Memoiren einer Grossmutter, Band II. Pauline Wengeroff

Memoiren einer Grossmutter, Band II - Pauline Wengeroff


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erhalten Deine süße Briefe mit Deine Worte!

      Inmitten der Reise hoben mir gehat noch ein Zustell (Aufenthalt). Zwei Stanzies (Stationen) obforendig von Berese. Mir seien dort gestanen sechs Stunden, von 10 Uhr des Morgens bis 4 Uhr des Abends. Diese Zeit ist mir gewen viel freilacher, ich hob mir baklert (überlegt) mit wie viel weiter wollt ich gewen von Dir als ich wollt gefohren jene Zeit. —

      Ich verhoff, as Du west mir ton dem Vergnügen zu erfreien mich mit Deine Briefe, darum bet ich schon mehr nit.

      Sei mer gesind und freilach, geb Gott mir sollen sich gicher (schneller) sehen mit Dir, meine teure Pessunju!

Chonon Wengeroff.

      P. S. Teuere! west kennen schreiben auf mein Nomen den Konwert, bet ich Dich sehr. Verzeih mir, wos hob so schlecht geschrieben, darum, wos ich hob geschrieben mit dem Bleifeder. —

      Ich bet Dich, bet von mir meinetwegen allemen sollen mir verzeihen, wos ich schreib sei nit; mir heilen (eilen) sehr. Verbleib mir noch a mol gesund, wie es wünscht Dir Dein

Dich liebender Chonon.8. Juli 1849. Uhr 10 Morgens.

      Ich schreib dem Adreß of Dein Nomen, worim der Vater hot mir dos geheißen.« —

      Grenzenlos war meine Verwirrung, während ich diese zärtlichen Herzensergüsse las. Meine Eltern fragten mich nach dem Inhalt des Briefes; den konnte ich ihnen aber nicht sagen. Nur mit Tränen in den Augen bat ich sie, die Bitte meines Bräutigams, ihm oft zu schreiben, erfüllen zu dürfen. Die Eltern willigten ein, was bei der orthodoxen Weltanschauung jener Zeit sehr erstaunlich und für die beiden Menschen bezeichnend war. So groß war ihre Freude, daß ihre Pessele einen auf ihren Namen adressierten Brief erhalten hatte, daß sie nachsichtiger wurden und wirklich ihre Erlaubnis zu diesem Briefwechsel gaben; und so fing unsere Korrespondenz an.

      Die Briefe meines Bräutigams hab ich stets als mein Teuerstes aufbewahrt, und noch heute, nach neunundfünfzig Jahren, sind sie alle in meinem Besitz. Manchmal blättere ich in den vergilbten Papieren, beschwöre die schöne Zeit herauf und sonne mich noch heute in den Strahlen des einst erlebten Glückes.

      Ich zögerte nicht mit der Antwort, bat aber meine Eltern stets, einige Worte zuzuschreiben, was ihre Zustimmung bedeuten sollte. Denn in jenen Zeiten konnte es als Frivolität gelten, wenn ich allein mit meinem Bräutigam den Briefwechsel geführt hätte.

      Ein trauriger Zwischenfall trübte mein Glück. Meine jüngste Schwester Helene erkrankte plötzlich an einem gefährlichen Nervenfieber. Sie war schon von den Ärzten aufgegeben, als plötzlich Besserung eintrat, und unsere liebste kleine Schwester war uns von Gott wiedergeschenkt. Und das kam so: Als mein Schwesterchen leichenblaß und ohne Bewußtsein so dalag, versuchten die Ärzte ein letztes Mittel. Das Kind wurde in ein kaltes Bad gelegt, in dem es zehn Minuten blieb. Dann wurde es wieder in das gut vorgewärmte Bett gepackt. In der Erregung des Augenblicks hatte man eine heiße Wärmflasche vergessen. Das Kind lag auf der Flasche. Es bildete sich eine tiefe Brandwunde. Das war ein Glück für das Kind. Die Ärzte meinten, ohne diese Wunde wäre es zugrunde gegangen. Ich glaube, das hing mit den damaligen medizinischen Anschauungen zusammen. Man liebte es ja einst, bei gefährlichen Krankheiten die Methode des »Haarseiles« anzuwenden. Die eiternde Wunde – so meinte man – zöge die Krankheit aus dem Körper. Langsam, aber stetig machte die Genesung Fortschritte. Aber das Kind blieb doch noch monatelang ans Bett gefesselt. Ich mußte zugleich mit meiner jüngeren Schwester die Pflichten einer Pflegerin versehen, weil es dem leidenden Kinde angenehmer war, Anverwandte statt einer fremden Pflegerin in seiner Nähe zu haben. Tag und Nacht war ich bei ihr. Ich hatte ein Lager neben ihrem Bette und, da sie selbst nicht langen konnte, führte ich ihr die Speisen zum Munde. Es war eine böse Zeit für mich. Nur die Briefe meines Verlobten stärkten meinen Mut und gaben mir neue Kraft.

