Blinde Liebe. Уилки Коллинз
Kellner erklärte ihr, daß Mr. Mountjoy den ganzen Vorrat dieses Weines gekauft hätte. Argwohn sowohl wie Erstaunen zeigte sich auf dem Gesichte der Mrs. Vimpany. Sie hatte es bisher für wahrscheinlich gehalten, der elegante und vornehme Freund der Miß Henley könnte heimlich in die junge Dame verliebt sein. Ihr Argwohn wurde jetzt noch vermehrt. Sie stieg allein die Treppe hinauf und schlug laut die Thüre des Privatzimmers zu, um dadurch ihren schlafenden Mann aufzuwecken. Aber selbst der gewaltige Lärm, den sie auf diese Weise verursachte, war nicht im stande, den berauschten Doktor dem süßen Schlummer zu entreißen. Er schien für äußere Eindrücke vollständig unempfindlich zu sein. Eine Weile blieb sie ruhig stehen und betrachtete ihn über den Tisch weg mit unaussprechlicher Verachtung.
Da lag nun der Mann, an welchen die Religion und die Gesetze des Landes sie für das Leben gefesselt hatten.
Als sie mit sorgloser Neugier die Unordnung auf dem Tische betrachtete, bemerkte sie noch einen Rest Wein in dem Glas, aus dem ihr Gatte getrunken. Hatte man künstliche Mittel angewendet, um ihn in seinen gegenwärtigen Zustand zu versetzen? Sie kostete den Rotwein. Nein, in seinem Geschmacke fand sie nichts, was etwa hätte andeuten können, daß irgend etwas Fremdes beigemischt worden wäre. Wenn sie dem Kellner Glauben schenken konnte, so hatte ihr Gatte nichts weiter als Rotwein getrunken – und trotzdem lag er jetzt hier in einem Zustande von vollkommen hilfloser Betäubung.
Sie blickte noch einmal über den Tisch hin und entdeckte unter den vielen leeren Flaschen eine, in der sich noch etwas Wein befand. Nach einem kurzen Moment der Ueberlegung nahm sie ein reines Glas von dem Seitentische.
Das war also der Wein, welcher für Mr. Vimpany und seine Freunde ein Gegenstand des Spottes gewesen war. Sie waren alle starke Esser und Trinker, und es verlohnte gewiß der Mühe, ihre Ansicht zu prüfen. Jetzt suchte sie nicht mehr darnach, ob in dem Weine ein fremder Stoff vorhanden sei. Ihr jetziger Versuch hatte nur den Zweck, ihn auf seinen eigenen Wert hin zu prüfen.
Zur Zeit ihrer Triumphe auf den ländlichen Bühnen – vor dem Tage ihrer unglücklichen Heirat – hatten reiche Verehrer und Bewunderer die hübsche Schauspielerin oftmals zu Diners und Soupers eingeladen, welche jeden Luxus darboten, den die vollkommenste Tafel gewähren konnte. Die eigene Erfahrung hatte sie daher bekannt gemacht mit dem Geschmacke des allerbesten Rotweins, und diese Erfahrung war wieder aufgefrischt worden durch den Rotwein, den sie soeben gekostet hatte. Es war nicht schwer einzusehen, warum Mr. Mountjoy diesen Wein gekauft, und nachdem sie ein wenig nachgedacht, wurde ihr gleichfalls der Grund klar, weswegen er Mr. Vimpany zum Essen eingeladen hatte. Von diesem ersten Erfolg ihrer Entdeckung, den sie ihrem eigenen Scharfsinn zu verdanken hatte, war sie zunächst vollständig überwältigt, aber bald hatte sie ihre Fassung wieder erlangt. Ihr dicker Mann war zum Trinken verleitet worden und auch zum Ausplaudern, natürlich zum Vorteil von Mr. Mountjoy.
Welche Geheimnisse konnte der Unglückliche nicht verraten haben, bevor ihn der Wein vollständig seiner Besinnung beraubt hatte?
Von Aerger und Wut getrieben, schüttelte sie ihn heftig. Er erwachte und blickte sie mit blutunterlaufenen Augen an; dann drohte er ihr mit der geballten Faust. Hier gab es nur einen Weg, um ihn aus seiner stumpfsinnigen Betäubung aufzurütteln. Sie kannte ihn aus Erfahrung, die sie bei so mancher früheren Gelegenheit gemacht hatte.
»Du Narr, Du hast wieder einmal zu viel getrunken, und jetzt wartet ein Kranker auf Dich!«
An diese Verlegenheit war er gewöhnt, aber die Worte seiner Frau brachten ihn doch wieder etwas zur Besinnung. Mrs. Vimpany riß den Papierumschlag von der Medizinflasche, die sie mitgebracht hatte, ab und öffnete sie. Er starrte auf die Flasche hin und murmelte für sich: »Sie will mich vergiften.« Mrs. Vimpany ergriff nun mit der einen Hand seinen Kopf, und mit der andern hielt sie ihm die geöffnete Flasche unter die Nase:
»Dein eigenes Mittel,« schrie sie ihm ins Ohr, »für Dich und Deine sauberen Freunde!«
Seine Nase sagte ihm, was Worte vergebens versucht haben würden. Er schluckte die Medizin hinunter.
