Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
war sehr dicht, doch schließlich hatte er das Ziel erreicht. Er stellte sein Auto auf dem Parkplatz für das diensthabende Personal ab und betrat die Klinik durch den Hintereingang.
»Hallo, Schwester Anna. Wissen Sie, wo Jenny Behnisch steckt?« begrüßte er die erfahrene Schwester.
»Wir haben gerade einen Notfall bekommen, Dr. Norden. Eine Frau ist frontal mit ihrem Wagen in ein parkendes Auto aufgefahren. Sie muß es übersehen haben.«
»Hat sie schwere Verletzungen?«
»Sie wird gerade untersucht.«
»Dann muß ich Sie bitten, mir weiterzuhelfen. Ich brauche eines Ihrer sagenumwobenen Zauberpflaster.«
»Braucht das einer Ihrer Patienten?« fragte sie, während sie ein Schränkchen öffnete.
»Nein. Mein kleiner Sohn ist krank. Ich muß ihm Blut abnehmen und habe versprochen, daß es nicht weh tut.«
»Da ist das Zauberpflaster genau das Richtige. Hier, nehmen Sie ein paar mehr mit. Was fehlt ihm denn?«
»Wenn ich das so genau wüßte«, seufzte Daniel. »Ich hoffe, die Blutuntersuchung bringt Aufschluß.«
»Es ist viel schlimmer, nicht zu wissen, womit man es zu tun hat, als wenn man den Feind beim Namen nennen kann.«
»Da haben Sie recht, Schwester Anna. Vielen Dank auch.«
»Gern geschehen. Ach, da kommt Frau Doktor.«
Daniel wandte sich ab. Tatsächlich kam Jenny den Gang mit sehr besorgtem Gesicht entlang.
»Hallo, Daniel. Was führt dich denn hierher?« fragte sie zerstreut.
»Ich habe etwas gebraucht. Du siehst nicht gerade glücklich aus. Anna hat mir von dem Notfall erzählt.«
»Eine tragische Geschichte, hast du ein bißchen Zeit?« fragte sie.
Daniel spürte, daß sie verunsichert war und auf seinen Rat hoffte.
»Es handelt sich um eine junge Frau, die offenbar einen epileptischen Anfall erlitt und deshalb auf ein parkendes Auto aufgefahren ist.«
»Hat sie schwere Verletzungen?«
»Es hätte schlimmer kommen können. Sie hat noch Glück gehabt, außer Prellungen ist nichts passiert. Aber…«
Sie geriet ins Stocken.
»Wo liegt das Problem?«
»Die Untersuchungen haben ergeben, daß sie ein Blutgerinnsel im Kopf hat, das dann wohl die Ohnmacht auslöste.«
»Ist sie jetzt bei Bewußtsein?«
»Ja, und sie wollte die Klinik auch gleich wieder verlassen, weil sie auf dem Weg zu ihrem Frauenarzt war. Er hat eine Hormonbehandlung bei ihr durchgeführt, um ihren Kinderwunsch zu ermöglichen.«
»Dadurch ist das Blutgerinnsel entstanden«, vermutete Daniel.
»Das ist möglich. Es ist eine seltene Komplikation bei solchen Behandlungen, aber es kommt vor.«
»Was willst du jetzt tun, Jenny?«
»Das Blutgerinnsel sitzt direkt an der Hauptschlagader, eine Operation ist sehr riskant.«
»Das gehört in die Hände eines Spezialisten. Du kannst die Verantwortung nicht übernehmen, da sie nicht deine Patientin ist.«
Jenny seufzte schwer, aber sie gab Daniel recht.
»Danke, Daniel. Ich werde die Kollegen verständigen.«
»Halte mich auf dem laufenden.«
»Das mache ich.«
Jenny verabschiedete sich und entfernte sich eilig.
Auch Daniel machte sich schweren Herzens auf den Heimweg.
*
Pünktlich um halb sechs klingelte es an Christinas Haustür.
»Gut, daß du angerufen hast. Ich hätte den Auftritt heute abend glatt vergessen«, bedankte sich Christina und umarmte ihre Freundin.
