Die Schlucht. Иван Гончаров

Die Schlucht - Иван Гончаров


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ist die reine Wilde – ein ganz sonderbares Mädchen! Gott weiß, nach wem sie geraten ist!« bemerkte Tatjana Markowna ernst und seufzte verlegen. »Aber langweile den Bruder jetzt nicht mit diesen Geschichten,« wandte sie sich an Marsinka. »Er ist müde von der Reise, und du kommst ihm mit all dem Zeug! Laß uns lieber von ernsten Dingen reden, vom Gute und der Wirtschaft!«

      Während der ganzen Zeit, die Boris im Geplauder mit Marsinka verbrachte, hatte die Großtante ihn nachdenklich betrachtet. Wiederum fiel ihr, wie einstmals, seine Ähnlichkeit mit der Mutter auf, doch bemerkte sie auch die Veränderungen in seinem Wesen: das Schwinden der Jugend, die Zeichen der Reife, die frühen Runzeln und den seltsamen, ihr unverständlichen Ausdruck seiner Augen. Früher konnte sie in seinem Gesicht wie in einem offenen Buche lesen – jetzt stand so mancherlei darin geschrieben, was sie nicht zu enträtseln vermochte.

      In seiner Seele aber war es hell und warm. Eine stille Nachdenklichkeit lag in seinem Wesen, als Reflex dieses Wiedersehens und all der Bilder, die an seinem Geiste vorüberzogen.

      »Wenn es doch immer so bliebe – so hell, so schlicht und schön!« ging’s ihm durch den Sinn. »Ich will mir eine Binde um die Augen legen, wenigstens für diese Hundstagszeit, und will nichts weiter sein als – glücklich! Ich will das Leben nur fühlen, nicht den Blick hineinversenken, oder es doch nur so weit tun, als nötig ist, um es flüchtig zu skizzieren. Ich will es verschonen mit dieser zersetzenden Analyse, diesem Scheidewasser des Gedankens. Das verdirbt einem alles! . . . Wollen sehen, was für Sujets uns der Himmel in den Weg führt: Marsinka, die Großtante, Wjerotschka – wofür werden sie taugen? Für einen Roman, ein Drama – oder nur für eine Idylle?«

      Zweites Kapitel

      Er öffnete den Mund zu einem Gähnen, und als er aus seinem Sinnen erwachte, stand die Großtante vor ihm, mit der Rechenmaschine, dem Heft, in dem sie die Einnahmen und Ausgaben notierte, und einem höchst geschäftsmäßigen Ausdruck im Gesichte.

      »Bist du etwa noch zu müde von der Reise? Du gähnst – vielleicht willst du dich schlafen legen?« fragte sie. »Dann lassen wir die Sache bis morgen.«

      »Nein, Tantchen, ich habe ausgeschlafen, es war nur ein nervöses Gähnen. Bemühen Sie sich nicht weiter: ich werde die Abrechnung doch nicht durchsehen . . .«

      »Weshalb denn nicht? Warum bist du denn hergekommen? Doch nur, um Abrechnung zu halten und das Gut zu übernehmen? . . .«

      »Welches Gut?« sagte Raiski geringschätzig.

      »Welches Gut!« versetzte die Großtante gekränkt. »Sieh dir’s doch erst an, all das schöne Land! Vor vier Jahren ist ein ganzes Stück zugekauft worden, hundertvierundzwanzig Deßjatinen. Davon werden als Weideland benutzt . . .«

      »Zugekauft haben Sie?« fragte Raiski mechanisch.

      »Nicht ich habe zugekauft, sondern du hast es getan! Hast du mir nicht damals die Vollmacht zu dem Landkauf geschickt?«

      »Nein, Tantchen, ich war’s nicht. Ich erinnere mich, daß Sie mir einmal irgendwelche Schriftstücke übersandten, die gab ich meinem Freunde Iwan Iwanowitsch, und der mag vielleicht . . .«

      »Du hast aber doch unterschrieben: da, sieh, hier ist die Abschrift!« sagte sie und zeigte ihm irgendein Aktenstück.

      »Kann sein, daß ich’s unterschrieben habe,« sagte er, ohne hinzusehen – »nur erinnere ich mich nicht mehr und weiß nichts davon.«

      »Du erinnerst dich nicht mehr? Du hast doch meine Aufstellungen und Abrechnungen gelesen, die ich dir schickte?«

      »Nein, Tantchen, die habe ich nicht gelesen.«

      »Aber dort war ja alles verzeichnet, du konntest genau sehen, wie deine Einkünfte verwandt wurden! Hast du es denn nicht nachgesehen?«

      »Nein, ich habe nichts nachgesehen.«

      »Du weißt also gar nicht, was ich mit deinem Gelde angefangen habe?«

      »Nichts weiß ich, Tantchen, und ich will auch gar nichts wissen!« antwortete er und ließ seinen Blick durchs Fenster hinausschweifen, über den blauen Himmel, die weite Landschaft und die Kreideberge jenseits der Wolga. »Denk’ dir, Marsinka: ich weiß noch die Verse Dmitrijews auswendig, die ich als Kind gelernt habe:

      ›O stolze Wolga, nimm entgegen

      Des unbekannten Sängers Dank —

      Was er zu deinem Ruhme sang,

      Laß den Beglückten niederlegen – —‹

      »Nimm es mir nicht übel, Borjuschka – aber ich glaube fast, du bist etwas wirr im Kopfe!« sagte die Großtante.

