Verraten . Морган Райс
neben ihr, hielt ihre Hände und musterte sie besorgt.
»Caitlin?«, wiederholte er.
Sie versuchte, sich zurechtzufinden und einen klaren Kopf zu bekommen. Wo war sie? Der Raum, in dem sie sich befanden, hatte kahle Wände aus Stein. Es war Nacht, und durch ein großes Fenster fiel das Licht des Vollmondes herein. Steinböden, gemauerte Wände, eine gewölbte Steindecke. Der Stein sah glatt und sehr alt aus. Waren sie in einem mittelalterlichen Kloster?
Abgesehen von dem Mondlicht wurde der Raum nur von einer kleinen Fackel erhellt, die an einer Wand befestigt war und nicht besonders viel Licht abgab. Um mehr zu erkennen, war es einfach zu düster.
Caitlin versuchte sich auf Calebs Gesicht zu konzentrieren, das ganz nah war. Hoffnungsvoll beobachtete er sie. Auf einmal leuchteten seine Augen auf, er drückte ihre Hand. Seine Hände fühlten sich warm an, während ihre ganz kalt und irgendwie leblos waren.
Trotz ihrer Bemühungen fielen Caitlin die Augen wieder zu – sie waren einfach zu schwer. Irgendwie fühlte sie sich … nein, krank war nicht das richtige Wort. Sie fühlte sich … schwer. Es war, als würde sie irgendwo zwischen den Welten schweben. Sie fühlte sich nicht mit ihrem Körper verbunden und schien auch nicht mehr Teil der Erde zu sein. Trotzdem war sie nicht tot, sondern hatte das Gefühl, aus einem sehr, sehr tiefen Schlaf zu erwachen.
Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Boston … die King’s Chapel … das Schwert. Dann fiel ihr ein, dass man sie niedergestochen hatte. Sie hatte im Sterben gelegen. Caleb war bei ihr gewesen. Und dann … seine Eckzähne – sie waren immer näher gekommen.
Seitlich am Hals spürte Caitlin einen pochenden Schmerz. Das musste die Stelle sein, an der sie gebissen worden war. Sie hatte ihn darum gebeten – ihn sogar regelrecht angefleht.
Doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, denn sie fühlte sich schrecklich. Eiskaltes Blut schien durch ihre Adern zu strömen. Es fühlte sich an, als wäre sie gestorben, hätte aber den nächsten Schritt nicht gemacht. So, als wäre sie irgendwo stecken geblieben.
Außerdem hatte sie Schmerzen. Dumpf pochten sie in ihrer linken Seite und in ihrem Bauch. Das musste die Stelle sein, an der das Schwert in ihren Körper gedrungen war.
»Was du gerade durchmachst, ist ganz normal«, erklärte Caleb ihr sanft. »Hab keine Angst. Alle machen das direkt nach ihrer Verwandlung durch. Aber es wird besser werden, das verspreche ich dir. Die Schmerzen werden bald ganz verschwinden.«
Sie hätte gerne gelächelt und ihm das Gesicht gestreichelt. Allein der Klang seiner Stimme machte alles wieder gut. Dafür lohnte sich alles. Endlich konnte sie für immer mit ihm zusammen sein, und das gab ihr Hoffnung.
Aber sie war zu müde. Ihr Körper reagierte nicht auf die Wünsche ihres Gehirns – sie schaffte es nicht, zu lächeln oder die Hand zu heben. Ganz allmählich driftete sie wieder in den Schlaf zurück …
Doch plötzlich schreckte ein Gedanke sie auf. Das Schwert … es hatte dort gelegen, und dann … war es gestohlen worden. Wer hatte es jetzt?
Auf einmal fiel Caitlin ihr Bruder Sam ein: Er war bewusstlos gewesen und von dieser Vampirfrau mitgenommen worden. Was war mit ihm, befand er sich in Sicherheit?
Und Caleb, warum war er hier? Er müsste doch eigentlich das Schwert zurückholen und die anderen aufhalten. War er nur ihretwegen hiergeblieben? Opferte er gerade alles, nur um an ihrer Seite zu bleiben?
Eine Frage nach der anderen schoss ihr durch den Kopf.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen und schaffte es tatsächlich, die Lippen zu bewegen.
»Das Schwert«, brachte sie mühsam hervor. Ihre Kehle war so trocken, dass das Sprechen ihr Schmerzen bereitete. »Du musst gehen …«, fügte sie hinzu. »Du musst das Schwert …«
»Pst, ganz ruhig«, erwiderte Caleb. »Ruh dich einfach aus.«
Doch sie wollte mehr sagen, so viel mehr. Sie wollte ihm sagen, wie sehr sie ihn liebte, wie dankbar sie ihm war. Und wie sehr sie hoffte, dass er immer an ihrer Seite bleiben würde.
