Der Spieler. Федор Достоевский
den Spieltischen stand, aber selbst nicht ein einziges Mal setzte. Was mich betrifft, so verlor ich alles, alles, und zwar sehr schnell. Ich setzte ohne weiteres mit einemmal zwanzig Friedrichsdor auf Paar und gewann; ich setzte wieder und gewann wieder, und so noch zwei- oder dreimal. Ich glaube, es hatten sich in etwa fünf Minuten gegen vierhundert Friedrichsdor in meinen Händen angesammelt. Nun hätte ich weggehen sollen; aber es war in mir eine seltsame Empfindung rege geworden, der Wunsch, gewissermaßen das Schicksal herauszufordern, ein Verlangen, ihm sozusagen einen Nasenstüber zu geben und die Zunge herauszustrecken. Ich setzte den höchsten erlaubten Satz von viertausend Gulden und verlor. Hitzig geworden, zog ich alles heraus, was mir geblieben war, setzte es auf dieselbe Stelle und verlor wieder, worauf ich wie betäubt vom Tisch zurücktrat. Ich konnte gar nicht fassen, was mir widerfahren war, und machte Polina Alexandrowna von meinem Verlust erst kurz vor dem Mittagessen Mitteilung. Bis dahin war ich im Park umhergeirrt. Bei Tisch befand ich mich wieder in erregter Stimmung, ebenso wie zwei Tage vorher. Der Franzose und Mademoiselle Blanche speisten wieder mit uns. Es kam zur Sprache, daß Mademoiselle Blanche am Vormittag in den Spielsälen gewesen war und mein kühnes Spiel mitangesehen hatte. Sie erwies mir diesmal im Gespräch etwas mehr Aufmerksamkeit. Der Franzose schlug ein kürzeres Verfahren ein und fragte mich geradezu, ob das mein eigenes Geld gewesen sei, das ich verloren hätte. Mir scheint, er hat Polina im Verdacht. Kurz, da steckt etwas dahinter. Ich log ohne Zaudern und sagte, es sei das meinige gewesen. Der General wunderte sich sehr, woher ich so viel Geld gehabt hätte. Ich sagte zur Erklärung, ich hätte mit zehn Friedrichsdor angefangen; sechs oder sieben glückliche Treffer nacheinander, bei jedesmaliger Verdoppelung des Einsatzes, hätten mich bis auf fünf- oder sechstausend Gulden gebracht, und dann hätte ich alles auf zwei Einsätze wieder eingebüßt. All dies klang ja wahrscheinlich. Während ich diese Erklärung vortrug, warf ich einen Blick nach Polina, konnte aber aus ihrem Gesicht keinen besonderen Ausdruck erkennen. Aber sie ließ mich doch lügen, ohne mich zu korrigieren; daraus schloß ich, daß ich in ihrem Sinne gehandelt hatte, wenn ich log und es verheimlichte, daß ich für sie gespielt hatte. In jedem Fall, dachte ich bei mir, ist sie verpflichtet, mir Aufklärung zu geben; sie hat mir ja vor kurzem versprochen, mir einiges zu enthüllen.
Ich dachte, der General würde mir irgendeine Bemerkung machen; indes er sehwieg. Wohl aber bemerkte ich auf seinem Gesicht eine gewisse Erregung und Unruhe. Vielleicht war es ihm in seinen bedrängten Verhältnissen lediglich eine schmerzliche Empfindung, zu hören, daß ein so erklecklicher Haufe Gold innerhalb einer Viertelstunde einem so unpraktischen Dummkopf wie mir zugefallen und dann wieder entglitten war.
Ich vermute, daß er gestern abend mit dem Franzosen ein scharfes Renkontre gehabt hat. Sie sprachen hinter verschlossenen Türen lange und hitzig miteinander über irgend etwas. Der Franzose ging anscheinend in gereizter Stimmung weg, kam aber heute frühmorgens wieder zum General, wahrscheinlich um das gestrige Gespräch fortzusetzen.
Als der Franzose von meinem Spielverlust hörte, bemerkte er, zu mir gewendet, in scharfem und geradezu boshaftem Ton, ich hätte verständiger sein sollen. Ich weiß nicht, weshalb er noch hinzufügte, es spielten zwar viele Russen, nach seiner Meinung verständen die Russen aber gar nicht zu spielen.
»Aber nach meiner Meinung«, sagte ich, »ist das Roulett geradezu für die Russen erfunden.«
Und als der Franzose über meine Antwort geringschätzig lächelte, bemerkte ich ihm, die Wahrheit sei entschieden auf meiner Seite; denn wenn ich von der Neigung der Russen zum Spiel spräche, so sei das weit mehr ein Tadel als ein Lob, und deshalb könne man es mir glauben.
»Worauf gründen Sie denn Ihre Meinung?« fragte der Franzose.
