November. Гюстав Флобер

November - Гюстав Флобер


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Küssen. Doch wo liegt der Grund zu Klagen? Und was macht uns so düster, in den Jahren, wo alles lächelt? Hast du nicht treue Freunde? Eine Familie, deren Stolz du bist, Lackstiefel, einen wattierten Überzieher? Poetische Litaneien, Erinnerungen aus schlechter Lektüre, rhetorische Übertreibungen sind alle diese großen Schmerzen ohne Namen. Doch ist nicht vielleicht auch das Glück eine Metapher, die an einem Tage der Langeweile geprägt wurde? Lange habe ich daran gezweifelt. Heute zweifle ich nicht mehr.

      Ich habe nicht geliebt, und hätte so viel Liebe empfinden mögen! Ich werde sterben, ohne einen wirklichen Genuß gekannt zu haben. Noch jetzt bietet mir das Leben tausend Gesichte, die ich kaum erschaut habe. Niemals habe ich an sprudelnder Quelle auf abgehetztem Pferde den Klang des Hifthorns in der Tiefe der Wälder gehört. Niemals habe ich auch in linder Nacht unter duftenden Rosen eine liebende Hand in der meinigen 33 beben gefühlt oder ihren stummen Druck gespürt. Ach, ich bin leerer, hohler, trauriger als ein eingeschlagenes Faß, das man ganz ausgetrunken hat und in dessen dunklem Innern die Spinnen ihre Netze weben.

      Es war nicht Renés Kummer noch die göttliche Unermeßlichkeit seines Weltschmerzes, der schöner ist und silbriger als die Strahlen des Mondes. Ich war nicht keusch wie Werther, noch ein Wüstling wie Don Juan; mein Gefühl war dazu weder genügend rein noch genügend stark.

      Ich war also, wie ihr alle, irgendein Mensch, der lebt, schläft, ißt, trinkt, der weint und lacht, der in seiner Verschlossenheit überall, wohin er kommt, dieselben vernichteten Hoffnungen in seiner Seele mitbringt, die, kaum erblüht, schon abfallen, denselben Trümmerschutt, dieselben tausendmal zurückgelegten Pfade, dieselben unerforschten, schrecklichen, langweiligen Tiefen. Seid ihr es nicht leid gleich mir, jeden Morgen zu erwachen und die Sonne wieder zu sehen? Leid, dasselbe Leben zu führen, denselben Schmerz zu erdulden? Leid, zu wünschen und leid, enttäuscht zu werden? Leid, zu warten und leid, zu besitzen?

      Wozu dies schreiben? Wozu mit derselben klagenden Stimme dieselbe traurige Erzählung fortführen? Als ich begann, da hielt ich sie für schön, aber während ich fortfahre, fallen mir Tränen auf mein Herz und ersticken seine Stimme.

      Ach, die bleiche Wintersonne! Sie ist traurig wie eine glückliche Erinnerung. Wir sitzen im Finstern, schauen zu, wie unser Feuer brennt. Über die ausgebreiteten Kohlen laufen kreuzweise große, schwarze Linien, die zu zucken scheinen wie die lebenerfüllten Adern eines anderen Daseins; wir erwarten die Nacht.

      Laßt uns der schönen Tage gedenken, der Tage, da wir froh waren, da wir mit Freunden zusammen lebten, da die Sonne lachte und die Vögel nach dem Regen im Versteck sangen, der Tage, da wir im Garten umhergingen: der Sand der Wege glänzte feucht, die Beete lagen voll abgefallener Rosenblätter, die Luft war von Duft erfüllt. Warum haben wir unser Glück nicht tiefer empfunden, als es durch unsere Hände glitt? In jenen Tagen hätten wir nur daran denken sollen, es auszukosten und jede Minute langsam zu schlürfen, damit sie weniger eilig entschwinde. Es gibt Tage, die wie andere dahingegangen sind, und deren ich mich mit Entzücken erinnere. Einmal zum Beispiel – es war im Winter und sehr kalt, – kamen wir vom Spaziergang heim, und da wir nur wenige waren, durften wir uns um den Ofen setzen. Während wir unsere Regeln lernten, rösteten wir unsere Brotschnitten. Es brüllte in der Ofenröhre. Wir plauderten von tausend Dingen: von Stücken, die wir gesehen hatten, von Frauen, die wir liebten: von unserem Abgang von der Schule; davon, was wir machen würden, wenn wir groß wären, und von ähnlichem. Ein anderes Mal lag ich einen ganzen Nachmittag in einem Felde, wo kleine Maßliebchen aus dem Grase hervorsahen. Sie waren gelb, rot, – sie verschwanden im Grün der Wiese. Es war ein Teppich von unendlich mannigfaltigen Schattierungen. Am klarblauen Himmel waren kleine weiße Wolken, die wie rundliche Wogen dahintrieben; durch meine vor das Gesicht gelegten Hände schaute ich zur Sonne empor. Sie vergoldete den Rand meiner Finger und machte mein Fleisch rosig. Ich schloß die Augen, um unter meinen Lidern große, grüne, goldgefranste Flecke zu sehen. Und eines Abends, ich weiß nicht mehr wann, war ich neben einem Heuhaufen eingeschlafen. Als ich erwachte, war es Nacht, die Sterne funkelten, zuckten, die Heuschober warfen ihre Schatten, und der Mond zeigte sein schönes, silbernes Gesicht.

