Soll und Haben. Gustav Freytag

Soll und Haben - Gustav Freytag


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suchte sich zu entschuldigen. »Fink zog das rote Buch aus der Westentasche und gab es in meine Hand, ich sandte es sogleich versiegelt ab.«

      »Dann muß Herr von Fink das Buch vertauscht haben«, fuhr Lenore fort. »Warum haben Sie denn nicht hineingesehen?« fragte sie vorwurfsvoll. »Wenigstens auf das Titelblatt.«

      »Das durfte ich ja nicht«, rief Anton, »ich hatte Ihnen ja versprochen, keinen Blick hineinzuwerfen. Ich rufe Fink.«

      »Halt«, rief Lenore, »noch einen Augenblick! Hat er hineingesehen oder nicht?« fragte sie siegreich, zu ihrer Schar gewandt.

      Ein bewunderndes »Nein« kam von aller Lippen. »Bleiben Sie, Herr Wohlfart, es ist das rechte Buch, das Sie zurückgesandt haben. Einige von uns bezweifelten, ob ein Mann, ob selbst Sie das Tagebuch ungelesen aus der Hand geben könnten; ich sagte, Sie wären das imstande, und habe meinen Freundinnen das soeben bewiesen.«

      »Ich danke Ihnen für das gute Zutrauen«, rief Anton erfreut.

      »Alles traue ich Ihnen zu, was brav und ehrlich ist«, sagte Lenore und blickte ihn mit herzlichem Vertrauen an.

      Das war ein großer Abend im Kränzchen. Anton war bis zum Kotillon von einem Kreis junger Damen umgeben, welche ihn mit rührender Vertraulichkeit behandelten, und als der Augenblick kam, in welchem farbige Schleifen an die Herren ausgeteilt wurden, da wurden die Klappen seines Fracks von oben bis unten besteckt, und er sah aus wie der bunteste Hofmarschall des Kontinents.

      Aber noch Größeres begab sich. Die Partei der Grünen drohte zu zerfallen. Zernitz, Georg Werner und der kleine Lanzau tanzten heut nur mit den Braunen. Hildegard Salt verlebte eine schreckliche halbe Stunde an der Seite des Nußknackers, welcher sie während eines Walzers mit ritterlicher Artigkeit, ja man muß sagen, mit Gefühl behandelte und dadurch in die allergrößte Verlegenheit setzte; Lenore hatte gar von den ehrerbietigen Angriffen des Laubfrosches, des Georg Werner und des kleinen Lanzau zu leiden, welche sämtlich auf einmal zu der Überzeugung gekommen waren, daß Lenore ihrer ernsthaften Huldigung nicht unwürdig sei. Eugenie selbst war heut gegen die Braunen von aufrichtiger Herzlichkeit, sie hing sich an Lenorens Arm und küßte beim Abschied Theone im überströmenden Gefühl auf beide Wangen. Und Frau von Werner setzte sich neben die Baronin Rothsattel, kündigte für die nächsten Tage ihren und ihrer Töchter Besuch an, bat um die Erlaubnis, ihren Georg mitzubringen, und sprach unaufhörlich davon, wie glücklich ihre Kinder noch im nächsten Sommer darüber sein würden, daß die Tanzstunde sie in ein so intimes Verhältnis zu Lenore gebracht habe. Kurz, das ganze Aussehen der Tanzstunde war verändert. Mit Ausnahme der grünen Damen, welche über die Untreue ihrer Herren zürnten, war alles in einer gemütvollen, von Menschenliebe gleichsam überfließenden Stimmung, deren Gegenstand die Damen des braunen Bundes waren. Verlegen erkannten diese die Veränderung ihrer Stellung, die Herzlichkeit der Baldereck, die ernsthaften Huldigungen aller feindlichen Herren; ach, aber zu einem Genuß ihres Glückes konnten sie nicht kommen, in ihrer Brust fühlten sie die Nadelstiche des bösen Gewissens, und um sie herum bewegte sich in weitem Kreise die furchtbare Gestalt Finks, des Wissenden. Durch ein Wort konnte er den unbegreiflichen Zauber zerstören, der sie umgab. – Den ganzen Abend hielt er sich fern von allen Teilnehmern am Tagebuch, erst am Ende der Stunde trat er zu Lenore: »Ist Fräulein Eugenie heut nicht allerliebst? Ich gebe Ihnen zu, daß sie gefühllos ist, aber diese kleine Unart wird sich möglicherweise im Laufe der Jahre in eine ganz entgegengesetzte Eigenschaft verwandeln.«

      Lenore sah ihn verlegen an. »Kommen Sie mit zu Theone Lara«, sagte sie endlich. »Herr von Fink hat ein Recht auf unsern Dank«, rief sie dort, »wir alle wollen ihn bitten, daß er über das Buch schweigt, wie er es bis jetzt getan.«

      »Ich will mich dazu verpflichten«, versetzte Fink, »unter einer Bedingung. Ein Opfer muß ich haben. Ich muß die Dame erfahren, welche den Vers unter einen gewissen Weinstock geschrieben hat. Ich muß jemanden haben, den ich hassen kann, von dem ich bei Gelegenheit alles Schlechte rede, jemanden, der dafür bezahlt, daß Sie so leichtsinnig waren, die Dokumente Ihres scharfen Witzes in meine Hände fallen zu lassen. Nennen Sie mir die eine, und ich gebe Ihnen freiwillig das Versprechen, daß ich gegen Fremde nie ein Wort aus dem Tagebuch zitieren werde.«

