Die verlorene Handschrift. Gustav Freytag

Die verlorene Handschrift - Gustav Freytag


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Clara, fast erwachsen und ein verjüngtes Abbild der Schwester, erhob sich mit einem Knix, Hans, ein derber Bursch von zwölf Jahren, machte den unbedeutenden Versuch eines Bücklings, die andern blieben stramm stehen, sahen unverwandt auf die Fremden und tauchten, nachdem sie einer lästigen Pflicht genügt hatten, wieder auf ihre Plätze nieder. Nur der kleine Franz, ein rothbäckiger Krauskopf von sieben Jahren, blieb in der Pein seiner Aufgabe grimmig sitzen und benutzte die Unterbrechung, um für die nächsten Antworten noch schnell etwas aus seinem Buche einzusammeln. Ilse strich ihm über das Haar und frug den Lehrer: »Wie geht’s heut mit ihm?« – »Er hat gelernt.« – »Es ist zu schwer,« rief Franz erbittert. Der Professor bat den Lehrer, sich nicht stören zu lassen, und die Reise ging weiter: Schlafzimmer der Knaben, Zimmer des Lehrers und wieder Wirthschaftsräume, Plättstube, Kleiderkammer – der Doctor hatte seine Brieftafel bereits eingesteckt.

      Sie kehrten in den Hausflur zurück, an der Treppe wies Ilse auf die Steinplatte, der Doctor kniete nieder, versuchte und sagte kleinlaut: »Wieder hohl.« Ilse betrat die Treppe.

      »Hier oben wohne ich und die Mädchen.«

      »Unsere Neugierde hat vorläufig hier ein Ende,« erwiederte rücksichtsvoll der Professor. »Sie sehen, auch mein Freund verzichtet.«

      »Man hat aber von oben eine Aussicht,« sagte die Führerin, »diese wenigstens müssen Sie betrachten.« Sie öffnete eine Thür.

      »Dies ist mein Zimmer.« Die Freunde blieben vor der Schwelle stehen. »Kommen Sie herein,« sagte Ilse unbefangen. »Von diesem Fenster sieht man die Straße, auf der Sie zu uns kamen.« Zögernd traten die Zartfühlenden näher. Es war wieder ein bescheidener Raum, nicht einmal ein Sopha darin, die Wände mit blauer Farbe gestrichen, am Fenster ein Nähtisch und einige Blumenstöcke, in einer Ecke das Bett mit weißer Gardine verhüllt.

      Die Freunde traten an das Fenster und schauten von der Höhe auf den kleinen Friedhof und die Gipfel der Eichen, auf das Städtchen im Thale und auf die Baumreihe dahinter, welche in gekrümmter Linie bis zu der Höhe lief, wo sich die Aussicht in die Ferne schloß. Der Blick des Professors haftete an der alten Holzkirche. Wie hatten sich in wenig Stunden die Stimmungen geändert! Auf die frohe Erwartung war gefolgt, was beinahe wie Entsagung aussah, und doch wieder auf die Ungeduld eine wohlthuende Ruhe.

      »Das ist unser Weg in die Fremde,« wies Ilse, »wir sehen oft nach der Richtung aus, wenn der Vater verreist ist und wir ihn erwarten, oder wenn wir von dem Postboten etwas Gutes hoffen. Und so oft Bruder Franz erzählt, daß er einst in die Welt gehen werde, fort von dem Vater und von uns Geschwistern, dann denkt er sich die Straßen in der Welt immer wie diese aussieht, als einen Fußsteig mit dicken Weidenköpfen.«

      »Franz ist der Liebling?« frug der Professor.

      »Er ist mein Nesthäkchen, wir verloren die gute Mutter, als er noch die Kindermütze trug. Das arme Kind kennt die Mutter gar nicht, und als er einmal von ihr geträumt hatte, da brachten die andern Kinder heraus, daß er sie im Schlafe mit mir verwechselte, denn sie trug mein Kleid und meinen Strohhut. – Dies ist der Wandschrank,« sagte sie traurig, auf eine Holzthür in der Wand deutend. Die Freunde folgten schweigend, ohne bei dem Schranke anzuhalten. Vor der gegenüberliegenden Stube blieb sie stehen, die Thür öffnend: »Dies war das Zimmer der Mutter, es ist unverändert, wie sie es verließ, nur der Vater bleibt des Sonntags einige Zeit darin.«

      »Wir geben nicht zu, daß Sie uns weiter führen,« sagte der Professor. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich ich unsere Lage Ihnen gegenüber empfinde. Verzeihen Sie uns das unzarte Eintreten in Ihre Häuslichkeit.«

      »Wenn Sie das Haus nicht weiter sehen wollen,« erwiederte Ilse mit dankendem Blick, »so geleite ich Sie gern in unsern Garten und durch den Hof. Der Vater wird nicht loben, wenn ich Ihnen etwas vorenthalte.«

      Eine Hinterthür des Flurs führte in den Garten; die Beete durch Buchsbaum eingefaßt, waren mit Sommerblumen besetzt, mit den altheimischen Bewohnern unsrer Gärten. Am Hause liefen Weinreben bis unter die Fenster des Oberstocks und die grünen Trauben blickten überall aus dem hellen Laub. Eine lebendige Hecke schied die Blumenbeete vom Gemüsegarten, wo auch der Hopfen an großen Stangen hinaufkletterte. Weiter ab senkte sich ein großer Obstgarten mit frischem Rasengrund einem Seitenthal zu. Es war auch hier nichts Merkwürdiges zu sehen, geradlinig waren die Blumenbeete, in Reihen standen die Obstbäume, der ehrwürdige Buchsbaum und die Hecke waren nach der Schnur geschnitten und ohne Lücken. Die Freunde schauten von Beet und Blumen immer wieder auf das Haus zurück und freuten sich über die braunen Mauern hinter dem saftigen Weinlaub und über die Arbeit des Steinmetzen an den Fenstern und am Giebel.