      Wie weit liegt das alles! Lebte ich wirklich zu jener Zeit? War ich das, und bin ich jetzt? Jede Minute meines Lebens ist durch einen Abgrund von der nächsten geschieden. Zwischen gestern und heute liegt für mich eine Ewigkeit, die mich erschreckt. Jeden Tag habe ich das Gefühl, am vorhergehenden nicht so elend gewesen zu sein, ohne deshalb sagen zu können, was ich mehr besaß. Ich fühle wohl, daß ich ärmer werde, und daß die kommende Stunde mir etwas nimmt, und ich bin nur verwundert, daß in meinem Herzen noch Raum für das Leid ist. Doch das menschliche Herz ist unerschöpflich an Traurigkeit: ein- oder zweimal nur zieht das Glück darin ein, aber aller Jammer der Menschheit kann sich dort vereinigen und als Gast darin hausen.

      Wenn man mich gefragt hätte, was mir fehlte, so hätte ich keine Antwort gewußt. Meine Wünsche waren gegenstandslos, meine Traurigkeit hatte keinen unmittelbaren Grund; oder vielmehr gab es so viel Veranlassungen und so viel Ursachen, daß ich keine hätte nennen können. Alle Leidenschaften zogen in mich ein und konnten nicht wieder aus dem Herzen heraus. Sie fühlten sich beengt darin. Sie setzten einander in Brand wie Hohlspiegel. Bescheiden, war ich voller Stolz. In der Einsamkeit lebend, träumte ich von Ruhm. Die Welt meidend, brannte ich darauf, mich in ihr zu zeigen und zu glänzen. Keusch, überließ ich mich bei Tag und Nacht in meinen Träumen der zügellosesten Wollust, dem wildesten Vergnügen. Das Leben, das ich in mich selbst zurücktrieb, zog mir das Herz in wildem Krampf zusammen und bedrängte mich bis zum Ersticken.

      Zuweilen war ich am Ende meiner Kraft. Grenzenlose Leidenschaft verzehrte mich, ich war voll glühender Lava, die meinem heißen Herzen entströmte. Ich liebte mit wütender Liebe namenlose Dinge, sehnte mich nach prächtigen Träumen. Alle Lüste der Phantasie lockten mich, ich wünschte mir alle Poesie, alle Harmonie, und von der Last meines Herzens und meines Stolzes zermalmt, stürzte ich gebrochen in einen Abgrund von Schmerzen Das Blut fuhr peitschend über mein Gesicht, es hämmerte in meinen Adern; meine Brust wollte springen, ich sah nichts mehr, ich fühlte nichts, ich war trunken, wahnsinnig. Ich bildete mir ein, groß zu sein, eine höchste Inkarnation darzustellen, deren Offenbarung die Welt in Staunen gesetzt hätte; und inre Wehen waren das Leben des Gottes, den ich in meinem Innern trug. Diesem herrlichen Gott habe ich jede Stunde meiner Jugend geopfert. Ich hatte aus mir einen Tempel gemacht, der etwas Göttliches enthalten sollte. Der Tempel ist leer geblieben; Nesseln sind zwischen seinen Steinen emporgesprossen; die Pfeiler stürzen ein; nun bauen Eulen ihre Nester darin. Da ich das Dasein nicht nutzte, nutzte mich das Dasein ab. Meine Träume ermüdeten mich mehr als schwere Arbeit. Eine ganz regungslose, sich selbst unverständliche Welt lebte ihr dumpfes Dasein unter meinem Leben. Ich war ein schlummerndes Chaos von tausend fruchtbaren Keimen, die nicht ans Licht zu kommen wagten, noch mit sich selbst etwas anzufangen wußten. Sie wollten Formen annehmen und warteten auf ihre Gestaltung.

      In der Mannigfaltigkeit meines Wesens glich ich einem unermeßlichen indischen Walde, wo das Leben in jedem Atom zuckt und sich unter jedem Sonnenstrahl ungeheuerlich oder wundervoll entwickelt. Giftige Düfte erfüllen den Azur, Tiger springen, Elefanten schreiten stolz wie lebende Pagoden einher. Die Götter, geheimnisvoll und mißgestaltet, sind in Höhlen und Grotten unter Massen von Gold verborgen. Und mitten hindurch fließt der breite Fluß, mit seinen Krokodilen, die ihre Rachen aufsperren und mit ihrem Schuppenpanzer zwischen dem Lotus der Gestade klappern; mit seinen Inseln voller Blumen, die von der Strömung zwischen Baumstämmen und grünen Leichen Pestkranker mitgerissen werden. Und doch liebte ich das Leben, aber das überschäumende, strahlende, glänzende Leben. Ich liebte es im rasenden Galopp der Renner, im Funkeln der Sterne, im Treiben der Wogen, die ans Ufer schlagen. Ich liebte es im Pulsieren schöner, nackter Brüste, im Zittern verliebter Blicke, im Vibrieren der Violinsaiten, im Erschauern der Eichen, in der sinkenden Sonne, die die Scheiben vergoldet und an die Balkons von Babylon gemahnt, auf deren Brüstung sich Königinnen stützen und Asien betrachten.

      Und inmitten alles dessen verharrte ich regungslos. Zwischen so viel Tun und Lassen, das ich sah und zu dem ich sogar Antrieb war, blieb ich tatenlos, ebensowenig daran teilnehmend wie eine Statue, der ein Fliegenschwarm ins Ohr summt und über deren Marmor die Tiere laufen.

      Ach, wie würde ich geliebt haben, wenn ich geliebt hätte, wenn ich alle diese auseinanderstrebenden Kräfte, die sich in mir regten, hätte


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