»Wenn ich den Patienten verliere,« lallte er orakelhaft, »so verliere ich auch das Geld.«
Seine resolute Frau zog ihn vom Stuhle empor. Eine zweite Thür führte aus dem Speisezimmer in ein leeres Schlafgemach. Mit ihrer Hilfe gelangte er dorthin und warf sich auf das Bett.
Mrs. Vimpany sah nach der Uhr.
Bei gar so mancher früheren Gelegenheit hatte sie gelernt, wie viel Zeit erforderlich war, bevor der ernüchternde Einfluß der Medizin sich erfolgreich erweisen konnte. Für jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als in das Speisezimmer zurückzukehren. Der Kellner erschien und fragte sie, ob er etwas für sie thun könne. Vertraut mit dem Charakterfehler des Doktors, verstand er sofort, was es bedeutete, als sie nach der Thür des Schlafzimmers wies.
»Die alte Geschichte, Frau Doktor!« sagte er mit der Miene respektvoller Teilnahme. »Darf ich Ihnen eine Tasse Thee holen?«
Mrs. Vimpany bejahte und trank den Thee, in Gedanken versunken.
Sie hatte jetzt zwei Pläne in Aussicht. Erstens wollte sie sich an Mountjoy rächen, und zweitens suchte sie einen Weg, um ihn zu zwingen, die Stadt zu verlassen, bevor er Iris seine Entdeckungen mitteilen konnte. Wie es möglich war, diese beiden so verschiedenen Ziele auf einem und demselben Wege zu erreichen, das war ihr vorderhand noch ein Rätsel, welches sie gerade lösen wollte, als die rauhe Stimme ihres Mannes aus dem Schlafzimmer ertönte und nach jemand verlangte.
Wenn sein Kopf während dieser Zeit klar genug geworden war, um die Fragen zu verstehen, welche sie ihm vorzulegen beabsichtigte, so konnte es leicht möglich sein, daß seine Antworten ihr zur Lösung dieses Rätsels verhalfen. Mrs. Vimpany erhob sich daher schnell und ging in das Schlafzimmer.
»Du elender Mensch,« begann sie, »bist Du jetzt wieder nüchtern?«
»Ich bin so nüchtern wie Du.«
»Weißt Du,« fuhr sie fort, »warum Mr. Mountjoy Dich eingeladen hat, mit ihm zu Mittag zu essen?«
»Weil er mein Freund ist.«
»Er ist Dein schlimmster Feind; schweig still und paß auf, ich werde Dir gleich erklären, was ich meine. Nimm Dein Gedächtnis zusammen, wenn Dir überhaupt noch etwas davon geblieben ist! Ich will wissen, was ihr, Du und Mr. Mountjoy, nach dem Essen zusammen geredet habt.«
Er starrte sie ganz verständnislos an. Sie versuchte jetzt, sein Gedächtnis zu erwecken, indem sie durch Fragen nachhalf. Es war nutzlos. Er klagte nur in einem fort, daß er Durst habe. Seine Frau ließ Sodawasser und Brandy kommen. Die einzige Möglichkeit, etwas aus ihm herauszubringen, war, seiner schlimmen Leidenschaft zu willfahren. Sie reichte ihm daher selbst das begehrte Getränk.
Und wirklich machte dieses sein benebeltes Gehirn in einem gewissen Grade wieder klar. Mrs. Vimpany versuchte es nun noch einmal, seine Erinnerung zu wecken. Hatte er dies gesagt? Hatte er jenes gesagt? Ja, er glaube es gewiß. Hatte er oder Mr. Mountjoy Lord Harrys Namen erwähnt? Ein Strahl der Erleuchtung glänzte in seinen blöden Augen. Ja, und sie waren darüber in Streit geraten; so viel er sich erinnere, habe er sogar Mr. Mountjoy eine Flasche an den Kopf geworfen. Hatten sie auch von Miß Henley gesprochen? O, natürlich! Was denn? Er war nicht im stande, sich darauf zu besinnen. Weswegen hatte ihn seine Frau jetzt so zu plagen?
»Das thu' ich gar nicht,« antwortete sie. »Gib Dir nur Mühe, das zu verstehen, was ich Dir sagen will. Wenn Lord Harry zu uns kommt, so lange Miß Henley in unserem Hause ist –«
Er unterbrach sie.
»Das ist Deine Sache, das geht mich nichts an.«
»Warte einen Augenblick. Das ist allerdings mein Geschäft,« sagte sie, »und ich werde es auch allein besorgen, wenn ich vorher erfahre, daß der Lord kommt. Er ist jedoch rücksichtslos genug, uns zu überraschen. In diesem Falle möchte ich, daß Du Dich nützlich machtest. Wenn Du zufällig zu Hause bist, so suche es zu verhindern, daß er Miß Henley früher zu sehen bekommt, als bis ich mit ihr gesprochen habe.«
»Warum?«
»Ich möchte die Gelegenheit benützen, ihr meinen Betrug einzugestehen, bevor sie selbst dahinter kommt. Ich hoffe, daß sie mir