Herd und Schwert. Fritz Skowronnek
auch kein Hehl daraus gemacht, dass und zu welchem Zweck er in Berschkallen gewesen wäre.
Solch ein Rätsel bietet bei einem Begräbnis einen sehr ergiebigen Gesprächsstoff, weil er den weitesten und gewagtesten Vermutungen Spielraum lässt. Aber obwohl sich ein Dutzend flinker Jungen mit der Lösung des Rätsels beschäftigten, blieb es doch völlig dunkel, was dereinst aus Berschkallen werden sollte.
Wie interessant wäre es da den Teilnehmern des Begräbnisses gewesen zu erfahren, dass zu derselben Zeit, als sie sich den Kopf zerbrachen, Frau Christine in ihrem Zimmer einen langen Brief schrieb. Das war ein mühseliges Geschäft für eine alte Frau, die von dem Briefbogen nur gerade noch einen schwachen Schimmer vor sich erblickte.
Trotzdem flog ihre Hand mit dem Bleistift rastlos über den Bogen, während die Linke zuerst den oberen und dann auch den unteren Rand abtastete und auch beim Beginn der Zeile den Bleistift hinderte, zu früh zu beginnen. So füllte sie Seite auf Seite mit großen, steifen Buchstaben, wie sie nur selten von einer Frauenhand gestaltet werden. Aber die Hand, die da schrieb, war schon seit langen Jahren gewohnt, schwere Zügel zu führen, und die steifen Buchstaben waren der sichtbare Ausdruck eines starken, festen Willens.
Schließlich hob Frau von Rosen zu Lottchen, ihrer Vorleserin, die über ein Buch gebeugt ihr gegenüber saß, den Kopf:
»Geben Sie mir einen Umschlag. So, danke, und nun setzen Sie sich an meinen Tisch und schreiben Sie die Adresse: ‘Herrn Assessor Kurt v. Berg, Rheinsberg i. d. Mark’. Haben Sie, ja? Der Brief wird eingeschrieben geschickt. Und nun rufen Sie mir Dore, dass sie mich zu Bett bringt. Ich brauche Sie heute nicht mehr. Gute Nacht.«
»Ach, gnädige Frau, ich bleibe noch gern bei Ihnen und lese Ihnen noch etwas vor. Sie werden noch nicht einschlafen können.«
Auf das Gesicht der alten Dame trat ein milder, freundlicher Ausdruck:
»Sie gute Seele! Nein, gehen Sie nur ruhig schlafen, ich habe heute noch manche Stunde mit meinen Gedanken zu tun.«
Assessor von Berg hatte sich gerade von seinem Nachmittagsschläfchen erhoben und rüstete sich zu dem Dämmerschoppen, den er im Ratskeller einzunehmen pflegte. Selbst wenn man der größte Naturschwärmer ist, oder sich aus Sparsamkeitsrücksichten die regelmäßige Teilnahme an den Kneipereien der Honoratioren versagen will oder muss, kann man sich in solch einem kleinen Nest nicht ganz von der Geselligkeit abschließen, um nicht als hochmütiger oder menschenscheuer Sonderling zu gelten. Selbst den Anschein erzwungener Sparsamkeit muss man zu vermeiden suchen.
Da ist der Dämmerschoppen eine segensreiche Einrichtung. Man kann sparsam trinken und hat immer Veranlassung, zum Abendbrot die Sitzung abzubrechen. Und das ist sehr angenehm für einen Assessor, der von den Diäten eines mageren Kommissoriums leben, Wohnung, Essen und Kleidung bestreiten soll. Das ist wirklich eine schwere Aufgabe für einen jungen lebenslustigen Mann, wie es Kurt von Berg war, der von Hause aus mit so wenigen Glücksgütern gesegnet war, dass er schon als Student und später als Referendar Musik- und Unterrichtsstunden erteilen musste, um sich durchzuschlagen.
Ab und zu erfreute ihn das Schicksal durch ein paar hundert Mark, die ihm im Auftrage eines unbekannten Wohltäters von einer Bank zugeschickt wurden. Die Bank vermittelte auch seine Dankesbriefe, in denen er seinem unbekannten Wohltäter von seinem Leben und Streben einen wahrheitstreuen Bericht abzustatten pflegte. Aber den Namen konnte er nicht in Erfahrung bringen.
Der Assessor hatte seinen stattlichen Schnurrbart in die Binde gelegt und beschäftigte sich eben mit den Nägeln seiner wohlgepflegten Hände, nicht aus Eitelkeit, sondern, weil sie ihm zur Handhabung seiner mit Meisterschaft gespielten Geige wertvoll waren, als der Briefträger ihm einen eingeschriebenen Brief und einen Geldbetrag, der die bisherigen Sendungen um das Doppelte übertraf, brachte.
Mit begreiflicher Neugier griff er nach dem Brief, dessen Poststempel beim besten Willen nicht zu entziffern war. Die dünne kleine Handschrift der Adresse, die ohne Zweifel von Frauenhand herrührte, war ihm ganz fremd. Was konnte ein unbekanntes weibliches Wesen ihm so Wichtiges mitzuteilen haben, dass ihm der Brief eingeschrieben zugestellt werden musste.