Sie kannte Lisa Thaler, die wie sie sechsundzwanzig Jahre alt war, seit Kindesbeinen an. Durch dick und dünn waren sie miteinander gegangen und hatten sich auch nicht aus den Augen verloren, als sie ihre Ausbildung begonnen hatten.
Lisa hatte nach dem Abitur ein Kunstgeschichte-Studium absolviert und arbeitete nun in der Staatssammlung. Als Christina erfuhr, daß sie ihr Kind allein würde großziehen müssen, hatte sich Lisa als Taufpatin spontan dazu bereit erklärt, das Babysitting wann immer nötig zu übernehmen. Das hatte sie auch gleich ihrem Freund Markus erklärt, den sie vor einem Jahr kennengelernt hatte.
»Wie geht es meinem kleinen Schatz?« erkundigte sich Lisa, während sie einen kleinen Teddy aus ihrer Tasche hervorzauberte.
»Ach, ist der süß«, entfuhr es Christina.
»Ich habe ihn in einem Schaufenster sitzen sehen. Er hat mich so bittend angeschaut, daß ich ihn einfach mitnehmen mußte.«
»Gib ihn nur gleich Muriel. Sie ist wach.«
»Muß ich was beachten heute abend?«
»Die Medikamente hat sie schon bekommen. Für den Abend liegt ein Schmerzzäpfchen im Bad, falls sie es noch braucht. Momentan geht es ihr ganz gut.«
»Was gibt es denn zu essen?« fragte Lisa hungrig und schnupperte.
Es war eine Abmachung zwischen den beiden, daß es immer etwas Warmes gab, wenn Lisa aufpaßte.
»Gemüseeintopf und einen Grießbrei für Muriel. Den hat sie sich gewünscht.«
»Alles klar. Ich glaube, du solltest dich jetzt beeilen«, bemerkte Lisa mit einem Blick auf die Uhr.
In fünf Minuten war Christina umgezogen und geschminkt. »Wie machst du das bloß?« fragte Lisa bewundernd.
Christina sah wirklich umwerfend aus in ihrem schwarzen schlichten Hosenanzug, der einen wunderbaren Kontrast zu den blonden Haaren darstellte. »Aber du hast abgenommen und bist ziemlich blaß.«
»Ich kann zur Zeit wieder nichts essen. Der blöde Magen.«
»Immer das alte Leiden. Hat inzwischen ein Arzt herausgefunden, was es ist?«
»Ich habe mich nicht mehr untersuchen lassen. Einen Ausfall kann ich mir nicht leisten, sonst reicht uns das Geld nicht.«
»Ist es plötzlich wiedergekommen? Du hattest doch lange keine Probleme mehr.«
»Michael macht mal wieder Theater«, sagte Christina knapp.
»Also doch psychosomatisch. Was will er denn?«
»Jetzt will er Muriel.«
Lisa erstarrte. »Er hat doch all die Jahre nichts von ihr wissen wollen. Was ist denn nun in ihn gefahren?«
»Es hat sich inzwischen herausgestellt, daß seine Frau keine Kinder bekommen kann. Er hat ihr seinen Seitensprung gestanden und auch, daß er ein Kind mit mir hat.«
»Und das will sie jetzt haben, klarer Fall. Aber die beiden haben doch gar keine Chance.«
»Rein rechtlich gesehen nicht. Er versucht es auf seine Art.«
»Was heißt das?«
»Michael meint immer noch, daß man alles mit Geld regeln kann. Als ich damals mit Muriel schwanger wurde, hat er mir eine hohe Summe geboten, wenn ich abtreibe. Gott sei Dank bin ich nicht darauf eingegangen.«
»Er will dir das Kind abkaufen?« fragte Lisa fassungslos.
»Sozusagen«, antwortete Christina. »Aber ich muß jetzt wirklich los. Wir können uns später noch darüber unterhalten. Ich glaube nicht, daß es sehr spät wird. Tschüß und vielen Dank erst mal.«
Sie umarmte Lisa, griff nach ihrer Tasche mit den Noten und verließ