Русская германистика. Ежегодник Российского союза германистов. Т. 15. Революция и эволюция в немецкоязычных литературах. Коллектив авторов
Konzepte von Dämon und Dämonischem zu präzisieren, um den Widerspruch aufzulösen; denn wie kann man von der Verknüpfung zweier Konzepte sprechen, die gegensätzlichen Prinzipien zuzuordnen sind?
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, das Verhältnis zwischen den widersprüchlichen Konzepten von Dämon und Dämonischem [vgl. Schulz 1993: 179] näher zu erläutern und die Frage zu beantworten, in welchem Sinn die Französische Revolution für Goethe etwas „Dämonisches“ war.
Im ersten Teil werde ich kurz auf das Problem der dämonischen Natur (d.h. der Persönlichkeit) eingehen. Im zweiten Teil wird die Gemeinsamkeit beider Konzepte in ihrem Anteil an der Entelechie näher erläutert. Abschließend wende ich mich nach einigen Bemerkungen zum Problem der Willensfreiheit in Goethes Weltbild der Frage zu, welchen Schluss die Vorstellungen von Dämon und Dämonischem zulassen und damit der Frage, inwiefern die Französische Revolution für Goethe dämonisch und unabwendbar war.
Man ist sich allgemein darüber einig, dass der Hauptunterschied zwischen dem Dämonischen und dem Dämon darin liegt, dass hinter dem ersten Konzept eine über- oder unpersönliche Macht steht, die von außen kommt und dem Individuum grundsätzlich fremd ist [Danckert 1951: 464; Kemper 2004: 448; Jäger 2013: 111]. Der Dämon dagegen ist allen Individuen als das individuelle Gesetz der Entwicklung eigen. Eine präzisere Beschreibung beider Konzepte sollte meines Erachtens von ihren Gemeinsamkeiten ausgehen. Einer der Punkte, in dem sich Dämon und Dämonisches überschneiden, ist Goethes Konzeption der dämonischen Persönlichkeit.
Das Dämonische manifestiert sich für Goethe in der Natur, in historischen Begebenheiten, aber auch in der Kunst und im einzelnen Menschen, genauer gesagt in bedeutenden und außerordentlichen Persönlichkeiten, deren Taten „durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen sind“ (siehe z. B. die Gespräche mit Eckermann vom 11. März 1828 und vom 30. März 1831 [Eckermann 1987: 461, 623–627]). Am besten lassen sich Goethes Gedanken über das Dämonische anhand von „Dichtung und Wahrheit“, seinen Gesprächen mit Eckermann und „Egmont“ nachvollziehen. Vom Dämon spricht Goethe in erster Linie im Gedicht „Urworte. Orphisch“. Das Gedicht wurde im Herbst 1820 in der Zeitschrift „Zur Metamorphose“ veröffentlicht und soll im Folgenden im Kontext von Goethes Morphologie betrachtet werden.
Forscher, die vor allem die Unterschiede zwischen den Konzepten von Dämon und Dämonischem stark machen, verwechseln die Konzepte manchmal miteinander. So betrachtet z. B. Jana Jäger [2013: 39, 42] die Figuren von Egmont und Werther als Beispiele für die Wirkung des Dämons. Ihr Hauptargument dafür ist das Unvermögen beider Figuren, ihrem Schicksal zu entrinnen und „anders zu handeln“. Egmont ist aber eine außerordentliche Persönlichkeit, die ihrem Schicksal weder entrinnen kann noch will. Jeder hat seinen eigenen Dämon, doch das Erhabene und das Tragische gerade dieser Figur liegt im absoluten Unvermögen, eine andere Handlungsweise zu denken, sowie in einer „Produktivität“ [Eckermann 1987: 630], einem Schaffensdrang, der sich, unabhängig von allen Hindernissen, allen Eingriffen des Schicksals realisiert.
Egmont ist gestaltet als eine jener außerordentlichen Persönlichkeiten wie Peter der Große, Napoleon, Carl August oder manche Künstler (Raffael, Mozart, Paganini), welche Goethe als dämonische Naturen oder dämonische Wesen ansah. Solche Persönlichkeiten verfügen in Goethes Denken über jene unbegrenzte und positive Schaffenskraft, durch die sie in der Lage sind, große Wirkungen hervorzurufen. Woher saber kommt diese Kraft, die Unruhe mit sich bringt und die menschliche Produktivität ins Unendliche drängt, sodass z. B. Carl August – laut Goethe – „sein eigenes Reich […] zu klein war und das größte ihm zu klein gewesen wäre“? (Gespräch mit Eckermann, 2. März 1831 [Ekkermann 1987: 438–439]) Diese Kraft ist ein Zeichen der Besessenheit,8 sie kann nicht vom Innern des Menschen ausgehen oder vom inneren Gesetz der Entwicklung vorbestimmt sein. Sie kommt von außen und ist die Kraft des Dämonischen. Ich denke, hier wirkt das Dämonische mit dem Dämon zusammen: jenes aktualisiert und beschleunigt die Realisierung des zweiten. Goethe formulierte gegenüber Eckermann: „Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchterungen machen sein Schicksal! Es täte uns not, daß der Dämon uns täglich am Gängelband führte und uns sagte und triebe, was immer zu tun sei. Aber der gute Geist verläßt uns, und wir sind schlaff und tappen im Dunkeln“ (Gespräch mit Eckermann vom 11. März 1828 [Eckermann 1987: 624]). Der Dämon bedeutet hier nicht Daimon, sondern das personifizierte Dämonische.
