgefährte werden sollte, und unserem gemeinsamen Schicksal...... Es waren stille, lichte Träume, die ich damals in der Dämmerstunde jeden Abend träumte; denn mein tiefgläubiges Gemüt erhoffte alles Gute für die Zukunft. —

      Ich suchte die Einsamkeit. Ich wollte allein sein mit meinen Träumen, die ich so lieb gewann. Aber allein war ich nie, denn das Bild meines Zukünftigen verließ mich nicht, und in meiner Phantasie nahm er die verschiedensten Gestalten an: Einmal war er blond, mit hellen Augen, ein anderes mal schwarz, und ein Paar dunkle, tiefe schöne Augen sahen mich voll Liebe an. Ich errötete vor mir selber: so beschämten mich meine Träume, aber ich hatte sie so lieb, lieb über alles. —

      Manchmal, wenn ich so im Garten saß, in meine Träume verloren, stimmten die Mädchen, die die Gartenarbeit verrichteten, neckende, schmeichelnde Liedchen für mich an. Am liebsten hörte ich das Lied von dem schönen Mädchen, das von vornehmen Rabbinern stammte:

      Schejn bin ich, schejn,

      Schejn is mein Numen;

      Ich kim doch haraus

      Von lauter Rabunim.

      Auf dem Dach sitz ich,

      Von der Sünn schwitz ich,

      Bloe Socken trog ich,

      Tausend Toler vermog ich.

      Kawe in die Kriglach,

      Met in die Flaschen,

      Tausend Toler…

      In die Taschen. —

      Die


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