Soll und Haben. Gustav Freytag
erfahrenen Frauen seine Huldigung darzubringen, um die aufstrebende Jugend kümmerte er sich nicht mehr.
Anton aber war wie ein erlöschender Stern aus der Gesellschaft geschieden. Er wurde nicht wieder darin gesehen. Frau von Baldereck erkannte etwas spät, daß es passend sei, den jungen Mann, der doch einmal in ihrem Hause aufgenommen war, gelegentlich wieder einzuladen, um ihm und andern zu zeigen, daß man seine Gegenwart nicht bloß deshalb für anständig halte, weil er – sondern auch um seiner selbst willen. Und einige andere Familien des Landadels dachten ebenso; da aber, wie bemerkt, alle diese Einladungen etwas spät kamen und Anton sein Nichterscheinen entschuldigte, so geschah ihm in kurzem, was viel bedeutenderen Größen der Gesellschaft zu begegnen pflegt, er wurde vergessen. Die früheren Eideshelfer bei der großen Urkunde, Herr von Zernitz und Herr von Tönnchen, redeten ihn noch eine Weile auf der Straße an, wenn er ihnen begegnete, dann grüßten sie ihn noch ein Jahr, und endlich kannten auch sie ihn nicht mehr.
Unserm Anton kam wenig darauf an. Er stürzte sich jetzt mit Leidenschaft in die Arbeiten des Geschäfts. Gleich am andern Morgen klopfte er an die Tür des kleinen Kontors und trat in das Allerheiligste des Prinzipals ein. Er erzählte ihm, was er gestern zu Frau von Baldereck gesagt habe, und fügte hinzu: »Ich werde nicht mehr in die Gesellschaft gehen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich in der letzten Zeit meine Pflicht nicht vollständig getan habe, ich werde von heut an sorgfältiger sein.«
»Ich habe keinen Grund, über Sie zu klagen«, erwiderte der Kaufmann freundlich. »Geben Sie mir die Summe an, welcher Sie bedürfen, um Ihre Verhältnisse in Ordnung zu bringen.« Anton zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem er gewissenhaft sein Debet aufgezeichnet hatte, Herr Schröter rief den Kassierer, ließ die Summe an Anton zahlen und diesem zur Last schreiben, und auch das war abgemacht.
Fink sagte am nächsten Tage zu Anton: »Du bist mit einem Knalleffekt aufgetreten und hast von den älteren Herren der Gesellschaft das Zeugnis bekommen, daß du dich angemessen benommen hast.«
»Wer hat das gesagt?« Fink erzählte ihm die Äußerungen des Freiherrn von Rothsattel und tat, als bemerke er nicht, daß Antons Gesicht eine tiefe Röte überflog. »Indes wäre doch klüger gewesen«, fuhr Fink fort, »wenn du die Angelegenheit nicht so auf die Spitze getrieben hättest. Wozu die ganze Gesellschaft meiden, in der doch einige sind, die dich persönlich liebgewonnen haben?«
»Ich habe gehandelt«, sprach Anton, »wie mir mein Gefühl eingab, ein anderer, der älter ist und mehr Welt hat, wird es vielleicht geschickter anfangen. Du kannst mir nicht zürnen, daß ich in dieser Sache nicht deinem Rat gefolgt bin.«
Es ist merkwürdig, dachte Fink, die Treppe hinuntersteigend, bei welchen Gelegenheiten die verschiedenen Menschen lernen, den eigenen Willen zu gebrauchen. Dieser Knabe ist über Nacht selbständig geworden, und was ihm das Schicksal jetzt von größeren Dingen bringt, er wird sicher alles anständig durchmachen.
Für Anton sowohl als seinen Freund war es ein gutes Zeichen, daß ihr Verhältnis durch diese Szene nicht gestört wurde. Ja es gewann an innerem Wert. Fink behandelte seinen jüngeren Freund mit größerer Achtung, und Anton bewegte sich mit mehr Freiheit und bemühte sich, auch Fink gegenüber einen eigenen Willen zu haben. Und das richtige Urteil des Jüngeren trug allmählich dazu bei, den Älteren von manchem losen Streich abzuhalten und seinen Übermut zu bändigen. Anton erfüllte seine Pflichten im Kontor mit der größten Pünktlichkeit, sein Diensteifer war unendlich und seine Zuvorkommenheit gegen seine Kollegen größer als jemals. Fink gewöhnte sich dadurch, ohne daß er es selbst merkte, auch seinerseits regelmäßiger im Geschäft zu erscheinen und die Arbeitsstunden besser auszuhalten. Nur einen Gegenstand gab es, über den er mit seinem Freunde nie sprach, obgleich er wußte, daß Anton immer an ihn dachte, das war die junge Dame der Tanzstunde, welche so viel Herz und Mut gezeigt hatte.
