Das Kind. Adolf von Wilbrandt

Das Kind - Adolf von Wilbrandt


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      Das Kind

      1

      Gertrud ging in das Bücherzimmer, das für diesen Abend in ein Rauch- und Spielzimmer verwandelt war; der große runde Lesetisch war hinausgeräumt, dafür standen drei Spieltische mit allem Zubehör, auch mit kleinen Rauchtischchen wie die Winkel eines gleichschenkligen Dreiecks da, von dem alten Pedanten Brink wie mit dem Lineal gestellt. Gertruds rosiger Träumerkopf wandte sich in der Thür zurück:

      »Was noch?« fragte sie.

      »Kind, vergiß das Buch nicht!« rief der Vater ihr nach.

      »O nein!« sagte sie, überlegen lächelnd, und machte die Thür hinter sich zu. Die junge, noch überschlanke Gestalt ging langsam zwischen den Spieltischen durch. Ja, ja, ich hole das Buch! murmelte sie, als spräche sie noch zum Vater. Die hellen Augen wurden wieder träumerisch; unbewußt wiederholend, halb singend summte sie vor sich hin: Ja, ja, ich hole das Buch . . . Ja, ja, ich hole das Buch . . . Sie stand vor einem der hohen Büchergestelle, schaute auf die hübschen, farbigen Einbände und durch sie hindurch, ins Ferne. Von dort klang er wieder her, ihr Vers, der Vers aus ihrem Traum.

      »Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor . . . Nein, dachte sie, den Vers werd’ ich nicht mehr los. Wie sonderbar und wie feierlich klingt es. »Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor . . . Was wollt ich doch noch? Ich wollte doch was! Weiß nicht. Kann mich nicht besinnen . . .«

      In einer süßen Unruhe ging sie weiter, an den Büchern hin. »Ach,« murmelte sie, da ihr so unbestimmt wohlig ums Herz war, »ach, ich bin so glücklich!« – ›Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor . . . ‹«

      Schilcher trat geräuschlos ein, wie er pflegte, war er doch in dieser Wohnung ebenso zu Hause wie in seiner eigenen, der kleinen Junggesellenwohnung eine Treppe höher. Mit seinem einen Ohr hatte er Gertruds hingesummten Vers gehört, die kurze, hagere Gestalt blieb noch auf der Schwelle stehn und legte den Kopf auf die Seite, wie um mehr zu hören. »Was summt das Hummelchen?« fragte er, ein wenig lächelnd. »Und immer ging sie fort. – — Was heißt das?«

      Gertrud lächelte auch. »Das ist aus einem Gedicht, Onkel Schilcher, das du noch nicht kennst.«

      »Was?« sagte der alte Herr, die Augenbrauen hoch ziehend. »Gertrud Rutenberg dichtet?«

      Sie schüttelte den Kopf: »Ich? O Gott! Nein! – So wenig wie du! – Ich hab’s nur geträumt.«

      »Verse?« fragte er sehr erstaunt. »Das ist mir noch nie begegnet.«

      »Mir auch heute zum erstenmal, heute nachmittag. Weil ich die letzte Nacht schlecht geschlafen habe —«

      »Ja, ja!« warf er ein, mit seinem spöttischklug herzlichen Lächeln. »Vor dem ersten Fall!«

      »So war ich heut nachmittag plötzlich weg – im Lehnstuhl, Onkel Schilcher – und hab’ dir so viel zusammengeträumt, es nahm gar kein Ende. Ich glaub’, es war ein ganzes Gedicht, – siehst du, im Traum, da hab’ ich Talent! – Und dieser eine Vers verfolgt mich förmlich . . .«

      Schilcher nickte bedächtig. »Wahrscheinlich weil du den Traum noch niemand erzählt hast —«

      Sie schüttelte den Kopf.

      »Junge Mädchen pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen . . . Ist dein Vater zu Hause?«

      Sie nickte. Mit dem dunkelblonden Kopf nach dem Salon deutend, warf sie hin. »Doktor Wild ist da; und Lugau.«

      »Junge Mädchen,« wiederholte Schilcher in seiner trockenen Art, ». . . pflegen aber ihre Träume gerne zu erzählen.«

      »Dir?« sagte sie. »Du lachst mich nur aus!«

      »Wie werd’ ich. Siebzehnjährige Mädchen lach’ ich niemals aus, das sind sehr ernsthafte, ernst zu nehmende Wesen. Also ein poetischer Traum?«

      »O!« stieß Gertrud heraus. »Ein wunderbarer Traum! – Weißt du, ich lag auf einer Wiese, oder auf irgend was Grünem, unter einer Eiche, oder so eine Art von Baum. Plötzlich stand da – — Aber du lachst mich wirklich nicht aus?«