Aber das würde warten müssen, denn sie fühlte sich wieder so benommen, dass sie nicht mehr in der Lage war, weiterzusprechen. Sie kämpfte dagegen an, aber sie versank in der Dunkelheit und fiel erneut in einen tiefen Schlaf.
2. Kapitel
Kyle flog über den Norden Manhattans. Noch nie zuvor hatte er ein derartiges Hochgefühl erlebt. Hinter ihm flog Sergei, sein gehorsamer Diener, gefolgt von Hunderten von Vampiren, die sich ihnen unterwegs angeschlossen hatten. In Kyles Gürtel steckte nun das sagenumwobene Schwert, und das sagte alles. Überall entlang der Ostküste hatten böse Vampire die Neuigkeit bereits gehört, und immer mehr Clans stießen dazu und folgten Kyle. Allen war klar, dass es Krieg geben würde, denn Kyles Ruf eilte ihm weit voraus. Diese Vampire wussten, dass er garantiert nichts Gutes im Schilde führte. Und sie wollten daran teilhaben.
Prickelnde Vorfreude erfüllte Kyle, während die Armee hinter ihm anwuchs. Sergei hatte seine Sache gut gemacht, als er das Schwert genommen und diese Caitlin niedergestochen hatte. Damit hatte er Kyle überrascht, denn das hätte er Sergei gar nicht zugetraut. Offensichtlich hatte er ihn unterschätzt, und als Belohnung hatte er ihn am Leben gelassen. Bestimmt würde Sergei sich noch als guter Handlanger erweisen. Vor allem war Kyle beeindruckt gewesen, dass Sergei ihm sofort brav das Schwert überreicht hatte, nachdem sie die King’s Chapel verlassen hatten. Ja, Sergei kannte seine Stellung. Wenn er sich weiterhin dementsprechend verhielt, würde Kyle ihn vielleicht sogar befördern und ihm die Verantwortung über eine kleine Legion übertragen. Zwar hasste Kyle die meisten Dinge an den meisten Leuten, aber wenn er eine Eigenschaft schätzte, dann war es Loyalität.
Vor allem nach dem, was sein eigenes Volk, der Blacktide Clan, ihm angetan hatte. Nachdem Kyle Tausende von Jahren uneingeschränkt loyal gewesen war, hatte Rexus, der Oberste Meister, ihn verstoßen, als wäre er ein Niemand und als hätten all die Jahre treuer Gefolgschaft nichts bedeutet. Und alles nur wegen eines einzigen kleinen Fehlers. Das war unvorstellbar.
Doch jetzt war Kyles Plan perfekt aufgegangen. Nun, da das Schwert sich endlich in seinem Besitz befand, konnte ihm nichts mehr – absolut gar nichts mehr – in die Quere kommen. Sehr bald würde er Krieg gegen die Menschen und gegen die guten Vampirclans führen, und selbstverständlich würde er gewinnen.
Als Kyle sich dem Stadtzentrum näherte und Harlem überflog, ließ er sich etwas tiefer sinken und nutzte sein ausgezeichnetes Vampirsehvermögen, um die Einzelheiten dort unten heranzuzoomen. Dabei wurde sein Grinsen noch breiter.
Die Verbreitung der Pest, die Kyle selbst in die Wege geleitet hatte, zeigte offenbar bereits Wirkung, denn es herrschte schreckliches Chaos. Diese jämmerlichen kleinen Menschen drängten sich in alle Richtungen, rasten mit ihren Autos gegen Einbahnstraßen, stritten miteinander und plünderten Geschäfte. Er konnte erkennen, dass die meisten von ihnen mit den charakteristischen Beulen übersät waren, die symptomatisch für die Beulenpest waren. Außerdem sah er die Leichen, die sich bereits an jeder Straßenecke stapelten. Dort unten herrschte regelrecht Weltuntergangsstimmung. Nichts hätte Kyle glücklicher machen können.
Jetzt war es nur noch eine Frage von Tagen, bis sich alle Menschen in der ganzen Stadt angesteckt haben würden. Das war der Augenblick, in dem Kyle und seine Männer zuschlagen und die Übriggebliebenen vernichten würden. Es würde das größte Festmahl werden, das es je gegeben hatte. Und danach würden sie die wenigen überlebenden Menschen als Sklaven halten.
Das einzige kleine Hindernis, das noch im Weg stand, war der Whitetide Clan. Er bestand aus diesen jämmerlichen Vampiren, die sich nur von Tierblut ernährten und sich für etwas Besseres hielten. Ja, sie würden versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen. Da Kyle jedoch das Schwert besaß, hatten sie keine Chance. Wenn er mit den Menschen fertig war, würde er sich als Nächstes um die Vampire des Whitetide Clans kümmern.
Aber zuerst – das war ihm am allerwichtigsten – würde er sich seinen Platz in seinem eigenen Clan zurückerobern. Und dabei würde er gnadenlose Härte walten lassen. Rexus hat einen schweren Fehler begangen, indem er mich bestraft hat, dachte Kyle.