      »Es war zur Zeit unserer Vorfahren ein Haus der Fürsten,« erklärte Ilse, »und sie kamen damals alle Jahre zur Jagd hierher. Jetzt aber ist nur der dunkle Wald dort hinten noch herrschaftlich, dort steht auch noch ein Jagdhaus, und der Oberförster wohnt darin. Und selten kommt unser Fürst in die Gegend. Es ist lange Zeit her, daß wir unsern lieben Landesherrn nicht gesehen haben, und wir leben wie arme Waisen.«

      »Gilt er hier im Lande für einen gütigen Herrn?« frug der Professor.

      »Wir wissen nicht viel von ihm, aber wir denken uns, daß er gut ist. Vor vielen Jahren, als ich noch Kind war, hat er einmal in unserm Haus gefrühstückt, weil es in Rossau keine Gelegenheit gab. Damals war ich erstaunt, daß er keinen rothen Mantel trug, und er strich mir über den Kopf und gab mir den guten Rath, zu wachsen. Das habe ich seitdem redlich abgemacht. Und es heißt schon, er wird in diesem Jahre wieder zur Jagd kommen. Kehrt er wieder bei uns ein, dann muß das alte Haus seinen besten Staat anthun, und in der Küche gibt’s heiße Wangen.«

      Während sie friedlich unter den Obstbäumen dahinschritten, tönte vom Hofe her eine helle Glocke. »Das ist der Ruf zum Essen,« sagte Ilse, »ich führe die Herren zu ihrem Zimmer, das Hausmädchen wird sie abholen.«

      Die Freunde fanden in der Gaststube ihre Ledertaschen und wurden kurz darauf durch ein leises Klopfen an der Thür geladen und in das Speisezimmer geführt. Dort wartete ihrer der Gutsherr, ein halbes Dutzend sonnengebräunte Beamte der Wirthschaft, die Mamsell, der Hauslehrer und die Kinder. Als sie eintraten, sprach der Landwirth mit der Tochter in einer Fensternische; wahrscheinlich hatte die Tochter günstig über die Fremden berichtet, denn er kam ihnen mit unumwölkter Miene entgegen und sagte in seiner kurzen Weise: »Nehmen Sie an unserm Tische vorlieb.« Dann stellte er die Fremden den Anwesenden vor, indem er ihre Namen nannte und hinzufügte: »Zwei gelehrte Herren von der Universität.« Jedermann stand hinter seinem Stuhl nach Würde und Alter gereiht, obenan der Wirth, neben ihm Ilse, auf der andern Seite der Professor und der Doctor, dann zu beiden Seiten die Herren von der Wirthschaft, dahinter die Mamsell und die Mädchen, der Lehrer und die Knaben. Der kleine Franz am untern Ende des Tisches trat an seinen Teller, faltete über dem Brot die Hände und sprach eintönig ein kurzes Tischgebet. Darauf rückten zu gleicher Zeit alle Stühle, zwei Mädchen in der Tracht der Landschaft trugen die Speisen. Es war ein einfaches Mittagsmahl, nur zwischen den Fremden stand eine Flasche Wein, die Eingebornen gossen goldbraunes Bier in die Gläser.

      Schweigend und eifrig verrichtete Jeder sein Werk, am oberen Ende des Tisches wurde Unterhaltung geführt. Die Freunde sprachen dem Landwirth ihre Freude über Haus und Umgebung aus, und der Hausherr lachte spöttisch, als der Doctor die dicken Wände des Hauses rühmend hervorhob. Dann schweifte das Gespräch auf die Umgegend hinaus, auf den Dialekt und die Art des Landvolks.

      »Wieder ist mir in diesen Tagen aufgefallen,« sagte der Professor, »wie fremd und mißtrauisch die Landleute hier uns Städter beobachten. Unsere Sprache, Sitte, Gewohnheit betrachten sie wie die eines anderen Volkes. Und wenn ich zusehe, was der Feldarbeiter mit den sogenannten Gebildeten gemein hat, so empfinde ich schmerzlich, daß es viel zu wenig ist.«

      »Wer ist daran schuld,« entgegnete der Landwirth, »als die Gebildeten selbst. Nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich Ihnen als einfacher Mann sage, daß mir diese Bildung ebensowenig gefällt als die Unwissenheit und Störrigkeit, welche Sie an unsern Landleuten in Erstaunen setzt. Sie selbst z.B. machen eine weite Reise, um alte vergessene Schriften zu finden, die einst ein gebildeter Mann in einem untergegangenen Volke geschrieben hat. Ich aber frage, was haben Millionen Menschen, die mit Ihnen eine Sprache sprechen, Ihres Stammes sind und neben Ihnen leben, von all der Gelehrsamkeit,


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