      »Wie werd’ ich!«

      »Plötzlich stand da ein großer, langer, alter weißbärtiger Mann vor mir, sonderbar gekleidet – hast du einmal ägyptische Priester auf Bildern gesehn? Na, so ungefähr. Und der hob eine Hand – eine schauerlich weiße Hand war’s, aber doch sehr schön – und sagte ohne weiteres ein ganzes Gedicht zu mir, warum, weiß ich eigentlich nicht. Es klang aber so feierlich, so – nun lachst du. – Nein? – Es klang wie Musik wunderschön! mir schien’s wunderschön. Und der Inhalt war —« Sie stockte. Schilcher wartete eine Weile, dann fragte er mit seinem ernstesten Gesicht. »Und der Inhalt war —?«

      »Auch sehr feierlich,« antwortete sie etwas verlegen »von Glück und – Liebe und – — Aber als ich aufwachte, hatt’ ich es vergessen. Nur diesen einen Vers hatt’ ich noch im Ohr – den du vorhin gehört hast.« —

      »Bitte, noch einmal!«

      »Und immer ging sie fort, aufs offne Himmelsthor . . .« Gertrud senkte ihr Köpfchen und lächelte still und glücklich vor sich hin.

      Schilcher war auch eine Weile still, ganz regungslos wie gewöhnlich, denn viel mit den Gliedern zu sprechen war nicht seine Sache. Das bartlose Gesicht mit den frühen Runzeln, den starken Brauen, der gekrümmten Nase und dem vortretenden Kinn – eigentlich eine Art Nußknackergesicht – betrachtete das Mädel, an dem seine Seele so hing, mit einem langen Blick aus dem Augenwinkel, um die schmalen Lippen ging ein verstohlenes, weiches Lächeln.

      »Hm!« machte er endlich und schob das Lächeln weg. »Der Vers ist übrigens eigentlich nicht ganz richtig, Gertrud. Es müßte doch heißen: ›Und immer ging sie vorwärts aufs offne Himmelsthor‹ . . . Nicht?«

      »Ja, ja,« antwortete sie, dachte aber wohl an etwas anderes.

      Der alte Herr schwieg wieder ein Weilchen. »Bist wohl sehr glücklich, meine kleine Gertrud?« sagte er dann langsam.

      Sie lächelte ihn träumerisch an und sagte nichts.

      »Freust dich wohl sehr auf den herrlichen göttlichen?«

      »Auf wen?« fragte sie etwas hastig.

      »Nun, auf den ersten Ball.«

      »Ja, ja!«

      »Den ersten Ball, den du selber giebst! – Wenn wir nur erst im Ballkleid prangen – Rosen im Haar, oder Gott weiß was . . . Wirst du auch noch fertig?«

      Sie lachte. »Beruhigen Sie sich, Herr Oberappellationsrat. Regen Sie sich darüber nicht auf!«

      »Werd’ mich also nicht aufregen. Danke. – Der erste Ball, den man selber giebt, siebzehn Jahre alt. – Ja, das ist nun auch eines von den Gefühlen, die ich nie gekannt habe! Der erste Ball – die Hochzeit – die Kindtaufe – diese drei höchsten Momente, die sind mir entgangen.«

      Gertrud, die nun neben ihm stand – die lange Person war größer als der kleine Herr – hob sich auf den Zehen, im Uebermut, um auf die kleine Glatze zu sehn, die zwischen seinen etwas struppigen, emporgesträubten Haaren wie ein Teich im Schilf lag.

      »Ach, du armer Mann«, sagte ihre liebe, streichelnde Stimme. »Du bist wohl sehr unglücklich?«

      »Könnt’s nicht sagen, nein!« erwiderte er mit seiner trockenen Ruhe. »Erstens freu’ ich mich mit Gertrud Rutenberg sehr auf ihren ersten Ball. Zweitens hab’ ich diese Gertrud Rutenberg vor siebzehn Jahren taufen helfen und – und liebe sie ja ungefähr wie ein eignes Kind. Und drittens —«

      »Und drittens?« fragte das Mädchen, da er inne hielt. Ihr ganzes kluges Gesichtchen lachte. »Und drittens denkst du noch zu heiraten?«

      »Ne, das doch nicht. Aber wenn wir eines Tages Gertrud Rutenberg verheiraten, dann werd’ ich ja auch dabei sein; das heißt später, später, so ein zehn Jahre hat es wohl noch Zeit!«

      Gertrud sah ihn über die Schulter an, sagte aber nichts. Sie war schon wieder bei ihrem Traum, in ihr summte es wieder mit der Priesterstimme. »Und immer ging sie fort . . .«

      2

      »Guten Abend, Schilcher!« sagte jetzt Rutenberg, der Vater, der mit Lugau und Wild vom Salon hereintrat. »Da ist ja wieder die ganze Whistpartie beisammen. Ihr seht, die Spieltische


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