»Meine Begründung ist folgende. In den Katechismus der Tugenden und Vorzüge, der im zivilisierten westlichen Europa gilt, hat infolge der historischen Entwicklung auch die Fähigkeit, Kapitalien zu erwerben, Aufnahme gefunden, ja sie bildet darin beinahe das wichtigste Hauptstück. Aber der Russe ist nicht nur unfähig, Kapitalien zu erwerben, sondern er vergeudet sie auch, wenn er sie besitzt, in ganz sinnloser und unverständiger Weise. Dennoch«, fuhr ich fort, »brauchen auch wir Russen Geld, und infolgedessen greifen wir mit freudiger Gier nach solchen Mitteln wie das Roulett, wo man in der Zeit von zwei Stunden, ohne sich anzustrengen, reich werden kann. Das hat für uns einen großen Reiz; und da wir nun unbedachtsam und ohne rechte Bemühung spielen, so ruinieren wir uns durch das Spiel völlig.«
»Daran ist etwas Wahres«, bemerkte der Franzose selbstzufrieden.
»Nein, das ist nicht wahr, und Sie sollten sich schämen, so über Ihr Vaterland zu reden«, sagte der General in strengem, nachdrücklichem Ton.
»Aber ich bitte Sie«, antwortete ich ihm, »es ist ja noch nicht ausgemacht, was garstiger ist: das russische wüste Wesen oder die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzu- bringen.«
»Was für ein sinnloser Gedanke!« rief der General.
»Ein echt russischer Gedanke!« rief der Franzose.
Ich lachte; ich hatte die größte Lust, sie beide ein bißchen zu reizen.
»Ich meinerseits«, sagte ich, »möchte lieber mein ganzes Leben lang mit den Kirgisen als Nomade umherziehen und mein Zelt mit mir führen, als das deutsche Idol anbeten.«
»Was für ein Idol?« fragte der General, der schon anfing, ernstlich böse zu werden.
»Die deutsche Art, Reichtümer zusammenzuscharren. Ich bin noch nicht lange hier; aber was ich bemerkt und beobachtet habe, erregt mein tatarisches Blut. Bei Gott, solche Tugenden wünsche ich mir nicht! Ich bin hier gestern zehn Werst weil umhergegangen: es ist ganz ebenso wie in den moralischen deutschen Bilderbüchern. Überall, in jedem Hause, gibt es hier einen Hausvater, der furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm näherzutreten. Ich kann solche redlichen Leute nicht ausstehen, denen näherzutreten man sich fürchten muß. Jeder derartige Hausvater hat eine Familie, und abends lesen alle einander laut belehrende Bücher vor. Über dem Häuschen rauschen Ulmen und Kastanien. Sonnenuntergang, auf dem Dach ein Storch, alles höchst rührend und poetisch… Werden Sie nur nicht böse, General; lassen Sie mich nur von solchen rührsamen Dingen reden! Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie mein seliger Vater ebenfalls unter den Lindenbäumen im Vorgärtchen abends mir und meiner Mutter solche Büchelchen vorlas; ich habe daher über dergleichen selbst ein richtiges Urteil. Nun also, so lebt hier jede solche Familie beim Hausvater in vollständiger Knechtschaft und Untertänigkeit. Alle arbeiten wie die Ochsen, und alle scharren Geld zusammen wie die Juden. Gesetzt, ein Vater hat schon eine bestimmte Menge Gulden zusammengebracht und beabsichtigt, dem ältesten Sohn sein Geschäft oder sein Stückchen Land zu übergeben; dann erhält aus diesem Grunde die Tochter keine Mitgift und muß eine alte Jungfer werden, und den jüngeren Sohn verkaufen sie als Knecht oder als Soldaten und schlagen den Erlös zum Familienkapital. Wirklich, so geht das hier zu; ich habe mich erkundigt. All das geschieht nur aus Redlichkeit, aus übertriebener Redlichkeit, dergestalt, daß auch der jüngere, verkaufte Sohn glaubt, man habe ihn nur aus Redlichkeit verkauft; und das ist doch ein idealer Zustand, wenn das Opfer selbst sich darüber freut, daß es zum Schlachten geführt wird. Und nun weiter. Auch der ältere Sohn hat es nicht leicht: da hat er so eine Amalia, mit der er herzenseins ist; aber heiraten kann er sie nicht, weil noch nicht genug Gulden zusammengescharrt sind. Nun warten sie gleichfalls treu und sittsam und gehen mit einem Lächeln zur Schlachtbank. Amalias Wangen fallen schon ein, und sie trocknet zusammen. Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, hat das Vermögen die gewünschte Höhe erreicht; die richtige Anzahl von Gulden ist auf redliche, tugendhafte Weise erworben. Der Vater segnet seinen vierzigjährigen ältesten Sohn und die fünfunddreißigjährige Amalia mit der eingetrockneten Brust und der roten Nase. Dabei weint er, hält eine moralische Ansprache und stirbt. Der Älteste verwandelt sich nun selbst in einen tugendhaften Vater, und es beginnt wieder dieselbe Geschichte von vorn. Nach etwa fünfzig oder siebzig Jahren besitzt der Enkel des ersten Vaters wirklich schon ein ansehnliches Kapital und übergibt es seinem Sohn, dieser dem seinigen, der wieder dem seinigen, und nach fünf oder sechs Generationen ist das Resultat so ein Baron Rothschild oder Hoppe & Co. oder etwas Ähnliches. Nun, ist das nicht ein erhebendes Schauspiel: hundert- oder zweihundertjährige sich vererbende Arbeit, Geduld, Klugheit, Redlichkeit, Charakterfestigkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, der Storch auf