      »Das ist leicht möglich, Tantchen,« stimmte er gleichgültig zu.

      »Wo hast du denn den Generalbericht über das Gutsinventar hingetan, den ich dir schickte? Den hast du doch mitgebracht?«

      Er schüttelte verneinend den Kopf.

      »Wo ist er?«

      »Was ist das für ein Generalbericht, Tantchen? Bei Gott, ich weiß nichts davon.«

      »Die Aufstellung über den Bestand an Bauern, über die Pacht, die sie zahlen, über den Getreideverkauf, über die verpachteten Gärten . . . Weißt du überhaupt, wieviel in den letzten Jahren eingekommen ist? Durchschnittlich eintausendvierhundertfünfundzwanzig Silberrubel im Jahre – da, sieh her! . . .« Sie wollte ihm die Summe an der Rechenmaschine anschaulich machen. »Du hast doch das Geld immer richtig bekommen? Das letzte Mal schickte ich dir fünfhundertfünfzig Rubel in Assignaten: du schriebst mir damals, ich sollte nichts mehr schicken, und so habe ich denn alles auf die Kasse gegeben, es steht dir zur Verfügung . . .«

      »Was geht mich denn das alles an, Tantchen?« sagte er ungeduldig.

      »Was dich das angeht?« versetzte die Großtante ganz verdutzt. »Du glaubst doch nicht etwa, ich hätte das Geld zu meinem Vorteil verwandt? Sieh her: jede Kopeke ist hier aufgeschrieben. Da, guck’! . . .« Sie schob ihm ein großes, durch Schnüre zusammengehaltenes Heft hin.

      »Ich habe alle Abrechnungen zerrissen, Tantchen, und ich werde, bei Gott, auch diese da zerreißen, wenn Sie mir damit noch länger zusetzen.«

      Er griff nach den Heften, doch nahm sie sie ihm rasch aus der Hand.

      »Zerreißen? Wie darfst du das?« rief sie zornig. »Die Abrechnungen zerreißen – unerhört!«

      Er lachte laut auf, umarmte sie und küßte sie auf den Mund, wie er es als Kind getan hatte. Sie riß sich von ihm los und wischte sich die Lippen ab.

      »Ich arbeite und quäle mich hier, sitze manchmal bis über Mitternacht auf, schreibe, rechne mit jeder Kopeke – und er hat meine Rechnungen zerrissen! Und nicht eine Frage hat er je über die Gutseinkünfte gestellt, nie eine Anordnung getroffen, nie gesagt: so oder so will ich’s haben! Was denkst du denn eigentlich von deinem Gute?«

      »Nichts, denke ich, Tantchen. Ich wußte nicht einmal, ob es noch existiert. Und wenn ich daran dachte, so waren es jedenfalls nur diese Zimmer hier, an die ich dachte – diese alten, lieben Räume, in denen die einzige Frau auf der ganzen Welt lebt, die mich liebt, und die ich liebe . . . Ja, wirklich die einzige, niemanden sonst lieb’ ich – jetzt aber will ich auch meine kleinen Schwestern liebgewinnen,« wandte er sich fröhlich lächelnd zu Marsinka, ergriff ihre Hand und küßte sie. »Alles will ich hier liebgewinnen, bis zum letzten Kätzchen!«

      »Solange ich lebe, habe ich solch einen Menschen nicht gesehen!« sagte die Großtante, während sie ihre Brille abnahm und ihn ansah. »Nur unser Markuschka ist noch solch ein Heimatloser . . .«

      »Was für ein Markuschka? Leontij schrieb mir da etwas . . . Wie geht’s ihm übrigens, Tantchen, dem Leontij? Ich will ihn besuchen . . .«

      »Wie soll’s ihm gehen? Er sitzt über seinen Büchern, verguckt sich in eine Stelle und ist nicht wegzubringen. Und seine Frau verguckt sich dafür anderswo – er hat keine Ahnung, was hinter seinem Rücken vorgeht! Jetzt hat er mit Markuschka Freundschaft geschlossen: da hat er den Rechten gefunden! Er war schon hier und beklagte sich, daß


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