Am engsten verflochten sind Dämon und Dämonisches in der Musik. Im Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 sagt Goethe, das Dämonische sei „in der Musik im höchsten Grade, denn sie steht so hoch, daß kein Verstand ihr beikommen kann, und es geht von ihr eine Wirkung aus, die alles beherrscht und von der niemand imstande ist, sich Rechenschaft zu geben“ [Eckermann 1987: 441]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch und kann deswegen uneingeschränkt wirken. Auch seien die Musiker unter den Künstlern am stärksten von der dämonischen Kraft bewegt. Darauf verweist Goethe im Gespräch mit Eckermann vom 2. März 1831: „Unter den Künstlern findet es [das Dämonische. – I. K.] sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei Paganini zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt“ [Eckermann 1987: 439]. Die Musik ist nach Goethe also dämonisch, sie wirkt durch einen Musiker, aber nicht aus ihm. Um ein Medium der Musik zu sein, müsse man aber auch musikalisches Talent haben. In einem früheren Gespräch (vom 14. Februar 1831) spricht Goethe vom musikalischen Talent: es zeige sich am frühesten, da „die Musik etwas Angeborenes, Inneres ist, das von Außen keiner großen Nahrung und keiner aus dem Leben gezogenen Erfahrung bedarf. Aber freilich, eine Erscheinung wie Mozart bleibt immer ein Wunder, das nicht weiter zu erklären ist.“ [Eckermann 1987: 421]. Im musikalischen Talent scheinen Dämon – da es sich um eine angeborene und innere Fähigkeit handelt – und Dämonisches vereinigt zu sein. Die Frage aber bleibt: was bedeutet es, eine dämonische Persönlichkeit zu sein? Ich meine, jeder ist mehr oder weniger dem Dämonischen unterworfen, doch nicht jeder ist eine dämonische Persönlichkeit in Goethes Verständnis. Auch zählte Goethe sich selbst nicht zu den entsprechenden Personen: „In meiner Natur liegt es nicht“ – sagt Goethe – „aber ich bin ihm unterworfen“ [Eckermann 1987: 438]. Wie kann man aber etwas Dämonisches in seiner Natur haben, wenn das Dämonische selbst eine von außen wirkende und dem Individuum fremde Kraft ist? Hier stoßen wir vielleicht an das Fundament von Goethes Vorstellungen über den Dämon und das Dämonische, welches von mythologischem Denken geprägt ist und dadurch eine diskursive Auffassung jener Vorstellungen verhindert. Man kann vermuten, dass die Möglichkeit der produktiven Perzeption der dämonischen Persönlichkeit durch das Dämonische für Goethe im Wesen des Dämons liegt. Das Dämonische zeigt sich im Individuum als „Erleuchtung“ und Steigerung der Entelechie [vgl. Kemper 2004: 444]. Gerade dieser Begriff der Entelechie (zu Goethes Verständnis dieses Begriffs vgl. [Hilgers 2002: 82–139]), der sowohl für das Dä-monische wie auch für den Dämon von Bedeutung ist, könnte das Zusammenwirken beider näher erklären.
Aristoteles bringt in der „Metaphysik“ die Begriffe der energeia (ἐνέργεια) und entelecheia (ἐντελέχεια) miteinander in Verbindung, da er beide zum Bereich der Wirklichkeit rechnet und erklärt, die energeia sei eher der Vorgang, die Aktualisierung im Seienden und somit das Streben nach der vollendeten Wirklichkeit (entelecheia) (vgl. Aristoteles, Metaphysik IX, 3, 1047a 30–35 [Аристотель 1976: 238] bzw. Metaphysik, IX, 8, 1050a 20 [Аристотель 1976: 246]). „Die Entelecheia steuert die Verwirklichung eines im Seienden angelegten Vermögens. Als Ausgang und Ziel der Bewegung bewirkt sie die Realisation der angestrebten Form. In diesem Sinne kann das Zusammentreffen von Vorgang und Zustand der Verwirklichung als Entelechie bezeichnet werden“ [Hilgers 2002: 18]; somit lässt sich die Entelechie auch als wichtige Parallele zu Goethes Begriff der Metamorphose sehen, denn gerade die Metamorphosentheorie (Morphologie, Gestaltenlehre) war ein Versuch, Prä- und Postformationstheorie zu versöhnen [Canisius 1998: 109] und auf die Frage zu antworten: „Wie kann etwas geformt sein eh es ist“? „Die Morphologie ruht auf der Überzeugung, daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse“ führt Goethe in der kleinen fragmentarischen Schrift „Morphologie“ [1887–1919, II: 6/54] aus.
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Wie z. B. bei Carl August, über den Goethe erzählt: „…Wenn ihn der dämonische Geist verließ und nur das Menschliche zurückblieb, so wusste er mit sich nichts anzufangen, und er war übel daran“ (Gespräch mit Eckermann vom 8. März 1831 [Eckermann 1987: 442]).