4
Nie hatten die Blumen so reichlich geblüht und nie die Vögel so lustig gesungen als in diesem Sommer auf dem Gute des Freiherrn. Die Wintersaison hatte die Familie mit einem großen Teil des Landadels verbunden, und die Bekanntschaften des Teetisches und Ballsaales spannen sich jetzt unter blauem Himmel weiter. Fast immer war Besuch auf dem Schlosse. Aus der Stadt kam Frau von Baldereck mit Eugenie, zuweilen auch der Laubfrosch, Zernitz und Benno Tönnchen, von ihrem Gut Frau Werner mit einem Sohn und vier Töchtern. Theone und Hildegard waren wochenlang die Gäste Lenorens, sie hatten kein Mittel gefunden, ihren Schwur zu halten, und trafen jetzt wenigstens auf befreundetem Gebiet wieder zusammen. Das Haus schien manchmal zu klein, die Gäste zu fassen. In allen Zimmern des Schlosses und auf dem runden Rasenplatz tummelten sich die zierlichen Gestalten der Mädchen. Sie lasen Theaterstücke mit verteilten Rollen, sie fühlten miteinander die zartesten und höchsten Gefühle durch, sie tanzten, sie schlugen den Dritten ab oder ließen sich vom wilden Mann jagen. Und wenn die jungen Herren je einmal langweilig wurden und die Stimmung der Mädchen nicht verstanden, so bestiegen diese den Kahn, ergriffen Streichruder und zogen sich vom Festlande zurück in eine unangreifbare Stellung mitten auf dem Wasser. Wie süß wurde dort geschwärmt, wenn das Ruder leise in der Flut plätscherte und der Mond über den Bäumen des Parks heraufzog. Um den Kahn hoben die Seerosen ihr weißes Haupt aus dem Wasser, erfreut, daß ihre Feinde, die Schwäne, zur Ruhe gegangen waren, das Bild des Mondes zitterte auf dem Kamm kleiner Kreiswellen, die Nachtigall schmetterte im Busch, und ein warmer Windhauch trieb den Duft blühender Sträucher über den See. Dann sangen Theone und Hildegard zweistimmige Lieder, oder Hulda Werner gestand eine holde Erinnerung aus der Residenz, oder Eugenie machte spöttische Bemerkungen über die unglücklichen Herren, welche am Uferrand auf und ab liefen und vergeblich durch List und Gewalt in den Besitz des Kahnes zu kommen suchten.
Aber die prächtigsten Stunden waren am Sonntag abends; dann wurde das Winterkränzchen fortgesetzt, der Reihe nach im Schloß der Rothsattel, bei Werners, bei Balderecks. Wenn man nicht tanzte, trieb man schelmische Possen. Man verkleidete sich. Mit Mänteln, Schals und Tüchern drapierte sich die junge Gesellschaft in der lächerlichsten Weise, dann stellte Zernitz, der in solchen Dingen ein Meister war, schnell ein Tableau, und die Väter und Mütter mußten als Publikum zusehen. Oder man führte Scharaden in dramatischen Szenen auf, entweder aus dem Stegreif oder so, daß die Rollen der einzelnen auf kleine Zettel geschrieben wurden, die man während der Aufführung in der Hand hielt. Die ganze Woche hindurch dachten die Mädchen auf hübsche Wörter und wie man sie darstellen könnte. Klassische Wörter wurden dort aufgeführt, zum Beispiel ›Referendarius‹ als Reh, als Fee, als Wettrennen und als König Darius, wo Benno Tönnchen als toter Darius auf dem Boden lag und die schöne Hulda Werner als Alexander der Große mit gerungenen Händen hinter ihm stand, worauf Lenore als Ganzes mit einer Brille auf der Nase und Akten unter dem Arm erschien und über den Laubfrosch, welcher ein Verbrechen begangen hatte, ihr Protokoll aufnahm.
Und erst, als das treffliche Wort Parthenia dargestellt wurde! Zuerst ein feierliches Ehepaar aus der alten Zeit; dann ein langweiliger Tee, dann ein schüchterner Liebhaber, welcher täglich seiner Dame einen Liebesantrag machen will und niemals damit zustande kommt, sondern immer sitzenbleibt, so daß die Dame zuletzt mit einem Seufzer die Erklärung ausrufen kann: »Nie, nie!«, und dann eine andere Brautwerbung, bei der ein verschämtes Bauernmädchen ihrem Liebhaber, dem Otto Tronka, zuletzt ein leises Ja zuflüstern muß. – Theone Lara war als Bauernmädchen bezaubernd, nur das Ja sprach sie nicht aus, sie schämte sich. – Und am Schluß erschien Lenore wieder als ein Ganzes, als eine griechische Jungfrau, und der Laubfrosch, der Nußknacker und der kleine Lanzau saßen als Wilde in schwarzhaarigen Schlittendecken um sie herum und wurden von ihr ach so schlecht behandelt.
Wie glücklich war Lenore in dieser Zeit! Zwar ein wenig Original war sie geblieben, und die Mutter schüttelte zuweilen den Kopf über einen kecken Einfall oder einen kräftigen Ausruf, der den Lippen des schönen Mädchens entschlüpfte. Natürlich tanzte Lenore immer als Herr, sooft es an Herren fehlte; sie war die Anführerin bei einigen entschlossenen Taten, welche die Mädchen verübten, sie trieb ihre ganze Gesellschaft einmal wohl eine Meile weit auf einen Punkt, wo eine gute Aussicht sein sollte, sie zwang sie dann, in die Schenke des nächsten Dorfes einzukehren und Milch und Schwarzbrot als Abendkost zu genießen, und brachte die Todmüden am späten Abend auf einem Leiterwagen zurück, den sie gemietet hatte und auf dem sie stand und selbst kutschierte. Sie behandelte die jüngeren Herren fortwährend gönnerhaft