Herd und Schwert. Fritz Skowronnek
geworden war, hätte noch hinzufügen können, dass alle Verbesserungen von ihr ausgegangen wären. Erblindet, gelähmt, hatte sie vom Fahrstuhl aus jeden Abend, während ihr Mann hinter der Flasche saß, die Anordnungen getroffen, die bei solch einem großen Gut erforderlich sind. Wer all das wusste, wunderte sich nicht darüber, dass ihre lichtlosen Augen keine Tränen mehr für den toten Gatten aufzubringen vermochten … Was ihr durch den Sinn ging, als der Sarg, dem sie des schlechten Weges und Wetters wegen nicht das Geleit zum Kirchhof geben konnte, von starken Männern aufgehoben und hinausgetragen wurde, konnte niemand wissen …
Ihre Stelle am offenen Grab wurde vollkommen von Braczko ausgefüllt, der dem Toten die ersten drei Hände voll Erde nachwarf. Und dann kamen alle und drückten ihm in ehrlicher Teilnahme die Hand, denn alle wussten, wie viel er verloren hatte…
Beim Kaffee und Kuchen herrschte im Trauerhaus noch die wehmütige Stimmung vor. Man sprach mit gedämpfter Stimme.
Aber bald, nachdem Frau von Rosen sich in ihr Zimmer hatte hinausfahren lassen, wurden die Reden lauter. Gute Freunde, alte Bekannte, die das traurige Ergebnis von weither zusammengeführt hatte, setzten sich zueinander, um sich zu berichten, wie es ihnen solange ergangen wäre.
In einem Kreise der näheren Bekannten, der sich um Braczko geschart hatte, wurde die Vergangenheit durchgesprochen, wobei sich recht oft die Veranlassung ergab, dem Entschlafenen ein stilles Glas zu weihen. Der Pastor erzählte mit einem Schuss dankbarer Rührung, wie ihn das Schicksal mit dem jungen Gutsherrn, der zu seinem Vergnügen einige Semester in Königsberg studierte, zusammengeführt hatte. Auf der Mensur hatten sie sich kennen gelernt.
»Die Normannen,« so erzählte der alte Herr, und das Feuer fröhlicher Erinnerung sprang dabei aus seinen Augen, »hatten bei uns Balten für Rosen wegen einer gleich starken Partie anfragen lassen. Wir waren damals nicht viel Aktive, ich glaube sechs Mann. Ich hatte erst dreimal, allerdings mit Glück, gefochten. Aber Rosen hatte schon mindestens sein Dutzend Mensuren hinter sich und fast stets abgestochen. Mir war die Sache gar nicht recht, aber als unser Fechtwart fragte: ‘Schimkus, willst du antreten?’ da gab es keine Weigerung… Ich kann jetzt als alter Mann wohl eingestehen, dass mir ganz kodderig zumute war, als ich bandagiert wurde. Unser Erster, der mir sekundierte, ruckte mich zusammen. ‘Wenn du deine Tiefquart mit der Terz hinterher einmal anbringst, hast du gewonnen …’
Gleich beim zweiten Gang kratzte ich Rosen mit einer Terz. Das erste Blut auf Gegenseite gab mir die Ruhe und kühle Entschlossenheit wieder. Aber erst kurz vor dem Stellungswechsel gelang es mir, meinen Doppelhieb anzubringen … Die tiefe Quart parierte Rosen, aber die Terz kam ganz ungedeckt hinein …«
Der alte Herr machte eine kleine Pause und nahm einen Schluck. Dann fuhr er fort: »Es war eine starke Abfuhr … Kaum war Rosen genäht, als er mich auffordern ließ, den Abend bei ihm zu verleben. Da haben wir Schmollis getrunken…
Die Mensur, die uns zusammengeführt hatte, entschied auch über mein ferneres Leben. Wir hatten im Blutgericht mein zweites Examen sehr energisch begossen. Am anderen Morgen weckte mich Rosen: ‘Mensch, sorg’ bloß schnell für eine Quarr, du hast schon eine Pfarr’.’
Ganz verständnislos sehe ich ihn an.
‘Du musst dich schon etwas deutlicher ausdrücken.’ ‘Sehr einfach,’ erwidert er, ‘mein alter Pastor in Berschkallen ist gestern gestorben, du sollst sein Nachfolger werden’.«
»Na, die Quarr hattest du doch schon in Bereitschaft«, fiel Braczko lachend ein.
»Das kann – ich nicht leugnen … ich war schon im Stillen verlobt«, erwiderte der Pastor behaglich schmunzelnd. »Und ihr wisst ja alle, dass ich auch mit meiner Gattin, die mir der Tod viel zu früh entrissen hat, in den Glückstopf gegriffen habe.«
»Ob man das auch von dem Verstorbenen sagen kann?«, warf ein junger Gutsbesitzer ein.