In Gedanken nahm er den Abschnitt der Postanweisung zur Hand, den der Briefträger neben das Geld auf den Tisch gelegt hatte und warf einen Blick darauf. Da stand diesmal nicht der Stempel der Bank, sondern in kräftiger Handschrift: Absender Frau von Rosen geb. von Berg, Berschkallen.
Er hatte als seine Wohltäter bis jetzt zwei junge baltische Edelleute, von Roth, im Verdacht gehabt, mit denen ihn die Musik zusammengeführt hatte. Er hatte sich einmal auf ein Inserat, in dem ein guter Violinspieler für ein Liebhaberquartett gesucht wurde, gemeldet und hatte dadurch die beiden Brüder, die ebenso eifrig und künstlerisch die Musik pflegten, wie er, kennen gelernt.
Vor Jahren schon waren die Brüder in ihre Heimat, in die baltischen Provinzen Russlands zurückgekehrt, wo sie die durch den Tod ihres Vaters, geerbten Güter übernehmen mussten. Und in dieser Annahme hatte er in seinen Briefen einen frischen Ton mit einer Vertraulichkeit angeschlagen, wie man sie einem gleichgesinnten und befreundeten jungen Mann gegenüber anwenden kann.
Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Wohltäter war die alte, sozusagen verschollene Tante gewesen, die weit hinten in Ostpreußen an einen Gutsbesitzer verheiratet war. Was mochte das für ein Anlass sein, der ihm die erkleckliche Geldsumme ins Haus trug?
Jetzt riss er den dicken Brief auf, aus dem ihm eine Anzahl mit einer großen unregelmäßigen Handschrift beschriebener Bogen in die Hand fiel. Zuerst sah er nach der Unterschrift. Richtig!
»Deine alte Tante Christine.«
Und dann las er und las.
Er vergaß, die Schnurrbartbinde abzunehmen, er vergaß Dämmerschoppen und Ratskeller und die fröhlichen Genossen, die gewiss schon mehrmals nach der Uhr gesehen und vorwurfsvoll gefragt hatten: »Wo bloß heute der Assessor steckt?«
Dann setzte er sich in da alte ehrwürdige Sofa, dessen steife Lehnen so wenig für die Bequemlichkeit des Zimmerbewohners gemacht waren. Aber man konnte wenigstens den Ellbogen aufstützen und den Kopf in die Hand legen. Das pflegt mancher zu tun, dem sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Gewissheit aufdrängt, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens und seines Schicksals angelangt ist, wenn er nur den Mut hat zuzugreifen und von dem Lebensweg abzubiegen, den man sich unter Not und Sorgen erkämpft hat und den man bis zu Ende zu gehen entschlossen war.
Allerdings nicht aus besonderer Vorliebe für den erwählten Beruf, sondern Kurt von Berg war Jurist geworden, weil er für die anderen drei Fakultäten noch weniger Vorliebe hatte und weil ihm die juristische Laufbahn die Möglichkeit bot, irgendwo und irgendwann eine erträgliche Stellung zu erwischen. Dabei hatte er natürlich nie an die Möglichkeit denken können, die sich jetzt ihm darbot, Gutsbesitzer in Ostpreußen zu werden.
Wie groß mochte das Gut sein? Weshalb schrieb die alte Dame, die plötzlich den Einfall hatte, ihn zu ihrem Erben einzusehen, nichts darüber? Vielleicht war der Tausch, wenn sie die Verhältnisse ihm von vorn herein klarlegte, gar nicht der Mühe wert? Was wusste sie denn von ihm, wie war sie auf den Gedanken gekommen? Was er von ihr bis dahin gewusst hatte, war herzlich wenig. Seine Eltern hatten nie von dieser Tante gesprochen. Nur einmal hatte er in einem alten Album das Bild einer jungen Dame gefunden, in der verschrobenen Tracht der siebziger Jahre. Trotzdem sagte ihm der erste Blick, dass das Bild ein sehr schönes junges Mädchen mit einer prachtvollen Figur darstellte.
Seine Mutter hatte ihm auf seine Frage nach der Person dieses Bildes mit deutlicher Ablehnung im Ton die Antwort gegeben, dass es eine entfernte Verwandte wäre, die in ihrer Jugend gegen den Willen der Eltern aus dem Elternhause gegangen und sich in Ostpreußen als Wirtin auf einem Gut mit ihrem Gutsherrn verheiratet hätte.
Kurt hatte damals trotz seiner Jugend die starke Missbilligung und Abweisung, die in den Worten seiner Mutter lag, herausgefühlt. Den Anlass dieser Missbilligung konnte sowohl ihr Verlassen des Elternhauses, wie ihre Heirat gegeben haben.
Nun schrieb ihm diese Tante, dass sie blind und gelähmt im Rollstuhl sitze und dass er kommen möge, um ihr die Last abzunehmen. Er nahm den Brief wieder zur Hand und las ihn zum zweiten Mal langsam durch. Manches hatte er in der Hast beim ersten Lesen über· flogen, ohne dass es ihm recht