      Aber auch für mich sollte eine Prüfungszeit kommen. Ich bekam es so »durch die Blume« zu hören, daß die Eltern den häufigen Briefwechsel mit meinem Bräutigam jetzt nicht mehr billigten, denn nach ihrer Meinung wäre »die Sache, d. h. mein ganzer Brautstand überhaupt nicht ganz sicher«. Mein Schmerz war grenzenlos. Tage und Nächte brachte ich in Tränen zu. Ich forschte nach der Ursache der Verstimmung, konnte aber längere Zeit nichts erfahren. Endlich erbarmte sich meiner der jüngere Schwager und erzählte mir, mein Bräutigam wäre bei unseren Eltern verleumdet und als Ausbund aller bösen Eigenschaften bezeichnet worden. Ich litt unsagbar. Der Vater grämte sich. Die Stimmung im Hause war sehr gedrückt. Endlich schrieb der Vater nach Homel, einem Städtchen bei Konotop, wo ein Verwandter von uns, Reb Eisek Epstein, wohnte, und bat ihn, sich genau nach dem Stand der Sache zu erkundigen. Bald langte eine Antwort an, welche die Haltlosigkeit aller Verleumdungen erwies. Die Familie Wengeroff, schrieb unser Verwandter, wäre eine vornehme und der junge Mann ein braver Mensch und guter Talmudist. Diese Nachrichten dämpften den Sturm in unserem Hause. Die dunklen Wolken zerstreuten sich. Über meinem Leben strahlte wieder der helle, klare Himmel.

      Ich jubelte auf. Meine Liebessehnsucht wurde noch mächtiger. Unser Briefwechsel häufiger. Die Geschwister neckten mich und lachten, wenn ein Brief kam. Aber sie freuten sich mit mir.

      Das Leben im Elternhause ging seinen gewohnten Weg. Der Winter nahte seinem Ende, und der Frühling kündigte sich in diesem Jahre sehr zeitig an. Meine Schwester erholte sich gut und konnte bereits das Bett verlassen. Unsere Mutter traf große Anstalten zur Herstellung meiner Aussteuer. Leinewand, seidene und wollene Stoffe. Spitzen wurden bezogen. Man beriet, wählte, kaufte ein. Es war ein hastiges Treiben.

      Auch mich zog man oft zu Rate. Aber ich äußerte meine Meinung stets nur schüchtern und errötend.

      Die Wäsche wurde außerhalb des Hauses angefertigt, die Kleider aber daheim genäht. Nicht Schneiderinnen, sondern Schneidergesellen arbeiteten daran. Es waren alles junge Burschen, die zufällig zugleich dem Synagogenchor angehörten. Während der Arbeit sangen sie oft und gern Lieder, meistenteils religiösen Charakters, wie Purimspiele, Ahasverusspiel, Josephspiel. Das letztere war ihr Lieblingsspiel, das sie sehr oft wiederholten. Sie verteilten die Rollen untereinander und sangen folgendermaßen:

1Jacob:

      Ich bin der Bäum vün der ganzer Welt, ün' duhs

      Seinen meine Zweigen (mit der Hand auf seine Kinder weisend)

      Drum bitt ich den Ojlom (Publikum),

      Soll a Bissele schweigen.

2

      Schon zwei Johr bin ich vün Häus ojsgezojgen,

      Ün nitchasw'schulem (gottbewahre) vün mein Parnusse wegen (geschäftshalber),

      Nur vün die Zores (Leiden), wus is mir gekümmen entgegen,

      La la la, la la la, lalalalala la la.

      Mein Sühn Schimen, mein Sühn Schimen,

      Di bist doch mein bester Sühn,

      Di bist doch mein liebster Sühn,

      Sug'sche (sage doch) mir die Wuhrheit,

      Sug'sche mir die Wuhrheit,

      Wie (wo) is er, wi is er, mein Sühn Josefl?

Die Söhne:

      Vuter (Vater), lieber Vuter sießer,

      Wir weißen nit, wi er is.

      (Wiederholung.)

Jacob:

      Mein Sühn Riwen (Ruben), mein Sühn Riwen,

      Du bist doch mein bester Sühn

      Du bist doch mein liebster Sühn,

      Dir wellen doch tun alle loiben,

      Sug'sche mir die Wuhrheit, sug'sche mir die Wuhrheit,

      Wo is er, wo is er, mein Sühn Josefl?

Die Söhne:

      Vuter, lieber Vuter sießer,

      Wie kennen mir dir derweisen den Ponim (Gesicht),

      As mir hoben ihn verkäuft zu die Midjonim.

Jacob:

      Willt ihr mir das Leben schenken,

      Sollt


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