Braczko sah ihn strafend, fast wütend an.
»Wenn Sie älter wären, würden Sie so was nicht fragen … nicht wahr, Gruber?«, wandte er sich an seinen Nebenmann, »die Christine von Berg war das schönste Mädel, das man sich denken kann. Gewachsen wie ein Licht, und das Gesicht, na wie sagt man gleich … wie Milch und Blut und dazu die dunklen Augen … Wir alle, die wir damals jung waren, flogen um sie herum Wie die Bienen um den blühenden Lindenbaum …«
»Es wird doch erzählt, dass sie vorher schon mit dem damaligen Forstassessor Mertinat so gut wie verlobt gewesen ist,« warf wieder derselbe ein.
»Das ist ein dummes Gerede,« erwiderte Braczko heftig, »dem ich bei dieser Gelegenheit den Kopf zertreten möchte. Der Forstassessor Mertinat war einer von den vielen, ich war auch darunter, die sich um Christine von Berg bewarben. Ich kann Ihnen auch sagen, dass er um einen Tag zu spät gekommen ist. Am Tage zuvor hatte sie meinem Freund Rosen das Jawort gegeben. Aus Ärger verlobte sich Mertinat wenige Tage später mit seiner nachmaligen Frau …«
»Ach, das war wohl der Grund zu der Feindschaft zwischen den beiden Frauen?«
»Eine andere Ursache ist uns hier nicht bekannt geworden,« erwiderte Braczko, »aber sie genügt nach meiner Ansicht vollkommen, wenn die richtige Frau merkt, dass sie sozusagen nur der Notnagel gewesen ist, dass der Herr Gemahl noch immer um die andere herumschleicht wie der Marder um den Taubenschlag. Aber Rosen war auf dem Posten, und vor allem: Frau Christine war unnahbar. Wenn wir sie heute anstatt ihren Mann begraben hätten, dann könnte ich auch nichts anderes von ihr sagen.«
»Ich möchte noch was hinzufügen,« fiel Gruber ein. »Ich weiß von meiner Frau, wie schwer Christine von Rosen daran getragen hat, dass sie kinderlos blieb.«
»Na, meinst du, Rosen hat das nicht auch empfunden? Weshalb hat er denn so tief in die Flasche gesehen, bis ihn die Wurschtigkeit und der Stumpfsinn überkamen?«
»Und weshalb hast du es getan?«
Braczko setzte eine entrüstete Miene auf.
»Sollte ich ihn dabei allein lassen? Das tut nicht gut, wenn einer allein hinter der Flasche sitzt. Na und dann ist es uns beiden zur Gewohnheit geworden. Ich weiß bloß nicht, was ich morgen Abend anfangen soll.«
»Na für morgen lade ich dich ein,« erwiderte Gruben.
»Und ich lade dich für übermorgen ein,« fügte der Pastor hinzu.
Gerührt streckte3 Braczko seine Hände nach beiden Seiten aus.
»Ich danke euch … und nun noch was Wichtiges. Ich kann heute Abend bei der Tafel nicht sprechen. Mir würde dabei das Tränentöppchen umkippen. Das musst du Pastor besorgen.«
Es war lange nach Mitternacht, als Braczko als Letzter das Trauerhaus verließ.
Was er nie in seinem Leben getan, tat er heute. Er reichte Jons die Hand, schüttelte sie kräftig, als wolle er ihm sein Beileid ausdrücken, und sagte halb gerührt, halb grimmig: »Einmal müssen wir doch alle daran glauben. Gute Nacht Jons…«
2. Kapitel
Es war nicht vielen bekannt, wie wenig Herr von Rosen und wie viel seine Frau mit der Leitung der Wirtschaft und des Gutes zu tun gehabt hatte. Deshalb wurde sehr eifrig die Frage erörtert, was die arme erblindete und verkrüppelte Witwe nun anfangen würde.
Auch die Frage war aufgetaucht, wer schließlich mal das schöne große Gut erben sollte. Der Verstorbene war der letzte seines Stammes gewesen und besaß gar keine Verwandte, aber auch gar keine, nicht einmal von seiner Mutter Seite her.
Frau von Rosen sollte allerdings weitläufige4 Verwandte im Reich haben, eine Kusine, die an einen kleinen Beamten verheiratet war. Es schienen aber gar keine Beziehungen zwischen ihr und der Verwandtschaft zu bestehen, denn es war nie einer von ihnen nach Berschkallen zum Besuch gekommen, und auch von einem Briefwechsel wusste man nichts.
Wenn Frau von Rosen mit Hilfe des Notars ein Testament errichtet hätte,
3
Original: „steckte“.
4
Original: „weitläuftige“.