      In der Gruppe entstand eine ängstliche Bewegung, jede fürchtete, die Beute des rachsüchtigen Indianers zu werden. Lenore sah auf Hildegard, welche vor Schrecken erblich, und sagte eifrig: »Ich habe die Zeichnung gemacht, und ich habe die Verse darunter meiner Freundin diktiert; da Sie’s gesehen haben, so bitte ich Sie um Verzeihung. Mehr kann ich nicht tun; und wenn Sie jetzt die Absicht haben, sich an mir zu rächen, so werde ich Ihren Haß zu ertragen suchen.«

      »Schön«, sagte Fink lächelnd, »ich werde mich rächen, ich werde Sie von heute ab hassen. Übrigens ist mir angenehm, zu erfahren, daß auch das vergänglichste aller Gefühle, Mädchenfreundschaft, die Unglücklichen, welche davon betroffen werden, zu heldenmütigen Opfern begeistern kann. – Ah, Fräulein Hildegard, finden Sie nicht, daß Benno Tönnchen ein herzensgutes Kind ist? Auch seine Gestalt ist nicht schlecht. Etwas zu voll, werden Sie sagen, aber gerade dies volle Wesen macht ihn und seine Familie so ansprechend.«

      Die letzte Folge dieses glücklichen Abends war, daß auf einer neuen Konferenz der Braunen beschlossen wurde, den treuen Ritterdienst Wohlfarts in außerordentlicher Weise zu belohnen. Nach längerer Überlegung wurde man einig, daß Theone gemeinschaftlich mit ihren Freundinnen eine prachtvolle Börse zu häkeln habe. Gleich am nächsten Morgen wurden Seide und Perlen gekauft. Lenore wollte, um sich nicht auszuschließen, die Kunst des Häkelns eigens erlernen. Auch strahlte bereits die erste Kappe der Börse in Braun und Gold, als Ereignisse eintraten, welche die Vollendung hinderten.

      3

      Es ist eine traurige Erfahrung, daß die überirdischen Gewalten dem Menschenkind das Glück einer hochgespannten Empfindung nicht lange unverkümmert lassen. Sie haben die Sache so schlau eingerichtet, daß sich fast immer eine Saite unseres Innern abspannt, sooft sie den Wirbel einer anderen zur Höhe herumdrehen. Natürlich entsteht daraus ein Mißklang. Diese schlechte Behandlung erfuhr auch Antons Seele.

      Zunächst ereignete sich, daß das Kontor fortfuhr, die Veränderung in Antons Leben mit kritischem Blick zu beobachten. Jede Art von Befremden herrschte in den verschiedenen Zimmern des Hinterhauses, in allen aber war man einig, daß sich Anton, seit er die Tanzstunde besuche, sehr auffällig und nicht zu seinem Vorteil verändere. In Wirklichkeit war diese Veränderung nicht groß. Es ist wahr, Anton war in den Freistunden weniger mit seinen Kollegen zusammen als sonst, er brachte viele Abende außer dem Hause zu, und wenn er einmal in Gesellschaft der Hausgenossen aushielt, so war er wohl zerstreuter, ja vielleicht übte er auch geringere Nachsicht gegen die ihm wohlbekannten kleinen Schwächen der anderen Herren. Sein Verstand bewahrte ihn davor, sich wegen der plötzlichen gesellschaftlichen Erfolge zu überheben und die Kollegen durch Erzählung seiner Abenteuer zu langweilen; aber er konnte sich doch nicht enthalten, zuweilen Vergleiche anzustellen zwischen dem Ton und Benehmen seiner Umgebung, die er übersah, weil er sie genau kannte, und dem Ton und Benehmen im Salon der gnädigen Frau, der ihm imponierte, weil er ihm neu war. Das Kontor erklärte seine größere Schweigsamkeit für Stolz, seine häufige Abwesenheit für unziemlichen Leichtsinn, und er, der sonst ein Liebling des Hauses gewesen war, kam gerade deshalb in die Lage, jetzt sehr streng beurteilt zu werden. Er selbst empfand die kühlere Haltung der Gemäßigten, die auffallende Kälte der Entschiedenen als lieblose Behandlung. So kam es, daß er die Abende, an denen er keine Veranlassung hatte auszugehen, fast nur mit Fink verlebte und daß beide zusammen nach wenigen Wochen als aristokratische Koterie den andern Herren gegenüberstanden.

      Anton wurde durch dieses Verhältnis mehr gedrückt, als er sich selbst gestehen wollte; er fühlte es an seinem Arbeitspult, auf seinem Zimmer, sogar beim Mittagessen im Vorderhause. Seltener redete ihn einer seiner Kollegen an; wenn Jordan eine Auskunft forderte, wandte er sich nicht mehr an ihn, sondern an Baumann; wenn der Kassierer zur Frühstücksstunde in das vordere Kontor kam, so trat er nicht mehr an Antons Sitz; und wenn Specht sich von seinem Platze umwandte und mitten in den kaufmännischen Korrespondenzen eine auffallende Frage an die Umsitzenden tat, so wandte er sich zwar öfter als sonst an Anton, aber es erschien diesem als keine Verbesserung seiner Situation, wenn Specht ihm flüsternd ins Ohr schrie: »Ist


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